Baustellenampeln regeln den Verkehr

„Thank you very much! Thank you very much!” rief Craig Taborn, die Hände zum Trichter geformt, in den Applaus hinein, nicht zur zweimal, sondern in Wiederholung (im Loop), nachdem er seine Mitspieler ausgerufen hatte, „the great” (in der Tat!) Tomeka Reid (Cello) und Ches Smith (Schlagzeug, Vibraphon, Electronics). Es oblag Tomeka Reid, ihrerseits Craig Taborn auszurufen, und konsequenterweise hätte es nun aus dem Publikum antworten müssen: „Thank you very much! Thank you very much!”, aber es blieb beim Applaus, der herzlich ausfiel.
Nach dem Schluss-Stück (von Geri Allen) spielte das Trio noch eine Zugabe von Sun Ra, und kaum je an einer Stelle des Konzerts klang die Musik so befreit wie hier.
Im Publikum, wie üblich, viele ältere Herrschaften in Schwarz, mehr Männer als Frauen, zum Glück auch jugendliche Köpfe, wahrscheinlich Leute von der Universität der Künste oder sonstwie Jazzer. Links neben mir junge Argentinier, friedlich zuhörend, aber schnell dabei, anerkennend mit den Fingern zu pfeifen, rechts eine flippige Seniorin, die eine sagenhafte Unruhe um sich verbreitete – man müsste sie dermaleinst in einer Kugel begraben, wirbelig wie sie war.

Was Craig Taborn bei diesem Auftritt im Rahmen der Reihe New York Journey genau gemacht hat (neben Klavierspielen), habe ich nicht verstanden. Oberhalb der Tastatur seines Steinway & Sons-Flügels lag eine elektronische Schaltvorrichtung (vermutlich ein schrecklich grober Ausdruck für eine Sache, die korrekt anders zu bezeichnen wäre), auch zu seiner Linken ein Tischchen mit vielen Knöpfen und Reglern, die er drückte und drehte, doch deren Funktion mir verborgen blieb. Es sah geschäftig, konzentriert und wichtig aus, aber ich habe mich gefragt, ob es eine Attrape war. (Nicht ernsthaft, ich will nur sagen: Was wäre verloren gewesen, hätte es diese elektronischen Geräte nicht gegeben?)
In der deutschen Wikipedia steht, Taborn habe „das Spektrum des Jazz durch Computer und Samples” erweitert und setze „auf dekonstruktive Weise gegenläufige Rhythmuspatterns” – das wird er an dem Abend in der Salle Boris Vian im vierten Stockwerk der Maison de France, einem der schönsten Bauwerke, die die Berliner City West zu bieten hat, ebenfalls getan haben, nur dass ich es nicht herausgehört habe.
Das Trio hatte also einen skeptischen Zuhörer im Publikum. Zu wenige Blue Notes, so würde ich meinen Eindruck zusammenfassen.
Und: Wäre es leiser gewesen, hätte ich mehr gehört. Denn Klavier und Schlagzeug, an sich schon (potentiell) Lärminstrumente, waren elektrisch verstärkt und drohten, das – ebenfalls verstärkte – Cello zu übertönen. Dazu das digitale Soundbesteck von Craig Taborn und Ches Smith … ein bisschen viel für meinen Geschmack. Die Musik oft kurz vor der Eskalationsstufe, von enormer Schallhärte. Erst in der zweiten Konzerthälfte wurde die Klangmauer durchlässiger. Da gab es dann ein wunderbares Cello-Klavier-Duett, die Musik bekam mehr Raum, davor führte das Konzept das Szepter. (Improvisierte Musik sollte nicht zu gehirnig sein, finde ich.)

Für den Auftritt von Drummer Barry Altschul im April werde ich mir vorsorglich Ohrstöpsel mitnehmen.

Vermischte Meldungen: Die korrupten Politiker Georg Nüßlein und Alfred Sauter sind vom Oberlandesgericht München vom Vorwurf der Bestechlichkeit freigesprochen worden. Kyle Rittenhouse hat in Notwehr zwei Demonstranten erschossen (laut Spruch der Geschworenen). Der Vatikan ist kein Mitglied der Europäischen Union.

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