Track 10

In ihrem jüngsten New York Times subscriber-only newsletter, der Dienstag an die Abonnenten verschickt wurde, hat Popmusik-Kritikerin Lindsay Zoladz unter der Überschrift

9 Songs From Pop’s ‘Middle Class’ That Deserve to Be Hits. Hear songs by Carly Rae Jepsen, Charli XCX, Troye Sivan and more

Stücke von Musikern ausgewählt, die zwar Popstars sind, jedoch nicht an den Ruhm und Reichtum einer Beyoncé oder Taylor Swift oder Madonna heranreichen. In dieser Liste vertreten ist auch – siehe oben – Charli XCX mit einem Stück, das den funktionalen Titel Track 10 trägt, das zehnte und letzte Lied (kann man das sagen?) ihres 2017 veröffentlichten Albums Pop 2 (hier die Kritik von Alexis Petridis im Guardian). Sie war damals fünfundzwanzig Jahre alt.
Ich dachte, Charli XCX hätte in Track 10 ihren geradeausen (LZ schreibt: radiotauglichen) Song Blame It On Your Love zerlegt und schräg wieder zusammengebaut, aber es war umgekehrt: erst gab es Track 10.
Für die futuristisch klingende Produktion – die Kritikerin denkt in dem Zusammenhang an einen verrückt spielenden Laserdrucker – ist A. G. Cook zuständig, der technische Konterpart von Charli XCX, die bürgerlich übrigens Charlotte Emma Aitchison heißt.
Mir gefällt sowohl die klangliche Kühnheit von Track 10 als auch der Aufbau des Songs über die Dauer von fünf Minuten (nicht radiofreundlich!), die durchgehend Spannung und Überraschung halten.

Montag ist der Bloomsday für Johnson-Leser.
„21. August, 1967 Montag” ist der erste Eintrag der Jahrestage datiert, der wie folgt einsetzt: „Aufklarendes Wetter in Nordvietnam erlaubte der Luftwaffe Angriffe nördlich von Hanoi.”
Dies Kapitel ist leicht zu lesen.
Der vorgeschaltete, undatierte, Prolog ist komplizierter, weil darin unterschiedliche Zeitebenen zusammenmontiert sind. Es bedarf zudem – weitere Schwierigkeit – einer gewissen geistigen Anstrengung, um Bilder zu den Sätzen zu entwickeln; vor allem die ersten beiden fand ich schwierig, in denen der Wellengang an einem Strandbad südlich von New York beschrieben wird.
An das Johnsonsch kann man sich gewöhnen. Bekannt ist das Beispiel der Ansichtskarte, die bei ihm stets eine Ansichtenkarte ist. Und wo unsereins Straße sagen würde, sagt Johnson Damm. Okay. Es gibt Schlimmeres.
Ich werde weiter darüber nachdenken, ob Johnson eher ein Erzähler, oder Fotograf und Miniaturenmaler ist.

Zum Kehraus ein sensationelles Taylor Swift-Cover von Charli XCX mit Band. Sie fügt dem Original eine wichtige Eigenschaft hinzu: Lebendigkeit.

Wunsch nach Bilokation

Zwei Freundinnen haben mir unabhängig voneinander davon abgeraten, noch einmal die Jahrestage zu lesen. Die eine meinte, ich solle mich doch einmal auf Schriftstellerinnen besinnen. Die andere fand wenigstens den Zeitpunkt für eine Wiederlektüre nicht gut: das Lesen abzuschließen und dann sofort wieder aufzunehmen, sei sektiererisch. Ich musste darüber lachen, aber stimmen tut es vielleicht. Jetzt habe ich vor, wenigstens den ersten Teil bis zum Ende zu lesen, und dann mal weitersehen.
Der Einwand meiner feministischen Freundin (nicht Freundin-Freundin): als wäre ich gegenüber der Brillanz von Künstlerinnen blind. Aber das Buch, das sie mir neulich empfohlen hat, Speculum von Luce Irigaray, ist lange vergriffen (Suhrkamp braucht das Geld für Krimis). Und Hélène Cixous soll ich auch lesen, Die unendliche Zirkulation des Begehrens, das ist ebenfalls vergriffen.
Ich bin nicht sicher, ob mein Geist diese akademischen Sachen aufnehmen kann.

Hier ein Blick voraus auf meine November-Platte (CD), Angelika Niesciers New York Trio featuring Jonathan Finlayson. Looking forward to it! – Leider verpasse ich ihren (und Julia Kadels) Auftritt in der Akademie der Künste dies Wochenende, aber es werden sich andere Gelegenheiten bieten. Allerdings muss ich erst mal zum Konzertgeher werden. – Nächste Woche kann ich üben, dann spielt Greg Cohen im DaBangg in Friedenau.

Als ich neulich auf dem Nachhauseweg im S-Bahnhof Schöneberg eine Brezel kaufte – ich lasse sie mir immer auf die Hand geben – tat die Verkäuferin eine zweite Brezel in eine Papiertüte, schob sie mir hin und sagte: „Ich schenke dir das auch!”

Jahrestage Nachbetrachtung (3)

Ich hatte Verfremdungstechniken erwähnt. Johnson nimmt englische idiomatische Ausdrücke und übersetzt sie wortwörtlich ins Deutsche. Auch der englische Satzbau wird bei Bedarf übernommen. Weiter ist Gesine eine sehr ergebene Leserin der New York Times; Nachrichten werden in den Roman eingebaut und nicht selten im Wortlaut (aber auf Deutsch) zitiert. Diese obsessive Zeitungslektüre ist ein strukturierendes Element der Jahrestage; überhaupt spielen Medien eine große Rolle. Wenn Gesine Marie von Mecklenburg erzählt, dann nicht einfach so von Angesicht zu Angesicht – nein, in der Cresspahl’schen Wohnung steht ein Tonbandgerät, das die Erzählungen aufzeichnet. Gelegentlich werden Telefongespräche protokolliert, Photographien beschrieben. Telegramme, Ansichtspostkarten (in Johnson’scher Diktion: Ansichtenpostkarten), Briefe werden versandt, zu seltenen Gelegenheiten wird fernsehen gestattet, eine Platte aufgelegt (The Beatles, Revolver), Radiosendungen kommen ins Haus, werden auf Wunsch aufgenommen. Die Büromaschinen und Kommunikationsformen (z.B. Memos) innerhalb der Bank kommen hinzu, was auf das Gebiet der Textsorten führt: Die Jahrestage bieten alles, von Trinkspruch und Predigt bis zu Spitzelreport, Schulaufsatz, Gutachten, Werbeslogan, Wandkritzelei, Liste und Testament. Neben viel Mecklenburger Platt wird Russisch, Tschechisch, Dänisch, Englisch gesprochen, unter anderem. Manches kann man sich zusammenreimen, ansonsten ist der online gestellte Jahrestage-Kommentar eine Hilfestellung in allen Belangen.

Es ist sinnlos, diese Lese-Anmerkungen fortzuführen. Alles ist schon gesagt worden, ich verweise stellvertretend auf Damion Searls, der Jahrestage unter dem Titel Anniversaries ins Englische übersetzt, und in The Paris Review über das Buch und seine Arbeit berichtet hat, s. hier. Nehme ich mir also zu Herzen, was ich heute in der U-Bahn las (Berliner Fenster): „Gepriesen sei derjenige, der nichts zu sagen hat und davon absieht, es zu beweisen.”

Jahrestage Nachbetrachtung (2)

Ich weiß nicht, ob es sich heute immer noch so verhält, aber als die ersten Lieferungen der Jahrestage Anfang der 70er Jahre erschienen, urteilten einige Kritiker (Helmut Heißenbüttel zum Beispiel), der neue Roman bedeute gegenüber Mutmassungen über Jakob (1959) und Das dritte Buch über Achim (1961) einen künstlerischen Rückschritt (dazwischen gab es aber noch Zwei Ansichten, nicht zu vergessen, 1965). Das ist verständlich, denn mutwillige Modernismen – die ich in den Mutmassungen und im Achim-Buch mochte – fallen zunächst einmal nicht auf. Das macht die Jahrestage aber darum nicht zu einem konventionellen Roman, den man so schmökermäßig runterlesen kann, wie Johnsons jovialer Lektor Raimund Fellinger im Gespräch mit dem soignierten Johnson-Forscher Holger Helbig zu verstehen gab.
Die Jahrestage sind mit Verfremdungen und Irritationen gespickt, das beginnt schon mit ihrer äußerst artifiziellen, schematischen, geradezu zwanghaften Anlage. Ein Jahr aufzuschreiben, das war der Plan. Auf das undatierte Anfangskapitel, das vielleicht die Tage des 19. und 20.8.1967 festhält, beginnen die Jahrestage regulär mit „21. August, 1967 Montag”. Dies Prinzip hält Johnson konsequent für den ganzen Roman bei: ein Kapitel, ein Tag.
Der erste Teil endet mit dem Tageskapitel für den „19. Dezember, 1967 Dienstag”, worauf mit unschlagbarer Trockenheit die Ankündigung folgt: „Der nächste Teil dieses Buches beginnt mit dem Kapitel für den 20. Dezember 1967.” Da haben wir aber schon knapp 480 Seiten gelesen. Man erahnt, welch brutales Schreibprogramm sich Johnson aufgebürdet hat.
Es gibt zwei große Erzählstränge: zum einen das Leben der aus Mecklenburg stammenden 35-jährigen Bankangestellten (Fremdsprachensekretärin) Gesine Cresspahl und ihrer ungefähr 10-jährigen Tochter Marie in New York 1967/68 („Aus dem Leben von Gesine Cresspahl” ist der Untertitel des Romans); zum anderen das Leben in Mecklenburg von den 20er Jahren an. Das erzählt Gesine ihrer Tochter, die will es wissen.
Beides wechselt einander ab, auf ein New York-Kapitel folgt ein Mecklenburg-Kapitel (da gibt es auch eine – fiktive – Stadt, Jerichow). Dies aber ist nur das grundsätzliche Bauprinzip; bereits auf den allerersten Seiten wird es gebrochen, indem die Beschreibung eines idyllischen Ferientages am (amerikanischen) Strand mit Erinnerungen an die Vorkriegszeit und blitzartigen Bildschnipseln aus dem Krieg überblendet wird (wie im Film). Manche Kapitel schneiden beide Welten hart gegeneinander, zum Beispiel das für den 3. September 1967, das von der Brautwerbung Heinrich Cresspahls erzählt, und gleichzeitig von Ilse Koch, der „Bestie von Buchenwald”. Andere Kapitel fangen mit 1968 an und gehen mit 1951 weiter und umgekehrt.

Foto: Bernward Reul

Heute nachmittag gibt es hier wieder ein Kaffeetrinken, das erste seit Anfang Juni. Schon zu Kölner Studienzeiten habe ich regelmäßig zu Kaffee und Kuchen eingeladen. Für dieses Mal haben sechs Gäste abgesagt, weil sie nicht da sind oder schon anderes vorhaben, drei haben sich nicht gemeldet, fünf wissen noch nicht, ob sie kommen können, drei haben verbindlich zugesagt und freuen sich, darunter eine Arbeitskollegin, die zum ersten Mal in ein deutsches Haus eingeladen wurde (klingt komisch). Jetzt kann ich mir überlegen, ob ich für vier oder für vierzehn Leute Schrippen kaufe. Hm.

Jahrestage Nachbetrachtung (1)

Es ist schon auch Arbeit, das Buch zu lesen, das Johnson in vier Lieferungen veröffentlichte, unterbrochen von einem fast zehnjährigen writer’s block (in welcher Zeit er weiter geschrieben und veröffentlicht hat, aber der Roman ruhte), und doch ist der erste Impuls, wenn man nach Seite 1891 – dem berühmten Schluss: „Beim Gehen an der See gerieten wir ins Wasser. Rasselnde Kiesel um die Knöchel. Wir hielten einander an den Händen: ein Kind; ein Mann unterwegs an den Ort wo die Toten sind; und sie, das Kind das ich war[.]” – das Buch zugeklappt hat, es auf Seite 7 wieder aufzuschlagen: „Lange Wellen treiben schräg gegen den Strand, wölben Buckel mit Muskelsträngen, heben zitternde Kämme, die im grünsten Stand kippen[.]” – und es noch einmal ganz zu lesen.
Johnsons Treue zu seinen Personen ist bekannt. In den Jahrestagen kommen sie alle zusammen: Heinrich Cresspahl, Jahrgang 1888, Vater von Gesine (geb. 1933), Großvater von Marie (geb. 1957), der Eisenbahner Jakob Abs – Maries Vater -, Ingrid Babendererde, der Journalist Karsch, Jakobs Kollege Jöche, und andere mehr. Aber auch im Jahrestage-Kosmos selbst wird keiner vergessen. Zu nennen wären Mrs. Ferwalter, Gesines Nachbarin am Riverside Drive, der die Erzählstimme ziemlich am Anfang ein eindringliches Porträt widmet, der Hausmeister Mr. Robinson („Adlerauge”), der Freund der Familie D.E. alias Dietrich Erichson, eine junge Frau namens Marjorie: New Yorker Zufallsbekanntschaft, der Anwalt Avenarius Kollmorgen, Gesines Jugendfreundin Anita (die zur Erzählzeit des Romans, 1967/68, in Berlin als Fluchthelferin arbeitet), die Gräfin Seydlitz, der anonyme Zeitungsverkäufer auf dem Broadway, Barbesitzer, der Bankier de Rosny, Maries Klassenkameradin Francine (aus schwierigen Verhältnissen kommend), Gesines alter Englischlehrer Dr. Julius Kliefoth … Dutzende Personen, alle bedacht, alle behütet von einem Erzähler, der alles weiß, über alles erhoben ist, ohne überheblich zu sein. Ein genauer Chronist und Archivar. Ein Menschenfreund.

Eric Dolphy als Klarinettist: hat man auch nicht so oft. Aber hier, 1961

OT

Gestern, nach Tief Axels großer Regenschütte, überall zermürbte Kiefernzapfen und abgepeitschte Zweige, mit Sand, zerfallenen Blüten vermischt. Dann, kurz vorm Haus das ins Halblicht gebuckelte Schwarz in Mitte der Straße: ich machte einen Bogen darum, ohne zu erkennen, was genau es war, eine Pfütze oder eine Katze. Morgens tropften schon wieder Spatzen aufs Trottoir und suchten sich ihrs.

Ansonsten bereite ich mich darauf vor, den Schluss der Jahrestage zu lesen, die Seiten 1391 bis 1891. Neulich hatte ich mir schon die Neufassung des TEXT + KRITIK-Hefts zu Johnson gekauft (2001, als Ergänzung zur bereits vorhandenen Edition von 1980) und ein Buch zum Thema Johnson und die DDR bestellt, das nächste Tage eintreffen müsste. Wenn die 20-Stunden-Woche kommt … Aber kommt sie? Lieber nicht darauf verlassen! Dr. B. riet zum Aufstehen um fünf, morgens könne man was schaffen. Doch dann müsste ich jetzt schon im Bett sein … Nein, das Lesen muss eingepasst werden in einen Tag, der um sieben in der Frühe beginnt und um eins in der Nacht endet: sechs Seiten nach dem Aufstehen, drei Seiten in der S-Bahn, eine halbe Seite abends, maximal.

Ich sollte noch ein bisschen Werbung machen für Sediments We Move, denn ich bin am Zustandekommen dieser Aufnahme interessiert. Aber heute möchte ich nur auf den vorangegangenen Eintrag verweisen: Feine Stoffe

und etwas anderes posten, nämlich Cecil Taylors Luyah! The Glorious Step (1958) und Nilüfer Yanyas Baby Luv (2017). Enjoy!

https://niluferyanya.bandcamp.com/track/baby-luv

Zu Hause angekommen, habe ich Schuhe und Strümpfe ausgezogen, die Strümpfe weggeworfen, die Schuhe behalten und mich gefragt, ob ich heute tatsächlich fünf Klavierkonzerte gehört habe, mich kurz besonnen und es in meinem Kopf bestätigt gefunden, in der Tat fünf, nämlich beide Ravel-Konzerte und die drei Bartók-Konzerte, in der seltsamen Reihenfolge 2, 1, 3, 1, 2.
Ich hatte über Stunden eine anspruchslose Arbeit getan, deren Volumen ich von Zeit zu Zeit mit einem kleinen Suchprogramm überprüfte und stetig vergrößert fand, so als wäre das Abarbeiten eigentlich ein Aufarbeiten oder Hochtürmen; als sie schließlich geschafft war, hat es mich überrascht, aber es war mir egal. Zwischendurch funkte der Bot seine Planks-und-Pushups-Erinnerung.

Die Jahrestage habe ich bis Band 3 einschließlich gelesen, der abschließende Band liegt schon bereit, furchtbar klein gedruckt (Unseld der Geizkragen). Ich hoffe, die Neuedition im Rahmen der Rostocker Werkausgabe wird auf eine größere Schrifttype zurückgreifen, so wie es jetzt auch Jung und Jung mit dem Mann ohne Eigenschaften gemacht hat, Gott sei Dank. Ich war immer der Meinung, man müsse manchen Verlagen das Sorgerecht über einzelne ihrer Autoren entziehen. Rowohlt hat Musil nicht verdient.
Um mich von Johnson zu erholen, der mir mit seinem Kunstzwang und seiner Materialverbissenheit auch auf die Nerven geht, habe ich das neue Buch von Peter Stamm gelesen, das gute Kritiken bekommen hat, aber – so gerne ich es gelesen habe – es ist doch ziemlich mau und mit dem Zuklappen auch schon vergessen, dem Stoff nach übrigens mehr eine Erzählung als ein Roman; für den Kitschtitel rollt mit den Augen geht der Dank an die S. Fischer-Marketingabteilung.
Rundum erfreulich hingegen Buchstabe und Geist des Niederländers Frans Kellendonk (* 1951 Nijmegen), stilbewusst, witzig – aber nicht rein lustig -, mit Tiefe, die sich als Oberfläche tarnt, ohne dass hier eine Verwechslung vorläge, denn es kommt ja auch vor, dass das vermeintlich tiefgründige Oberflächliche in der Tat nur oberflächlich ist. Ich meine, dass Kellendonk Dinge berührt, die zum langweiligen Räsonieren einladen würden (zum Beispiel der pädophile Priester, der im Augenblick seiner Weihe den Glauben verliert – wie viele Gläubige mag es unter den Atheisten geben und wie viele Atheisten unter den Verkündern des Glaubens?), aber er lässt diese Gelegenheiten verstreichen und bleibt strikt beim Erzählen. Es steht ihm da ein ganzes Arsenal zur Verfügung, doch wenn es sich anbietet, bleibt er lakonisch. Die Schweigeminute für einen verstorbenen Kollegen beschreibt er: „Alle stehen da wie um ein leeres Schwimmbecken.” Ein Moment der Verlegenheit zeitigt den verblüffenden Wunsch: „Am liebsten wäre er jetzt ein Knäuel Socken.”
Der Roman Buchstabe und Geist – Untertitel: „Eine Spukgeschichte” – ist das erste und einzige Buch des Autors, das auf Deutsch (Ü: Rainer Kersten) erschienen ist. Vielleicht kommt ja noch mal was.

Wiederbelebung am toten Blog

Der brillante Dr. B, den ich einmal in der Woche sehe – und wenn nicht, mache ich mir Sorgen, denn er lebt nicht gesund und ist auch nun in einem Alter, in dem man sterben kann (gut, wer ist das nicht? Aber ich meine: sterben – und man würde sagen: zu früh, sicher, aber -), der zitierte neulich einen mir nicht bekannten großen Mann mit den Worten, hier nur sinngemäß: Es gibt Autoren, bei denen weiß man, man wird alles von ihnen lesen; und Autoren, und so weiter.
Er hätte das auch so sagen können, ohne Zitat, und ich hätte ihm Recht gegeben.
Obwohl – werde ich alles von Uwe Johnson lesen? Mal sehen. Jedenfalls kam vor einigen Tagen der zweite Band der Jahrestage zu mir zurück, den ich letztes Jahr dabei gehabt hatte, als ich einen Monat lang in einer schummerig kühlen Halbkellerwohnung vor der römischen Hitze floh; aber da hatte ich nur den ersten Band geschafft, und der zweite war liegengeblieben, das Gepäck war schwer genug. Jetzt ist er also wieder da, und wie das so ist, wenn was Johnsonsches auf dem Tisch liegt: man fängt an zu lesen, das ist unumgänglich.
Dass sich dieser Tage die erzählte New Yorker Zeit des Romans zum fünfzigsten Mal jährt – nach einem Prolog geht’s mit dem 21.8.1967 los – daran hatte ich gar nicht gedacht.

Die Jahrestage mit ihren ungefähr 1900 Seiten sind eine Zumutung auch in dem freundlichen Sinne, dass sie dem Leser Mut unterstellen, wo er vielleicht nur kalte Füße hat. Sie sind leserfreundlich eingerichtet, geradezu entgegenkommend. Man könnte das Buch über ein Jahr gestreckt hin lesen und käme mit fünf bis sechs Seiten am Tag aus. Oder man liest Romantag für Romantag. Da müsste man, legte man es auf Parallelität an, zu Anfang allerdings ein bisschen fudeln und die ersten sieben Jahrestage-Tage auf einen Lesetag zusammenlegen. Wenn man heute anfängt. Wer länger trödelt, muss nachsitzen.

Ich meine, der Verlag hätte dem Buch Gutes getan, wenn er sich zu einem großzügigeren Schriftbild durchgerungen hätte, so wie es sich Johnson, glaube ich mich zu erinnern, gewünscht hatte. Aber die Suhrkampschen haben gegeizt, und so gibt’s nun eben diese Bleiwüste, die gleich nach Arbeit aussieht. Man sollte sich davon nicht abschrecken lassen. Überhaupt denke ich: Johnson hat knapp zwanzig Jahre an dem Buch gearbeitet, da kann ich schön gemächlich vorgehen.

Blick auf Uwe Johnson

Am 9. Mai 1974 schrieb Uwe Johnson an Hannah Arendt: „[F]ast zwei Monate habe ich verbraucht für bloss hundert Seiten über Ingeborg Bachmann in Klagenfurt und über Ingeborg Bachmann in Rom; wie war mein Verleger sauer über diese Auskunft! Er brauche das Buch: sagte er kalt.“
(Hannah Arendt / Uwe Johnson, Der Briefwechsel 1967-1975. Herausgegeben von Eberhard Fahlke und Thomas Wild. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2004, 126. – Anmerkung, zwei Seiten weiter: „Das Wort ‚kalt’ fügte Johnson handschriftlich hinzu.“)

Mit dem „Buch“ war der Roman Jahrestage gemeint, dessen erster bis dritter Band in den Jahren 1970, 1971 und 1973 erschienen waren; der abschließende vierte Teil sollte nach einer zehnjährigen, lastenden Pause erst 1983 herauskommen.

Es ist nicht unwichtig, dass Johnson präzisiert: „Ingeborg Bachmann in Klagenfurt […] in Rom“. Tatsächlich erinnert sein Schreibansatz an etwas, das Antje Rávic Strubel, eine Johnson-Kennerin, in ihrem Roman Tupolew 134 beschreibt:

„Ein Ort bringt eine Person hervor, und sie wird ihm wieder genommen, und alles, was man am Ende noch sagen kann, sind Tatsachen über den Ort.“

Johnson liefert viele Tatsachen über die beiden Städte der Bachmann, über Klagenfurt, wo sie am
25. Juni 1926 geboren wurde und wo sie ihre Schulzeit verbrachte, und über Rom, ihrem Wohnsitz von 1954-1957 und von 1965 an bis zu ihrem Tod am 17. Oktober 1973. […]

Der vollständige Beitrag auf satt.org, siehe hier: http://www.satt.org/literatur/15_05_johnson.html