Mara Genschel-Diskussion (archiviert)

Beim letzten Lesekränzchen ernteten die zwei von mir herumgereichten Hefte der Referenzfläche von Mara Genschel vor allem irritierte, ratlose, befremdete und belustigte Blicke. Ob nicht in Wahrheit ich sie hergestellt hätte, wurde ich gefragt.
Später, nachdem ich meine untenstehende Kritik (bei satt.org veröffentlicht) verschickt hatte, entspann sich eine per E-Mail geführte Diskussion, die ich mit freundlicher Erlaubnis der Diskutanten hier in leicht gekürzter Fassung dokumentiere.
Wer möchte, kann den Faden gerne aufnehmen und mit diskutieren.

I. Kritik
„träumen / tun“. Anmerkungen zu Mara Genschel, Referenzfläche (2# 14/50)

Mara Genschel radikalisiert sich. 12 Texte enthält die zweite Folge ihres kleinauflagigen, je 50 Exemplare zählenden, Fortsetzungswerks Referenzfläche, in dem sie erkundet, wie weit ein Text destabilisiert werden kann, um am Ende doch immer noch als Text dazustehen. In der 2# treibt sie ihre Forschung weiter voran, das ist spannend, auch mit Bangheit (wo führt das hin?), zu verfolgen und wirft einige Fragen auf – nicht an die Autorin, sondern an die Form: Wie definiert sich ein Text? Was ist ein Vers?

„ERHABENES für G. Falkner“ ist so etwas wie ein Tacet-Stück, sehr schlau. Es geht über zwei Seiten, die Seiten 16/17. Da das Heft insgesamt 32 Seiten umfasst, steht es also zentral, sicher nicht von ungefähr. Korrespondierend zu Titel/Zueignung auf der linken Seite links oben steht auf der rechten Seite rechts unten: „(entnehmbar)“, das als Lesehinweis verstanden werden kann, als Art Regie- oder Spielanweisung (die ja auch meist in Klammern gesetzt sind). Diese verschwiegene Berührung mit dem Theater wird vom Text – und es wäre zu diskutieren, ob es sich bei „ERHABENES“ nicht eigentlich, präziser, um ein Gedicht handelt – voll eingelöst, insofern als die beiden es konstituierenden Verse inszeniert sind. Und als Verse können sie mit gleichem Recht bezeichnet werden wie die versifizierten Längen- und Kürzezeichen in „Fisches Nachtgesang“ (1905) von Christian Morgenstern. Genschel geht gegenüber Morgenstern allerdings noch einen Schritt weiter; verwendete dieser wenigstens noch Schriftzeichen für die Notation der Stummheit, klebt Genschel zwei Streifen Tesafilm, waagerecht aufgebracht, jeweils auf die Mitte der Seite. Diese Tesafilmstreifen sind längs unregelmäßig gefaltet – die Falten bilden etwas Erhabenes, über das man mit dem Finger fahren kann.
Das theatrale Gedicht ist aber auch ein ikonisches lyrisches Bild, denn die Erhabenheit der Klebstreifen kann – über diese ihre materiale Eigenschaft hinaus – durchaus als (ironischer) Ausdruck der titelgebenden Empfindung gelesen werden, weil sie, wiederum ironisch: im schmucklosen, niederen Stil der arte povera, an einen Meeressaum erinnern, oder an die Linie des Horizonts – Grenzen, hinter denen das Unendliche liegt. Das heißt aber, dass nicht nur „Fisches Nachtgesang“, ein doch vergleichsweise harmloses Gedicht, sondern auch Giacomo Leopardis abgründiges Idyll „L’Infinito“ (1816), potentiell oder tatsächlich, den Echoraum des Genschel’schen Gedichts bildet, das als Joke abzutun grundverkehrt wäre. Ungeachtet seiner provozierenden, beinahe nihilistischen, Anmutung partizipiert „ERHABENES“ an der klassisch-romantischen Tradition, wie ja auch in anderen Texten Wörter wie „Vögelein“ und „Beerlein“ oder die Anspielung auf den Loreley-Felsen in „File_Loreley“ eher auf die Romantik weisen als auf die Epoche des Computers – dies gilt übrigens auch für die Leseranrede im zweiten der Texte: „Lieber Leser! // Dies war das Gedicht. / Des Weiteren folgen: […]“

Das Wort „GEEST“ im erwähnten „File_Loreley“ stiftet den Zusammenhang zu folgendem Text:

GEEST – GEEST – GEEST – GEEST

[Rhein]

[ich]                                       [Heinrich]

[Typographisch ungenügende Wiedergabe des Gedichts.] Der Referenzpunkt in der ‚wirklichen Welt‘ ist offenbar abermals der Rhein auf Höhe des Loreley-Felsens. Der Name Heinrich ruft Heinrich Heine auf (als Autor des Gedichts „Die Lorelei“), er ist aber auch, rein textimmanent betrachtet, ein aus den zusammengezogenen Wörtern „Rhein“ und „ich“ gebildetes Anagramm.
Der Text ist als Planskizze eines Landschaftausschnitts angelegt. Jeder Anflug von Rheinromantik bleibt (natürlich) ausgespart. Heißt es bei Heine: „Die Luft ist kühl und es dunkelt, / und ruhig fließt der Rhein[;]“, bleibt bei Genschel nur noch ein quasi-mathematisches „[Rhein]“ übrig – sein Fließen, das getriebene Silber seiner von Wind und Strömung aufgeschäumten Wasser, muss sich der Leser hinzudenken. Ähnlich verhält es sich mit dem viermaligen „GEEST“. Das Wort bezeichnet hochgelegenes, trockenes (Küsten-)land, eigentlich in Norddeutschland. Auch hier wieder knochige Nüchternheit im Vergleich zur Vers-Malerei Heines: „der Gipfel des Berges funkelt / im Abendsonnenschein[.]“, die in ihrer bodenlosen Untertreibung – bieten Rhein und Loreley etwa keinen erhabenen Anblick?! – ironisch und witzig wirkt. Ironie und Witz müssen aber erschlossen werden, sie geben sich nicht gleich zu erkennen.
Mara Genschel hat mit „GEEST“ ein dezidiert unpoetisches visuelles Landschaftsgedicht geschrieben, vielleicht auch ein Anti-Gedicht, wahrscheinlicher aber ein Anti-Landschaftsgedichte-Gedicht.

Dem technischen Blick auf die Natur in „GEEST“ entspricht das mehrfache Zitieren des Computers in einigen der Texte der Referenzfläche, und zwar weniger als Schreib-, denn als Speichergerät: „Files_“, „in_fileform [14,5 KB]“, „File_Loreley“, „Jagdfile“, „[9,57 KB]“. Vielleicht gehört auch das in Anführungszeichen gesetzte „Rattern D /Lüfte“ in diese Reihe. Die Suchmaschine führt bei Eingabe von „ratternde Lüfte“ auf zahlreiche Belegstellen für „ratternde Lüfter“ von Personal Computern. Andererseits ist „File“, deutsch ausgesprochen, nah an „Filet“. Das lässt an die „fett durchspeckten Scheiben“ und die „Sechshundert Gramm Gehacktes“ aus Tonbrand Schlaf denken, Genschels Debüt (2008).

Zu erwähnen auch der 8-teilige Zyklus „Pferd“, permutativ, dialektal, maulfaul, und ein unbetitelter Text, der seinen Zeichenbestand auf zwei Seiten so arrangiert, dass ein aleatorisches Moment hineinkommt, insofern nämlich nicht eindeutig zu entscheiden ist, ‚wo es losgeht‘.

Erstmals verarbeitet Genschel auch einen – reizenden! – Fremdtext, der zum Schluss zitiert sei: „und die die dürren Beerlein des verjüngten Akademismus aus unseren weggeworfenen Sträußen von gestern sammeln. […]“ – Möglich, dass er in einem anderen Exemplar anders zugeschnitten ist, anders lautet. Jedes Heft ist ein Unikat.

Mara Genschel, Referenzfläche (2#). 12 Texte mit Eingriffen [Tesa/Fremdtext/Tinte/Edding]. 32 Seiten, geheftet. Einband: Chromolux/Edding. Auflage: 50 Exemplare. Berlin 2013. 5,00 Euro

Bezug über referenzflaeche.wordpress.com

II. DISKUSSION

1. [Meinolf Reul]
Liebes Lesekränzchen,

hier, was ich aus der Referenzfläche von Mara Genschel herausgelesen habe (bis jetzt). […]
Es war ein lustiger, anregender, schöner Abend!
(Ich tu auch noch, s. u., ein Interview – und ein Foto – von der Autorin bei, für die ganz Neugierigen. Sofort wird ersichtlich: Mara Genschel bin nicht ich!)

http://www.poetenladen.de/heidtmann-mara-genschel.htm

Liebe Grüße
Meinolf

2. [D.]
Hallo Meinolf,

Du schreibst ja schön. Aber so viele gescheite Gedanken zu einem Sack voll Unfug. Vielleicht müsste ich mir mehr Zeit nehmen und würde mich dann möglicherweise unwohler fühlen in einem (aber nur) vielleicht zu bequem eingerichteten Antiintellektualismus, aber so sage ich auch nach einem zweiminütigen Blick – Du verschwendest Deine Zeit – Das ist maximal Kunsthandwerk, worüber du schreibst – Literarisches Töpfern – Geifer

LG

D.

3. [Frank Raß]
Lieber D., liebe Leser,

das ist ein sehr hartes Urteil, gegen das ich deshalb sogleich Einspruch erhebe.

Mit dem Unfug ist es ja nun mal so, dass er sich zum Fug fügt, wenn man die beobachteten Teile zusammenzubringen weiß. Zwei Minuten mögen genügen, um ein Gefüge scheinbar zu zerschlagen. Zum Glück ist das zeitaufwendigere Zusammenfügen mit Selbstaufklärung verbunden und deshalb niemals Zeitverschwendung sondern ihr sinnvoller Gebrauch.

Denn bloßes Kunsthandwerk ist im Gegensatz zum Kunstwerk ja wohl dadurch gekennzeichnet, dass weder zu seiner Herstellung noch zu seiner Wahrnehmung mehr gehört als das, was man ohne besondere Anstrengung schon lange konnte und zu wissen glaubte. So schmeichelt es vielleicht dem eigenen ‚Intellekt‘, bestätigt alles zuvor Gekannte, vermeidet jeden Zweifel daran. Bloßes Kunsthandwerk würde niemals Reaktionen auslösen, die über wortloses Hinwegsehen hinausgehen. Und wer sich gescheite Gedanken macht, dem bleiben immer wenigstens diese, ungeachtet, was ihr Gegenstand gewesen war. So werde übrigens auch ich weiterhin gerne und mit Gewinn die Mülltonnen, aber auch Fundorte noblerer Adressen durchsuchen.

Liebe Grüße sendet
Frank

4. [D.]
Lieber Frank, liebes Lesekränzchen,

es ist anzuerkennen, dass Mara Genschel Dich und Meinolf zu gescheiten Gedanken anregt. Sie verführt also zwei junge Männer dazu, sich Gedanken zu machen, die sich ohnehin häufig Gedanken machen. Verführt sie sie womöglich zu der Art von Gedanken, die sie sich ohnehin machen? Dann wären wir doch bei so etwas Ähnlichem wie Kunsthandwerk.
Von Kunst erwarten würde ich wohl auch eine ästhetische Erhebung oder das Anregen von Gedanken bei Menschen, die sich sonst keine machen (hat bei mir nicht geklappt – wenn ich mir jetzt doch welche mache, so hat das nur mit Deinen und Meinolfs Argumenten zu tun), oder von einer Art von Gedanken, die diese sich sonst nicht machen. Dies erwarte ich bei den vorliegenden Texten eher nicht.
Dann wäre es nur praktizierte Literaturtheorie oder eine limitierte Auflage zum Distinktionsgewinn. So oder so. Hurz.

D.

5. [A.]
Liebes Lesekränzchen,

als bekennende Jane Austen-Leserin und Mathematikerin möchte ich auch meine Gedanken zu Mara Genschels Texten (?) äußern.

1) Bewundernd stehe ich vor den schönen Sätzen und klugen Gedanken, die Meinolf und Frank niederschreiben. Nie käme ich dazu, mit solcher Sicherheit Tesafilmstreifen und „Geest“ zu deuten, vielmehr müsste ich wild herumspekulieren, was einfach daran liegt, dass ich keine Erfahrung mit solchen Texten habe und keine Zugänge kenne. Jeden geäußerten Denkansatz empfinde ich also als äußerst lehrreich für mein nüchternes Mathematikerinnenhirn.

2) Wenn Mara Genschel Texte bis an die Grenze des Möglichen destabilisieren will, muss sie damit rechnen, dass sie – zumindest für den/die einE oder andereN LeserIn – die Grenze überschreitet. Sonst wäre das Experimentieren ja auch irgendwie sinnlos. Für mich jedenfalls ist die Grenze überschritten. Texte sollten Geschichten erzählen, finde ich. (Jane Austen beherrscht das meisterlich!) Wenn die Geschichte zudem noch schön erzählt ist – umso besser. Schlimm, wenn man die Geschichte nicht mehr erkennen kann. Das Interesse, Sprache an ihre Grenzen zu bringen, finde ich zwar berechtigt, aber es gibt viele Dinge in der Welt, die ich noch interessanter finde.

3) Dass man mit nur wenigen Buchstaben auf kleinstem Raum wunderschöne Gedanken entfalten kann, kenne ich eher aus der Mathematik. An dieser Stelle verweise ich noch einmal auf Das Geheimnis der Eulerschen Formel von Yoko Ogawa. Diese Eulersche Formel ist ziemlich kurz:

\;\mathrm{e}^{\mathrm{i}\,\pi} = -1,

aber trotz oder wegen ihrer Kürze ist sie der Inbegriff der Schönheit in der Mathematik. Das kann ich auch verstehen, denn hier kenne ich Zugänge zum „Text“. Ich kenne Geschichten, die hinter e, i, Pi und -1 stehen und kann die Formel deshalb deuten, einordnen und bewundern. Vielleicht könnten mir ein Germanistik-Studium oder noch ein paar Lesekränzchen helfen, auch mit Mara Genschels Texten zurecht zu kommen?

4) Ich muss Frank sehr bitten, demnächst auch die LeserINNEN anzusprechen!
Für einen Vormittag habe ich in der Schule das Amt der Gleichstellungsbeauftragten einnehmen dürfen. Das ist nicht spurlos an mir vorbeigegangen!

5) Foto und Interview haben mich auch nicht überzeugen können, dass sich nicht Meinolf hinter Mara Genschel verbergen soll. Die indischen Götter haben meist eine Shakti, d.h. eine weibliche Erscheinungsform. Warum sollte Meinolf es nicht ebenso halten? Man beachte auch, dass Meinolf und Mara mit demselben Buchstaben beginnen und auch irgendwie ähnlich klingen. Wer weiß, ob Meinolf […] nicht irgendein Experiment gemacht hat oder einen sprachlichen Trick angewendet hat, der aus Meinolf Mara macht, ohne dass kleine Mathelehrerinnen das bemerken. Dabei vergisst er allerdings, dass ich ja inzwischen Lesekränzchen-geschult bin!

6) Ich gönne mir nun eine große Portion Jane Austen (ich stecke gerade in den letzten Kapiteln von Mansfield Park) und wünsche allen Gute Nacht!

Viele Grüße von
A.

6. [Frank Raß]
Lieber D., liebe Leute,

nun ist es also nicht nur Unfug, Zeitverschwendung, keine Kunst, sondern auch die (trotzdem anzuerkennende?!?) Gedankenanregung verliert sich nur in irgend so einer Wolke aus nichts als eigentlich schon gedachten, redundanten Gedanken. Ein Nachweis über die tatsächliche Neuigkeit unserer Gedanken dürfte für oder wider kaum gelingen.

Was also solls? Was bliebe zu beweisen? Wer gerade so noch was sehen kann, wird wohl auch die Blindheit der Blinden erkennen; umgekehrt ist das kaum möglich. Also Bekehrung zum Blindentum?

Wenn das Trennkriterium von Nichtkunst zu Kunst im Auftauchen eines Gedankens bei ansonsten gedankenlosen Menschen bestünde, könnte ein Mensch überhaupt nur maximal ein Kunstwerk in seinem gesamten Leben sehen, nämlich das, das seinen Dämmerzustand beendet. Mit den Gedanken ist es wohl eher wie mit Luhmanns Wort „Anschlusskommunikation“: auch Gedanken sind immer Anschlussgedanken. Solche Gedanken zum Beispiel, die LeserIN A. uns hat zukommen lassen. Schön, liebe A., wie Du hier (Zitat A.: „zumindest für den/die einE oder andereN LeserIn“) geradezu ein wenig „genschelst“ – auch wenn der Anschlussbegriff „Political Correctness“ geläufiger ist. Sehr interessant für mich der Zusammenhang von Mathematik und immer wieder festgestellter Schönheit. Medientheoretiker Kittler hatte darauf hingewiesen, dass der Trick mit den Komplexen Zahlen ja zunächst einfach darin bestünde, eine vorher nicht lösbare Gleichung durch die Definition von i gleich Wurzel aus Minus Eins mit dem neuen Symbol lösbar zu machen. Wo vorher Schluss war, kann plötzlich einfach mit dem imaginären i weitergerechnet werden. Das ist mal ein wahrlich neuer Gedanke (gewesen), auch wenn das mit der Neuigkeit eben immer historisch zu verstehen ist. In gewisser Weise macht auch Mara Genschel da weiter, wo nach (historisch überlieferter) ästhetischer Erhebungs-Theorie Schluss wäre. Solche Anschlussmöglichkeiten gefallen mir! Kann man die auch verpassen? Ja, wenn man sie gar nicht erst erwartet (D.: „Dies erwarte ich bei den vorliegenden Texten eher nicht.“).

Vor die Beurteilungsalternative „Ästhetische Erhebung“ oder „Hurz“ gestellt, entscheide ich mich auch weiterhin gerne für das Dritte.

Es winkt in die imaginäre Runde
Frank

7. [D.]
Lieber Frank,

ich gebe Dir in allem Recht, außer in der Sache mit Mara Genschel.

LG

D.

8. [C.]
Liebes Lesekränzchen,

eure Debatte finde ich höchst amüsant. Somit erlebe ich gerade eine erfreuliche Gefühlsregung. Ästhetik verbinde ich mit „Erschaudern“. Ob es gereicht hat? Hat es bei mir doch noch „gegenschelt“? Ich finde, Meinolf sollte jetzt lieber mit seinem Versteckspiel aufhören. Ich finde es verdächtig, wie still er sich zurzeit verhält! Sind wir letzten Endes nur ein Blogger-Experiment?

Liebe Grüße, die konservative C.

9. [Meinolf Reul]
Ihr Lieben,

danke für die rege und anregende Diskussion und neugierige Verfolgung derselben. Ich muss sagen, dass mir, verglichen mit der Präzision, mit der MG die Worte setzt (oder verweigert, sie zu setzen), die beschriebenen mathematischen „Tricks“ geradezu unseriös erscheinen. Es ist wie bei Loriot, wenn der Kellner den Deckel hebt, der die Spezialität bedeckt: „sehr übersichtlich!“, freilich auch – und das ist raffiniert -: undurchschaubar […].

[…] Ich bin in Kunstdingen ein abenteuerlustiger Konservativer, und es haut mich nicht aus den Latschen, wenn jemand ‚krumm‘ schreibt oder, in der Musik, die Gesetze der Tonalität nicht lesen kann oder will. Was aus solcher Unbotmäßigkeit gegenüber den Traditionen entsteht, weckt mein Interesse und inspiriert mich. Es würde mich aber sehr erstaunen, wäre es für jeden (jede) so. […]

Liebe Grüße
Meinolf

10. [R.]
Aha, Du bist allerdings wirklich sehr interpretationsbereit, wie ich sehe. Der Sprung vom Klebestreifen zu Leopardi war mir zu weit. (Kann sein, mir fehlen die bildungstheoretischen Sprungstelzen.) Die Gefahr liegt natürlich darin, dass mit „Unbegrenzt“ mehr oder weniger alles … nun ja, unbegrenzte Interpretationshorizonte, ist ja klar.
Faszinierend finde ich immer die Mathematik. Auf der einen Seite so wunderbar nachvollziehbar (für mich leider nicht, wegen mangelnder Ausbildung), auf der anderen aber auch unendlich borniert. Ein Mathematiker ist wahrscheinlich wirklich in der Regel eher ein phantasiearmer Mensch, könnte ich mir vorstellen, ein Kontrollfreak, ein Versicherungsmathematiker. Nun ja, seine Existenz ist phantastisch genug — einer, der vom reinen Denken lebt –, wozu sollte er da phantasievoll sein? Trotzdem, die Mathematik hat es geschafft, mein Gehirn über ihr IQ-Image mit einem eisernen Riegel zu versehen, Glückwunsch dazu! (Es sind natürlich ihre Schergen, die Lehrer, die solches vollbrachten.)
Ein bisschen etwas davon haben die Gedichte auch. […] Wird da am Ende nicht eventuell die immer vorhandene Tendenz zur Selbstinszenierung ins Extrem gesteigert? Schluckt da die Autorprofilierung nicht wirklich die Substanz (Melos, Aussage, Ansprache)? „Rhein, ich“, sehr brillant von Dir aus dem „Heinrich“ herausgeholt — und gleichwohl wäre Heinrich ja auch die Chance, dem reinen Ich mal für ein paar Minuten zu entgehen und etwas in die Welt zu setzen, was, was weiß ich, Hoffnung verbreitet oder ein Lächeln. Statt einfach nur das Entropielevel hochzutreiben. […]
R.

[11.] [Mara Genschel]
[…] (Die Geest ist nicht nur eine Landbeschaffenheit – sondern auch Firmenname (steht auf diversen Güterwaggons, die u.a. die Felsen am Rhein tunneln, jedoch nicht in Versalien) […])

12. [Frank Raß]
Hallo Meinolf,

zu Genschels Hinweis auf die Waggons fiel mir eine ganz frühe (1990) Arbeit von mir ein, die ich hier als Photo anhänge. Das Original ist Ölfarbe auf Ölmalpapier. So mal als bildlicher Diskussionsbeitrag. […]
Frank

Frank Raß, 1990 [2013]

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