Hoppla!

Da nehme ich meine 1996 gedruckte Ausgabe von Roland Barthes‘ Mythen des Alltags in die Hand, edition suhrkamp 92, erstmals 1964 erschienen, und lese in einer Notiz, die vermutlich vom Übersetzer Helmut Scheffel stammt, oder vom Redakteur der Reihe, Günther Busch: Unser Band enthält eine Auswahl aus dem 1957 in Paris erschienenen Buch Mythologies. Fortgelassen wurden in der deutschen Ausgabe einige kürzere Texte des ersten Teils, deren Thematik und Bedeutung einem mit den Verhältnissen in Frankreich wenig vertrauten Leser nur unzureichend sich erschlossen hätten.

2012 brachte Suhrkamp, diesmal in der Reihe der suhrkamp taschenbücher, eine vollständige Übertragung heraus, für die Horst Brühmann zuständig war – und siehe da:
Die erste vollständige Übersetzung enthält 34 zusätzliche Essays.
Die bereitgestellte Leseprobe beginnt mit dem genauen Inhaltsverzeichnis.

(Ich möchte beiläufig auf die wie üblich dürre und kaltherzige Todesanzeige hinweisen, die der Verlag für seinen treuen Mitarbeiter verfasst hat → hier.)

Man kann ja nicht alles lesen, aber ich bin immer bereit, ein Buch von Roland Barthes zur Hand zu nehmen: ein Anrege-Autor.

Meine Rimbaud-Lektüre setze ich unterdessen fort.
Gerade lese ich den Band Die Zukunft der Dichtung. Die Seher-Briefe, den Tim Trzaskalik schon 2010 bei Matthes & Seitz Berlin in der Reihe Fröhliche Wissenschaft herausgebracht hat – eine Reihe, die mich eigentlich nur im Zusammenhang mit meinen Leuten interessiert: Mallarmé und Rimbaud … Darf man Andreas Rötzer natürlich nicht sagen.
Die beiden sogenannten Seher-Briefe, der eine an Rimbauds Lehrer Georges Izambard, der andere an seinen Dichterfreund Paul Demeny adressiert, beide im Mai 1871 vom damals Sechzehnjährigen verfasst, nehmen zusammen sechzehn Seiten des Buchs ein (3 Seiten + 13 Seiten). Vorgeschaltet ist ein dritter Brief, der vom 17. April 1871 datiert, an Paul Demeny (3 nicht voll bedruckte Seiten); dieser berichtet von der aktuellen Literatur, wie Rimbaud sie in den Pariser Buchhandlungen ausliegen sah – offenbar nicht zukunftsweisend.
Die Namen und zeitgenössischen Anspielungen werden selbst einem französischen Leser heute teilweise nichts mehr sagen, so scheint mir der Umfang der Anmerkungen: 15 1/4 Seiten für den April-Brief, 5 1/2 Seiten für den Brief an Izambard, 21 Seiten für den (zweiten) Brief an Demeny angemessen, um so mehr, als die Kommentare auch den jeweils beigefügten Gedichte gelten, die es in sich haben.

Die Übersetzung ist mir tendenziell zu forsch, da wär ich mal neugierig, wie Werner von Koppenfels das in seiner Übertragung gemacht hat, die 1990 in der Reihe excerpta classica in der Dieterich’schen Verlagsbuchhandlung Mainz erschienen ist.

Nur ein Beispiel: Im Gedicht Mes petites amoureuses (Meine kleinen Liebchen) wählt Tim Trzaskalik für den Ausdruck laideron, der laut Petit Robert für jeune fille ou jeune femme laide steht, also ein hässliches Mädchen oder eine hässliche junge Frau bezeichnet, das deutsche Schlampe, welches mir unangemessen scheint. Doch was wäre zutreffender?
Die Anrede Cher Monsieur ! (an G. Izambard) liest sich bei Trzaskalik: Allerwertester!
Rimbauds Ton ist zwar insgesamt ziemlich frech und unehrerbietig, aber trotzdem –

Ich will aber nicht vorschnell urteilen. Das Buch endet mit einem gut fünfzigseitigen Essay des Übersetzers: Auf den zweiten Blick.

Arthur Rimbaud, Prosa über die Zukunft der Dichtung. Die Seher-Briefe. Aus dem Französischen, mit Anmerkungen und einem Nachwort von Tim Trzaskalik. Mit einem Vorwort von Philippe Beck. 160 Seiten, Klappenbroschur. Matthes & Seitz Berlin, Berlin 2010. 14,80 Euro

15 Kommentare zu „Hoppla!“

  1. Interessant fand ich an Deinem Einwand gegen den „Allerwertesten“ (das wäre ja wirklich der „Arsch“, oder, und nicht der „cher monsieur“?), dass Dichtung letztlich sehr viel zu tun hat mit sozialem Gefühl, mit zwischenmenschlichem Einfühlungsvermögen … Darüber denkt man heute vielleicht zu wenig nach. Vielleicht hat man die Lyrik generell zu sehr robotoisieren lassen? Der Prosa hat man den Menschen, die menschlichen Themen, das Menschliche überlassen, und die Lyrik war dann die Mathematik des Wörterbuchs.

    Mich würden Deine Gedanken dazu interessieren.

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  2. Pauschale Aussagen zu Epik und Lyrik (und Dramatik) können meiner Ansicht nach nicht guten Gewissens getroffen werden, wenngleich es reizvoll ist, sie dennoch zu treffen (wovon ich aber die Finger lasse).
    Beispiele für deine These ließen sich zweifellos finden, aber auch Gegenbeispiele. Der/Das Blog Armengenossenschaft (von Urs Engeler) hat neulich einige Hunger-Gedichte von Norbert Lange publiziert – hier eines davon: Norbert Lange Der Hunger -, auf die ein Begriff wie Robotoisierung oder Mathematik des Wörterbuchs nicht recht zu passen scheinen.
    Oder denke an Anja Utlers Es beginnt, ein Buch, das von der Erschütterung über den Angriff Russlands auf die Ukraine ‚ausgelöst‘ wurde.

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  3. Nun, Deine Einwände laufen gewissermaßen darauf hinaus, dass wir, da die Wahrheit eh unerreichbar ist (wenn es sie denn überhaupt gibt), besser im Schweigen aufgehoben sind. Es ist ja wahr, man redet ja doch immer nur Unsinn, und doch bewegt er uns, ist er menschlich, treibt er, vielleicht weil er so unsinnig ist und so verzweifelt nach einem festen Halt im ewigen Treibsand der Sekunden tastet, uns voran, von Tag zu Tag.

    Norbert Langes Gedicht z. B. scheint mir doch auch in der Prosa einen menschlichen Rückhalt zu suchen, mindestens. Was ich meine, mit diesem Dummdaherreden, formuliert er so: „Und tragen zwei einen Herd, haben sie es überstanden.“ Dirk Baecker würde formulieren: Wir quatschen uns die Welt aus dem Nichts ins Sein. Die Welt ist das, worüber wir reden können. Im Reden entsteht die Welt.

    Nun, wie auch immer. Dass Du mit Deinem Eingangssatz im letzten Kommentar die Germanistik abgeschafft hast, rechne ich Dir hoch an.

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  4. Auf Wahrheit bin ich gar nicht aus. Mich interessieren Sachgegenstände.
    Ich bin für Genauigkeit.
    In Schweigen verharren, bloß um nichts vielleicht Dummes zu sagen?!
    Mir ist aber lieb, wenn die Feststellungen in einem neugierigen, fragenden, wissenwollenden Gestus getroffen werden, und nicht vom Katheder oder von der Kanzel herab. Ein Musterbeispiel für dieses Interesse an Wahrheiten – nicht an der Wahrheit, „wenn es sie denn überhaupt gibt” – ist in meinen Augen Elke Engelhardt aka Mützenfalterin.
    Abgesehen davon: Bewertungen sind überbewertet. Ich will ja nichts kaufen, ich will etwas verstehen.
    Wahrnehmungen sind wichtiger. Alle sind dazu befähigt. Da kann Sigrid Löffler noch zehnmal blöd maulen, dass die Kritik niedergeht.

    Welt ist auch ein großes Wort, aber immerhin ein bisschen kleiner als Wahrheit. Mit Welt komm ich klar. Die Sprache hat eine Grenze darum gezeichnet, mit Kreide. Man kann sie hier und da wegwischen und größer nachzeichnen. Vielleicht ist das so ungefähr dasselbe, was Dirk Baecker meinte.

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  5. Eine recht lapidare Erwiderung … Bedeutet sie, dass alle Fragen geklärt sind („Alles klar”), oder dass du zum Schluss gekommen bist, dass sich eine weitere Diskussion nicht lohnt („Alles klar”)?

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  6. Was sagst Du eigentlich zu diesen ständigen Neuübersetzungen? Müsste man dann nicht auch Rimbaud im Original mal moderat modernisieren? Rollt bei „laideron“ nicht auch die Durchschnittsfranzösin mit den Augen und schlürft Bubble Tea durch ihren Strohhalm?

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  7. PS: In Horst Brühmanns Todesanzeige ist der Name des Verstorbenen klein geschrieben, und als Motto vorangestellt ist ein Zitat von Theodor W. Adorno.

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  8. Die Neuübersetzungen sind Teil des (Verlags- und Sortiments-) Buchhandels.
    Ein Verlag wie Guggolz ist auf Neuübersetzungen spezialisiert und macht nichts anderes. Wenngleich ich mich frage, wer das lesen soll, ist doch festzuhalten, dass man den Eindruck hat, manche der vertretenen Sprachen seien noch niemals vorher, oder nur sehr selten, im Deutschen vorgestellt wurden (Färöisch, Estnisch).
    Hanser hat die Reihe der Hanser Klassiker – auch verdienstvoll!
    Einen David Garnett, zum Beispiel (bei Dörlemann), muss man aber wahrscheinlich nicht neu übersetzen – er wird neu übersetzt -, und schon gar nicht seine Bücher in Leinen binden: hier kommt das Marketing ins Spiel: als Geschenkband geeignet.
    Bei Kriminalromanen sind die älteren Übersetzungen, z.B. von Ross Thomas, gekürzt gewesen; die neuen sind vollständig – also gerechtfertigt. Keine Einwände!
    Einen bekannten Text neu übersetzen bedeutet, ihn neu zur Diskussion zu stellen. Das ist eine gute Sache, meinst du nicht? Die Dieterich’sche Verlagsbuchhandlung praktiziert das mit der Reihe excerpta classica, Turia + Kant mit der Reihe [re.visionen], um nur zwei Beispiele zu nennen.
    Die Klassiker sind die großen Unbekannten.

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  9. Wo Du den Verlag erwähnst: Von Turia + Kant hab ich neulich einen fetten Band Maurice Blanchot bekommen, und das ist wirklich schlampig lektoriert. Bei so einem Autor — erstaunlich. Und nicht recht verzeihlich.

    Auf die Frage mit den Neuübersetzungen kam ich wegen Helmut Scheffels (Genitiv!). Ich hab seine Briefe von Flaubert, und das war für mich immer der echte Flaubert, der deutsche Flaubert, im Ton klang das groß und stark, glaubwürdig. Bestimmt gibt’s da jetzt, dank der unermüdlichen Bemühungen von Mareike Meerbaum-Sulzheim, ganz neue Einblicke und Neugewichtungen, aber ist das wirklich noch einmal vier Jahre, 700 Seiten und 68 Euro wert?

    Salinger ist ja neu übersetzt worden, aber ich muss sagen — vielleicht liegt’s auch an mir, aber der oft gescholtene Böll hat doch einen Sound in die Welt gesetzt. Da mag hier und da was en détail nicht gestimmt haben, aber dass das neue „Franny und Zooey“ mich alles noch einmal ganz anders hat sehen lassen soll — hm. Das Gleiche empfinde ich bei Frank Heiberts DeLillo-Nachdichtungen. Da lesen die früheren Sachen sich unverkrampfter, weniger akademisch, mehr auf Straßenniveau. Wahrscheinlich, weil die Übersetzer sich damals nicht als Künstler verstanden, sondern als Handwerker. Wobei diese Unterscheidung ja lediglich eine mediale ist, oder?

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    1. Bedenkenswert, was du über die Gültigkeit alter Übersetzungen schreibst.
      Eine Unterscheidung von Handwerk und Kunst des Übersetzens scheint mir aber nicht haltbar und nicht wünschenswert. Ich fasse mich kurz.
      Der zu übersetzende Text sollte mit allem Drum und Dran vollständig begriffen sein (was eine Frage des Handwerks, vor allem der Sprachbeherrschung, ist, aber anderes kommt hinzu).
      Der deutsche Text sollte nicht bloß philologisch korrekt sein, sondern auch leben – spätestens hier kommt die Kunst ins Spiel, oder das Sprachempfinden, wenn dir das lieber ist.
      Wie beides gegeneinander abzuwägen ist, und wie im Streitfall zu entscheiden ist, soll Salomo entscheiden, ich halt mich da raus.
      Welches Buch isses denn? „Das unendliche Gespräch“ könnte auf die Beschreibung passen (660 Seiten).

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  10. Nein, das ist ein Missverständnis, zu Neuübersetzungen von Blanchot könnte ich schon darum nichts sagen, weil ich ihn in meinem hohen Alter, für den Bewerbungsmarkt ein Greis, erstmals lese (und was heißt bei einem Doppel-Vater „lesen“!). Ich bezog mich eher auf die neue „Madame Bovary“, neue „Anna Karenina“ etc. Wie man, aus immer größerem zeitlichen und sprachlichen Abstand, immer größere sprachliche und gedankliche Nähe soll produzieren können, ohne dass in dieser Rechnung eine kleine Schwindelei stattfindet, geht mir nicht auf. Vor allem, und das ist es wahrscheinlich, was mich wurmt, werten die Marketingherrschaften durch ihr lautstarkes Anpreisen der neuen Übertragungen die honorigen Klassiker ab. Man nimmt seine eigene „Madame Bovary“ dann etwas lustlos aus dem Regal, wie ein Physikbuch von 1904.

    Dass Du Dich als Übersetzer beleidigt fühlst, wenn jemand Deine Kunst als Handwerk bezeichnet, verstehe ich … Ich meinte damit allerdings nur, dass der Übersetzer es nicht nötig hat, als flamboyante, vom Schicksal ausersehene Tingeltangelgestalt über den Erdboden zu wandeln; ohne ein schellenlauter Tor zu sein, kann er mit Verstand und rechtem Sinn seinen Job machen. Mir scheint da bei einigen immer doch ein bisschen die Schellenkappe zu bimmeln.*

    Zu Deinem Buch-Tipp: stimmt.

    ——–

    *Weil dieser Text im Wesentlichen passt, habe ich ihn, trotz gelegentlicher Tonwechsel ins Altherrenregister und einiger m. E. unangemessener Einlassungen, unübersetzt gelassen. (A. d. Ü.)

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    1. Ich habe Mühe, bloß weil ich in der Tat hier und da als Übersetzer gearbeitet habe, mich als Übersetzer zu sehen. Ich möchte keinen Anspruch auf eine Berufsbezeichnung daraus ableiten. Dies vorausgeschickt, wirst du einsehen, dass ich mich nicht „als Übersetzer beleidigt” fühlen kann. Mich beleidigt zu fühlen, gehört sowieso eher nicht in mein Repertoire. Auch weiß ich nicht, wo du gelesen hast, dass ich etwas gegen das Handwerk (des Übersetzens) gesagt hätte …
      „Eine Unterscheidung von Handwerk und Kunst des Übersetzens scheint mir aber nicht haltbar und nicht wünschenswert.”
      Hinsichtlich der Frage der Neuübersetzungen haben wir uns, glaube ich, nicht missverstanden, und denken ähnlich darüber.

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