Klub Wytwórnia

Die Überschrift, zu Deutsch „Clubhaus” oder „Vereinsheim”, habe ich von einem Video eines ca. fünfzigminütigen Auftritts von Eve Risser, Klavier solo, in Łódź, in eben jenem Klub Wytwórnia:
Jazz Connective – Concert Eve Risser solo (11.8.2020).

Eve Risser, französische Pianistin und Komponistin, geboren 1982 in Colmar, auf dem North Sea Jazz Festival in Rotterdam jüngst mit dem Paul Acket Award ausgezeichnet, der jährlich an Musikerinnen und Musiker verliehen wird, die eine größere Anerkennung verdienen.
Ich bin durch das Jazz Podium auf sie aufmerksam geworden.

Der Verlag Philipp Reclam jun. wäre gut beraten gewesen, wenn er der Ausgabe von Une Saison en Enfer. Eine Zeit in der Hölle (erstmals 1970 erschienen) entweder ein neues, aktuelles Nachwort beigegeben hätte – das mittlerweile historische, lies: angestaubte, des Übersetzers Werner Dürrson („Rimbaud und die Hölle”) scheint mir wenig geeignet, den Befund:
„Im übrigen ist Rimbaud, ungeachtet seines seit der Jahrhundertwende ansteigenden Ruhms, der große Fremde geblieben” in eine günstigere Prognose umzukehren. Oder man könnte das Nachwort beibehalten, ihm aber ein weiteres, neues, beiseitestellen. Das Mindeste wäre, eine größere Schrifttype zu wählen. Eine elfseitige Fußnote ist eine Zumutung.
Lobenswert ist, dass Reclam das Bändchen lieferbar hält.

Gut gefällt mir an dem Nachwort die unausgesprochene Anregung, die sogenannten Seherbriefe zu lesen, die Rimbaud im Mai 1871 kurz hintereinander an seinen ehemaligen Lehrer Georges Izambard und an seinen Dichterfreund Paul Demeny schickte. Aber piano piano.
Außerdem habe ich gelernt, dass der große Dieb Bertolt Brecht für sein Stück Im Dickicht der Städte von Anfang der 1920er Jahre den ersten Abschnitt aus Une Saison en Enfer geplündert hat, der in der Übersetzung von K. L. Ammer, 1921, Schlechtes Blut heißt, und bei Dürrson Böses Blut. – Das erste trifft es besser („Mauvais sang” im Original), doch dann ist wieder Dürrson vorzuziehen, wenn er wie folgt übersetzt: „Die Gallier waren die dümmsten Tierschinder und Heckenbrenner ihrer Zeit” – was doch mehr Kawuppdich hat als Ammers: „Die Gallier schlachteten Tiere, verbrannten Kräuter, sie, die Albernsten ihrer Zeit.”
Von solchen Leuten stammt Rimbaud ab, schreibt Rimbaud. Daher: schlechtes Blut.

Hier wieder ein kleines Rätsel aus der Reihe: Wer hat diese Locken auf seiner Glatze gedreht?
„Sein Nicht-mehr-Sprechen ist ein Gesagt-Haben. […] Hören wir schon hinreichend deutlich im Gesagten der Dichtung von Arthur Rimbaud sein Geschwiegenes?”

Leider muss ich feststellen, dass René Char auch nicht besser ist mit seiner Bemerkung, Rimbaud verkörpere die innere Wölbung des Bogens im Dichterischen.

Sonja, die eh schon nicht Caroline Polachek und Weyes Blood (Natalie Mering) auseinanderhalten kann, wird vollends verwirrt sein, wenn sie sieht, dass beide einen Song aus Desire, I Want To Turn Into You (morgen vor einem Jahr ist das Album erschienen) neu aufgenommen haben.

[veröffentlicht am 7.2.2024]

Letzte Woche war ich kurz in meiner Heimatstadt, in der immer mehr Läden dichtmachen. „Nach über 90 Jahren haben wir unser Geschäft dauerhaft geschlossen. Vielen Dank für Ihre Treue!” las ich auf einer blitzblanken Glastür zwei Häuser neben Nederkorn, am Anfang der Hauptstraße. Ein Devotionaliengeschäft hat die Segel gestrichen. – Der Bedarf an Wallfahrtsartikeln ist heutzutage, selbst im Wallfahrtsort Kevelaer, überschaubar, denn die Wallfahrt ist stark zurückgegangen.
Was wird da jetzt hineinkommen?
Auch Der Teefreund neben dem Pfannkuchenhaus Hollandia (dieses wird seit einigen Jahren von einer Familie aus Sri Lanka betrieben) scheint keine Nachfolge gefunden zu haben, und das ist wirklich sehr bedauerlich.
Eine Überraschung war, dass die Umbauarbeiten am Hotel zum Goldenen Apfel bis auf weiteres zum Ruhen gekommen sind, weil der Investor Insolvenz angemeldet hat.
Ich bin kein Stadtplaner, und weiß auch nicht, wie man eine tote Innenstadt wieder flott kriegt. Eine Rückbesinnung darauf, was Kevelaer einmal besuchenswert gemacht hat, könnte nicht schaden. Neben der Wallfahrt war es das Kunsthandwerk, lange her. Auf der Hauptstraße klaffen in großen Schaufenstern große Scheußlichkeiten.
Der EuroShop, Nanu-Nana, Apollo-Optik, Kamps – ist es das, was Kevelaer besonders macht?
Man könnte sich ja auch eine Hauptstraße (und andere Straßen) vorstellen, in der es einen kleinen Lebensmittel- und Haushaltswarenladen gibt, eine handwerkliche Bäckerei, Töpfer, Weber, Gold- und Silberschmiede, Kunsttischler, vielleicht ein Schreib- und Übersetzungsbüro, einen Proberaum … – Eine Freundin meinte allerdings zu mir: Die Kevelaerer wollen nur abschöpfen. – Dann bleibt’s beim Trash.

Mir ist aufgefallen, dass YouTube, das mir bis vor wenigen Tagen immer Videos einschlägiger rechter Politiker unter die Nase hielt – stets in der pole position, noch vor allen anderen Videos, Shorts usw. – dies nun nicht mehr tut. Sehr wohltuend. Doch woran liegt es? Hat sich Google daran erinnert, dass es Verantwortung trägt? Haben lobenswerte Hacker den Algorithmus ausgetrickst? Steckt Jan Böhmermann dahinter?

PS [15.2.2024]. Zum Valentinstag hat Caroline Polachek eine Reihe neuer Songs online gestellt, als Extras zur Wiederauflage ihres Albums von vor einem Jahr: Desire, I Want To Turn Into You, zum Beispiel diesen:

Caroline Polachek fährt Öffis.

Kävele Wetten Wemb en Kleef

Mit Sommersprossen auf der Nase bin ich von meinem einwöchigen Ausflug zum Niederrhein zurückgekehrt. Für die ersten beiden Übernachtungen bin ich im World House Wetten untergekommen (ein ehemaliges Kloster der Dominikanerinnen. „Als das Kloster im März 2004 geschlossen wurde, lebten in dem Haus noch elf Schwestern. Einige waren als Erzieherinnen im Kindergarten tätig, andere in der Krankenpflege, zum Beispiel Schwester Martha”, heißt es in einem Artikel der Rheinischen Post von vor dreizehn Jahren), danach konnte ich im Gästezimmer einer Freundin bleiben, in Weihrauch City, wie zu meiner Zeit die Schüler sagten, nicht alle.
Den Weg vom Bahnhof Kevelaer zu meiner ersten Bleibe habe ich bei sonnigem Wetter zu Fuß zurückgelegt, da wochenends keine Busse fahren, oder nur bis samstags mittags, da war ich zu spät. Irgendwann stoppte ein Auto neben mir, dessen Fahrerin sich aus dem heruntergekurbelten Fenster heraus mit Namen vorstellte; sie erbot sich, mich zu fahren: sie hatte mich im Vorbeifahren als Mitglied der Großfamilie identifiziert, der ich in der Tat entstamme.
Das World House (warum der englische Name? Die Eigentümerin ist Niederländerin, da hätte Wereldhuis doch besser gepasst) ist schön gelegen, ich fand allerdings die Gärten und Wiesen rundherum einladender als das Gebäude selbst, wo ich Montag als einziger Gast bei einem üppigen Frühstück saß.

Im großen und ganzen habe ich alles gemacht, was ich mir vorgestellt hatte: Ich traf zwei meiner drei niederrheinischen Brüders (der dritte fuhr gerade nach Berlin), den Freund und die Freundinnen vom Lesekränzchen, die Steinbildhauerin mit ihren Männern (Ex- und neu, aber neu ist auch schon alt), meinen ältesten Freund – wir kennen uns seit 1979, schätzungsweise -, der Lehrer für Erdkunde und Musik ist. Ich hab Schwedische Apfeltorte bei Nederkorn gegessen, Eis bei Europa (seit 1974, jetzt in dritter Generation, INH. LUCA GAVAZ), Pfannkuchen bei Hollandia, und im Teefreund Tee getrunken, mit Scones, klar, das meiste in Gesellschaft. (Der Teefreund ist schwanger und sucht eine Nachfolge.)
Bei der Töpferin las ich die Todesanzeigen, darunter eine von einem, der genau am selben Tag geboren wurde wie ich, war aber wer anders. Wie in alten Zeiten machte sie Cappuccino, streute Zimt über die zart knisternde Milchschaumhaube. Auf die Bank setzten wir uns so, dass das durch die Planken rankende Pflänzchen nicht zerdrückt wurde. Neben der Terrassentür brütete eine Amsel, über dem Vogelhaus.
Eine Freundin lieh mir ihr überzähliges Rad, mit dem ich über die Felder fuhr, Schravelen, Sonsbeck. Zu Hause war Kirmes.
Der gastgebenden Freundin, die es sich verbeten hatte, dass ich ihr wahlweise die Alben von Rosalía oder Caroline Polachek schenkte, bekam stattdessen Small Things Like These, das zwar um die Weihnachtszeit spielt, aber ich dachte, es würde ihr gefallen. Außerdem verschenkte ich zwei Mal Das Gefühl zu denken.

Wenn ich noch einmal am Niederrhein wohnen sollte, dann wahrscheinlich nicht in Kevelaer, das – außer man unterhält sich mit den richtigen Leuten – wenig Anregung bietet, sondern eher in Kleve.

Rembobinage (3)

Drei niederrheinische Einträge: Kleine Radtour (18.9.2014), An die Maas, 2007 (9.5.2015), Rheinischer Hof (19.11.2018). Die ersten beiden waren wohl zuerst bei Facebook zu lesen und liegen zeitlich vor 2013. Rheinischer Hof besteht, einschließlich der Überschrift, aus den Namen von Kevelaerer (→ Kevelaer) Hotels und Gaststätten und deren Betreiberfamilien. Kaum etwas davon hat die Zeiten überdauert. Vielleicht stehen noch die Häuser, oder die Fassaden.
Zum Goldenen Löwendas Hotel ist allerdings noch da, und ist auch nach wie vor ein Hotel, mit schönem Jugendstil-Entrée. Die eine oder andere Lesung fand dort statt, vielleicht ließe sich das wiederaufnehmen.

Kleine Radtour

Kleine Radtour zum Neuen Jahr. Ich kam mir vor wie in einem holländischen Landschaftsgemälde des 17. Jahrhunderts, die schönen Wolken, das Licht zwischen Gelb und Braun, die Gänse mit ihrem Ruf, in Schürhakenformation. Später die Biogasanlage des Barons, die B9 (schwach befahren). Modder. Am Wegrand ein Raubvogel höhlte eine Taubenbrust aus, flog auf. Kurz daneben gefedertes Gras. Matsch. Wiesen, wassersatt.

An die Maas, 2007

Ausflug an die Maas, südwestlich von Well. Spaziergang im scharfen Wind. Der Acker flussnah, Trecker sind darüber gefahren. Vorbeituckernde Schiffe, Schubkähne, alle getauft, alle ungläubig.
Apfelkuchen → appelvlaai.
Provinz Limburg, Tante Jet. Ausgeschildert ab Blitterswijk.

Rheinischer Hof

Zum Goldenen Löwen
Zum Schwarzen Pferd
Zum Schwarzen Raben
Zum Blumenkranz

Zum Tannenbaum
(Linden- Palm-)
Zu den drei Hufeisen
Zu den drei Scheren

St. Sebastianus (Geschw. Schülter)
St. Augustinus (Therese Mürtz)

Janssen
Verhasselt
Pesch
Voss

Zur Goldenen Kugel
Zum Goldenen Faß

Kästchen des Geistes

„da dachte ich, schlicht und streng anzufangen so: sie rief ihn an, innezuhalten mit einem Satzzeichen, und dann wie selbstverständlich hinzuzufügen: […]”
(Uwe Johnson, Das dritte Buch über Achim (1961), erster Satz.)
Aber es war gar kein Anruf, sondern eine Nachricht über Signal, in der meine baden-württembergische Freundin fragte, ob ich mir vorstellen könne, den Monat in Montpellier mit ihr zu verbringen.
Das verändert die Sache.
Wäre ich allein gereist, hätte ich halb gearbeitet, und halb Ferien gemacht, so aber erscheint mir Arbeiten unhöflich.
„Ich werde mich opfern”, sagte ich spaßeshalber zu Sylvie, auf Deutsch, weil mir das französische Wort für opfern nicht einfiel. Sie tippte den Satz in die Übersetzungsmaschine und lachte: Je vais me sacrifier.
Der Nachteil ist, dass ich dann voraussichtlich mehr Deutsch als Französisch sprechen werde, aber wer weiß. Ebensogut ist möglich, dass ich mehr in Kontakt mit Leuten komme als es sonst der Fall gewesen wäre. Ich vertraue jedenfalls darauf, dass mich die Reise sprachlich voranbringen wird. Vor allem darf ich nicht vergessen, mengenweise Walnüsse, Haselnüsse und Mandeln zu essen, als Nervennahrung (brain food), denn meine Freundin hat einen sehr hohen IQ – als Jugendliche war sie auf einer Hochbegabtenschule -, und ich will ihr einigermaßen folgen können.

Ein Buch von Stéphane Mallarmé ist angekommen, das ich vor mehr als einem Jahr bestellt hatte – ein Nachruf (in Form eines Vortrags) auf seinen Kollegen Villiers de l’Isle-Adam.
Übersetzt hat das Bändchen Ronald Voullié. Ob es die Vorahnung des eigenen Todes war, dass er sein Nachwort mit den (angeblich) letzten Worten Villiers‘ abschließt?
„Nun gut, ich werde mich an diesen Planeten erinnern.”
Der Titel dieses Beitrags ist einigermaßen wahllos dem Buch entnommen.

everwave hat ein Projekt in Kambodscha gestartet und eine kleine Videoreihe in Fortsetzung bei YouTube gepostet. Ich schätze ihre konkrete Art, die Welt zu einem besseren Ort zu machen. Die Aufgabe ist unermesslich.

Da ich inzwischen wieder in Kevelaer gewesen bin (im März), kann ich sagen, dass sich die Neugestaltung des Kapellenplatzes weitaus positiver anlässt als ich befürchtet hatte. Die Pflasterung scheint nicht großartig anders zu sein als vorher, und auch die meisten Bäume standen noch und waren mit Latten vor Beschädigung durch Baumaschinen geschützt, was ja wohl bedeutet, dass sie stehenbleiben werden.
Das Gehäuse des aufgegebenen Hotels Zum Goldenen Apfel sah so schmuck aus wie ehedem, und die Eisdiele (Europa Eiscafé), so wurde gemunkelt, soll nächstes Jahr wiederauferstehen, weil sich die pensionierte Besitzerin in Italien langweilt. Das höre ich gern.

Bewölkt

„Guten Tag! Bevor hier Bomben fallen, hätte ich gern noch einen Haarschnitt. Passt Samstag? Grüße! Ohren steif halten!”
„Hallöle … Samstag arbeite ich nicht mehr ! Nächste Woche ab Mittwoch wäre cool, bin noch unterwegs !”

Friseurtermine werden heute über Signal klargemacht.

Mir sind die französischen Ausrufungszeichen aufgefallen, mit der Leerstelle davor, dabei ist sie eine Berliner Pflanze –

Am Toreingang seitlich eine blitzneue Klingel, vom übrigen Klingelfeld etwas abgesetzt: Yvette. Ich schellte, die Tür ging auf. Yvette lenkte mich durch den leergeräumten Salon in einen rückwärtigen Raum, ihren auf zwei Frisierplätze verkleinerten Laden. Ein wandgroßes Farbfoto (Wald), zwei rosa Waschbecken, Haarschneidebesteck, Capes. Den Mantel hängte ich an der Garderobe im Durchgang auf. Keine Haftung, aber außer einem Grüppchen Nachbarn, die auf einer Seite des Vorderzimmers in einem tischlosen Kreis saßen und miteinander plauderten und flachsten, war niemand da und kam keiner rein, war ja auch schon sieben. Der Cut wie immer tadellos, die politischen Ansichten beherzt („an die Wand stellen”, „Dritter Weltkrieg”, die Sorge, andere Länder könnten im Schatten der Schweinerei eigene Schweinereien veranstalten). Ich zahlte fünfzehn Euro und gab ihr erst den Zehn-Euro-Schein, zwinkernd: stimmt so. Sie verabschiedete sich, nahm Bestellungen für den Pizzaservice auf.
Ich gehe seit Jahren zu Yvette, auch wenn ich längst nicht mehr in Moabit wohne.
Ich bin eine treue Tomate.

Der russische Überfall auf die Ukraine am 24. Februar – wohin soll, wohin wird das führen? Unstrittig scheint mir, dass ‚der Westen‘ auf diesen Angriff reagieren muss. Wie eine ‚richtige‘ Reaktion auszusehen hätte, lässt sich vermutlich nicht beantworten. Jede Bewegung wird falsch sein. Es ist immer gefährlich, wenn der Gegner eine narzisstische Persönlichkeit ist (erweiterter Selbstmord nicht ausgeschlossen; bei den anzusetzenden Opferverhältnissen eine unzulängliche Formulierung). Das Beste schiene mir, wenn sich im Land selbst eine Opposition bilden würde: Die Friedensdemonstrationen mit Zehntausenden von Teilnehmern – man wünschte sie sich auch in Sankt Petersburg und Moskau. Aber wegen Androhung und Durchsetzung von Geld- oder Gefängnisstrafen verstehe ich, dass der Protest nicht so stark ist wie bei uns, die wir im Warmen sitzen. Außerdem, verlässliche Informationskanäle wurden gekappt. (Die irregeleiteten Schafsköpfe, die hierzulande über die sogenannten ‚Mainstreammedien‘ quengeln – neben all dem anderen, das sie benörgeln und anfeinden -, könnten ihre Aufmerksamkeit einmal auf die Situation in Russland richten, es wäre sicher eine erhellende Erfahrung.)
Wenn die russische Zivilgesellschaft gestärkt werden kann, sollte dies versucht werden.
Ich wäre auch für einen sofortigen Stop der Öl- und Gasimporte aus Russland, auch wenn das für Deutschland rumpelig werden dürfte. Mit den Einnahmen aus fossilen Energien wird russisches Kriegsgerät finanziert – wer kann das wollen?

Die Entscheidung der Bundesregierung, 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr bereitzustellen, finde ich übrigens richtig. (Ob die Summe gut gewählt ist, kann ich nicht beurteilen.) Wenn sich Deutschland eine Armee hält, sollte sie auch funktionieren.
Ich erinnere allerdings an die Berateraffäre aus Zeiten von Ursula von der Leyen (die auch in ihrem neuen Amt ihre Handydaten löscht, sicher ist sicher).
Wenn Geld fließt, dann muss es eine starke Finanzkontrolle geben. Halsabschneider wie damals Katrin Suder oder Timo Noetzel, die auf Staatskosten Geld scheffeln – und deren Raffgier straflos bleibt -, dürfen keinen Fuß in die Tür kriegen. Auch wundersame Kostenexplosionen (Sanierung der Gorch Fock: aus den veranschlagten 10 Millionen Euro wurden 135 Millionen Euro) müssten ausgeschlossen werden.
Sollte dies nicht gewährleistet werden können, kann man sich das Sondervermögen (die Sonderschulden) sparen.
100 Milliarden für Bildung würde ich ebenfalls befürworten, aber davon ist – noch – keine Rede. Kommt vielleicht noch.

Eine positive Nachricht von heute:

In Deutschland wird gerade eine großangelegte Hilfsaktion für die Menschen in der Ukraine vorbereitet. Laut Bundesverkehrsminister Wissing ist eine so genannte „Schienenbrücke” geplant. Zur Zeit sammele die Deutsche Bahn im ganzen Land Hilfsgüter bei Herstellern und Großhändlern. Die gesammelte Ware werde zu Containerzügen zusammengestellt, die dann in die Ukraine fahren sollen, sagte Wissing der Bild am Sonntag.

rbb info

Letzten Sonntag war ich auf der großen Friedensdemonstration auf der Straße des 17. Juni, habe auch Geld gespendet (nächsten Monat wieder). Heute mache ich nichts, aber nächste, spätestens übernächste Woche nehme ich wahrscheinlich das Angebot meiner Firma wahr, mir ein paar Stunden für soziale Arbeit freizunehmen.

Wie Berliner den Ukrainern helfen können – und was jetzt sinnvoll ist (Der Tagesspiegel, 5.3.2022)

Bald machen wir ein Familientreffen, das erste seit – schätzungsweise – fünf Jahren.
„Norden Süden Westen, zu Hause ist am besten” lautete die betreffende Einladung, die mein Arztbruder herumgeschickt hatte. Ich freue mich, meine Geschwister (nicht alle zehn kommen, aber acht immerhin, einer guckt zu), Neffen und Nichten wiederzusehen – eher eine Seltenheit. Auch Freundinnen und Freunde werde ich treffen, worauf ich mich ebenfalls freue.
Anreise mit dem Zug.
Bei Café Nederkorn am Kapellenplatz in Kevelaer habe ich eine Schwedische Apfeltorte bestellt, die werde ich spendieren, vielleicht auch eine Flasche Fernet-Branca. Meine Brüder trinken eher (wenn Kräuterlikör) Ramazzotti, nicht so mein Geschmack. Fernet-Branca kann man natürlich auch nicht trinken, es sei denn gemischt mit Pampelmusensaft.
Ich fürchte mich ein bisschen davor zu sehen, wie der Kapellenplatz jetzt aussieht. Das alte Kopfsteinpflaster sollte, als ich das letzte Mal zu Besuch war, teilweise entfernt und durch ein rollatorfreundlicheres Material ersetzt werden, auch Linden waren zum Fällen freigegeben worden. Das Eiscafé Europa, in das ich schon als Schüler ging, hat nach Jahrzehnten dauerhaft geschlossen, ebenso das Hotel Zum Goldenen Apfel mit seiner (hoffe ich doch!?) denkmalgeschützten Fassade. Hinter der Fassade wird es sicher brachial umgebaut … Immerhin wird es nicht für einen Tennisplatz abgerissen (nicht nur auf geopolitischem, auch auf architektonischem Gebiet sind Verbrechen zu beklagen). Es kann eigentlich nur ein schrecklicher Anblick sein. Hoffentlich vertreibt es nicht die Dohlen.

PS: Das Video von Kimbra habe ich nachträglich eingefügt. (Einem Kommentar zufolge wurde es in Oaxaca, Mexiko, aufgenommen.) „Woke up in a decent mood, I don’t want to hear the news, turn the volume down. Don’t know if it’s even true, there’s nothing I can do, so turn the volume down” … passt doch ganz gut. Abgesehen von der schönen Melodie, der paradiesischen Landschaft und der erfreulichen Idee von Sommer, die sie transportiert – die Temperatur in Berlin liegt knapp über dem Gefrierpunkt -, finde ich die Schlichtheit des Videos bemerkenswert. Der Kameramann sagt Action, Kimbra sammelt sich einen Moment und fängt an zu singen (den Text hat sie ausgedruckt neben ihrem linken Fuß, schätze ich, das ist okay). Das Mikrophon zweifellos das beste und teuerste, wie es einer professionellen Musikerin angemessen ist, die irgendwann in diesem Jahr ihr viertes Album herausbringen wird. Kimbra ist erst 31 … Die Kleidung, ein weißer Bodysuit, minimalistisch, aber nicht indezent. Unschuld, Schönheit, Verletzlichkeit, Trauer – dies drückt das Video für mich aus. Zum Schluss holt Kimbra tief Luft, als Antwort schüttelt ein Windzug das Grün, dann blickt sie stumm und ohne einen Mucks in die Kamera.

Wenn es dem Esel zu wohl wird, geht er aufs Eis

Vor kurzem war ich mal wieder in Kevelaer. Die Hälfte der Hauptstraße war aufgerissen, die Leute mussten im Zickzack laufen, oder es aufgeben.
Bäume sollen gefällt werden.
Den Kapellenplatz stelle ich mir unverändert vor seit hundertfünfzig Jahren – jetzt soll alles schöner werden, es ist Geld da, und mehr Geld ist vielleicht versprochen. Na, und wenn die Kasse stimmt, gibt’s auch kein Problem, seine Heimat zu planieren.
Als sich die Stadt den Slogan „Unverwechselbar Kevelaer” zulegte, fing sie an, austauschbar zu werden. Man sieht die Ladenketten, die es überall gibt, viel Leerstand auch. Das Kunsthandwerk, für das die Stadt einmal bekannt war, ist weitgehend verschwunden.
Hat der Bürgermeister eine Idee, wie der Niedergang aufgehalten werden kann? Wohl nicht.
Hat der neue Pfarrer von Sankt Marien eine Idee, wie der Niedergang aufgehalten werden kann? Wohl nicht.
Gibt es gute Konzepte?
Man muss die Rechnung natürlich mit den Ladeneigentümern machen.
Was unternimmt man gegen Habgier?
Von besserer Einsicht und Lokalstolz ließe sich immerhin phantasieren. Und so würde ich mir wünschen, die Eigentümer vor allem auf der Hauptstraße würden ihre Mietverträge mit Apollo Optik, Bonita, Nanu Nana usw. nicht verlängern und stattdessen in der Region, auch in den Niederlanden, Belgien und Luxemburg, gezielt nach Handwerkern, Kunsthandwerkern, Künstlern (ich rede nicht von dem Schund, den man hier und dort sieht), Musikern usw. Ausschau halten und ihnen diese Räume für ein realistisches Entgelt – das natürlich weit unterhalb der jetzigen Rendite liegen würde, aber was soll’s! Sie haben sich ja schon zu Zeiten Dechant Oomens amortisiert! … – zur Verfügung zu stellen.
So könnte Kevelaer der Tristesse und Ödnis des überall Gleichen trotzen.
Und ein paar Lokalitäten, die Kevelaer besonders machen, gibt es ja: Das Hotel Goldener Löwe, das Hotel Zum goldenen Apfel, Weinhandlung und Antiquitätengeschäft Nießen, Restaurator Egbert Grofe, Silberschmiedewerkstatt Antje Witzler, Töpferei Dahmen-Wassenberg, Ikonengalerie Stefka Michel … Da würde ich ansetzen.