Geballte Zerbrechlichkeit

Nachdem ich mich – mit Unterbrechungen – einige Monate mit einer Kritik zu meine Faust beschäftigt habe, ist es mir doch nicht gelungen, sie zu einem überzeugenden Abschluss zu bringen, tant pis. Darum hier, damit nicht alles für die Katz ist, wenigstens der Text-Rohbau. – Meinolf Reul

Geballte Zerbrechlichkeit. Neue Gedichte von Sibylla Vričić Hausmann

Der im vergangenen Dezember überraschend verstorbene Kritiker Michael Braun zeigte sich in einem postum ausgestrahlten Lyrikgespräch mit Christian Metz und Insa Wilke „erstaunt“ über Sibylla Vričić Hausmanns neue Texte. Vorher hatte sie doch (unter anderem) Liebesgedichte geschrieben – wo kam jetzt die Wut her? So ungefähr ließ sich da heraushören.
Staunen ist eine positive Lesereaktion: die Augen gehen auf.
Was gibt es also zu sehen? Was steht auf dem Papier, und wie ist es arrangiert?

[Erster Teil]

das Licht der Welt. Leicht, licht, geht es los mit drei Gedichten, versuchsweise Geburtsmythen, unbeschwert im Satz, inhaltlich belastet.
Die „Mütter“, die strengen, scheinen mit ihrem Kind zu fremdeln, schämen sich gar für es. „ich wurde einmal geboren.“ Auf die affirmative Aussage folgt ein „doch“. Es gibt Bedingungen, Bedenken („nicht schön genug für die Liebe“). Zur Welt kommen ist nicht romantisch. Das Wort „Veilchen“ fällt, in Anführungszeichen – keine (blaue) Blume, sondern Zeichen der Verletzlichkeit, auch der Gewalt(erfahrung). Der letzte Vers: „[…] nichts setzte sich nieder auf meinen Fuß“ betont dennoch die Unbeschwertheit des jungen Lebens, ohne die Lesart der Isolation auszuschließen.

Schwerkraft. Ein einzelnes Gedicht, wie eine Antithese zum Anfang. Dort das Licht der Welt, aber auch: das Aufhellen der Welt; hier ihre Schattenseiten, ihre Dunkelheit, ihr Gewicht. Formal eine Montage, mit Fremdtext („Material“) u.a. von Mechthild von Magdeburg, Sigmund Freud, Dagmara Kraus.

aufstehen, wandeln. Verse wie „ich war vierzehn Jahre und schlief viel“, oder „ich führte Buch bis Ostern“, wie auch die verwendete Zeitform (Präteritum), verleiten dazu, nach einem Erzählinhalt zu suchen. Der rote Faden ist aber zerflüsert worden – Flusen, die Sibylla Vričić Hausmann, mit anderen Zutaten, zu kompakt gesetzten Gedichten formt; das letzte, fünfte, in dieser Reihe, endet auf den Vers: „verschloss ich mich Reinem“. Von „Narzissen“ ist die Rede, ihrem „Blick“ – das spielt auf den Mythos von Narziss an, und weist zugleich auf das Motto des Kapitels, das dem Comic Im Spiegelsaal von Liv Strömquist entnommen ist, in dem diese sich mit der unendlichen Selbstbespiegelung der Instagram-User beschäftigt, die sich an ihren prominenten Idolen abarbeiten.

whatever sagen die Mütter sieht auf den ersten Blick wie eine (kurze) Playlist aus, jedenfalls sind die einzelnen Gedichte nach den Namen von Popgrößen benannt.
Schwangerschaft scheint ein übergreifendes Thema zu sein – vielleicht ist Musikhören eins der wenigen Dinge, die in dieser Zeit möglich sind. Die besagten Mütter erteilen Ratschläge (auf der linken Seite liegen), haben Weisheiten parat (es kommt, wie es kommt), und der Sprössling macht sich bemerkbar („wenn er sich umdrehen will / muss er mich treten“): auch eine Art Wut im Bauch, Zeichen von Vitalität.
Nichts will sich zueinander fügen. Das Ich lebt in einer Abfolge unverbundener Tage, die nur der Schlaf notdürftig eint. Es erfährt sich als fremd, entwickelt mit zunehmender Erdenschwere aber auch ein Gespür für Verbundenheit – mit der Buche, oder mit den Tauben: „u. die Tauben mit ihren tiefen Stimmen sind Freundinnen, kommen geflogen / setzen sich nieder auf meinen Fuß.“ Dies korrespondiert mit dem oben zitierten Schluss des ersten Kapitels („nichts setzte sich nieder auf meinen Fuß“). Zur-Welt-Bringen: Zur-Welt-Kommen.

Für Meere sind Wüsten, Wüsten Meere wählt Sibylla Vričić Hausmann wieder eine andere Form, eine durchgehend von eins bis sechsundzwanzig numerierte Folge kleiner Textscherben.
Das Staunen über das kleine Wesen, das nun geboren ist („ein Erdzauber zog dich ans Taglicht“, „das wacklichte Körperchen –“) und den häuslichen Alltag bestimmt, wie auch die Sicht darauf („der Tag zahnt“), ergeben eine lose thematische Bindung. Das ist sehr fein gemacht, wirkt dabei bestimmt und konzentriert.

goldene Blumen, vier kurze Stücke lyrisch-essayistischer Prosa, deren zweites in einen Dialog mit einem Gedicht Paul Celans tritt, „Für Eric“, aus dem postum erschienenen Gedichtband Schneepart (1971). Die ungewöhnliche Wendung „meine mit dir pfeilende / Hand“ deutet die Autorin – anlässlich der Erstveröffentlichung dieses Textes auf dem Blog Other Writers Need to Concentrate. Über Autor*innenschaft und Elternschaft – im Sinne einer Aggression (während eine Fußnote in der Tübinger Celan- Ausgabe lediglich anmerkt: „Celans Sternbild ist der Schütze, worauf gelegentlich Gedichte anspielen“).
Ihre „(meine mit dir seiende Hand)“ überschriebene Replik setzt ein Zärtlichkeitsprogramm dagegen; liebevoll wird das Kind angesprochen, mit freundlicher Neugier befragt, gehegt („decke dich mit fleischiger Mutterhand zu“).
Eine so gewöhnliche Mitteilung wie „Dein Vater ist rauchen“ vervollständigt das Idyll, das aber erarbeitet ist, wie der letzte Text dieses Kapitels verrät, der die eigenen Kindern als „Wunde“ und „einzige Heilung“ apostrophiert.

[Zweiter Teil]

Zinken. Die titelgebenden Zinken sind sogenannte Gaunerzinken („Fromm tun lohnt sich; Vorsicht, bissiger Hund)“, die das Ich „in geträumten Städten“ auf Mauern schreibt. Man kann auch an gezinkte Karten denken, an ein falsches Spiel. Ansprüche werden formuliert, Erwartungen: „wir sollen“ dies, „wir sollen“ das, die nur zu Enttäuschungen führen. Dagegen stehen ein Nicht-Können („das // ist die Schale die ich nicht knacken kann“) oder Nicht-Wollen („ich lehne das ab“). – Worte des Gefangenseins („es gibt kein Entkommen“), und die Überzeugung: „ein sich langsam erweiternder Wortschatz schlösse mich ein in den Masterplan“.

Die Gedichte in vom Ende her gedacht beginnen jeweils mit dem ursprünglichen, nachfolgend abgewandelten Vers: „sehr geehrter Herr, bitte freundlichst um Aufnahme“ (im Original kursiv). Der Halbsatz „bitte freundlichst um Aufnahme“ bleibt im Wortlaut fix, verändert aber unter dem Vorzeichen wechselnder Anreden – „sehr sehr Geehrter“, „sehr sehr Verehrter“, „verehrtester Herr“, „verhärteter Herr“, „härtester Herrscher“ – seinen konnotativen Wert: geht er anfangs glatt als höflich formulierte Bitte durch, ist er am Ende der Entwicklung voller Ingrimm und Wut – mutmaßlich, denn die Temperatur der einzelnen Gedichte unterscheidet sich äußerlich nicht sehr voneinander. Die Botschaft scheint gleichwohl klar: „verweigere die Milde, ver- / weigere das Lächeln, notfalls mit Waffengewalt.“ So heißt es im letzten, sechsten, Gedicht. Die Selbstertüchtigung, die das vorige „ich habe mich im Ertragen geübt“ endgültig ablegt, verweist zurück auf das erste Gedicht des Zyklus‘: „meine Faust (mein Messer in der Tasche) geht auf.“

vor dem Regenfall, drei Gedichte zur Nacht.

Das neunteilige Manifest des weichen Steins, der umfangreichste Zyklus des Bands, ist eine Art Porträt. Erzählt wird – man könnte es beinahe so sagen – von einem Mann, der sein Geld mit Computer-Arbeit verdient, der Geige spielt, schlecht sieht und eine andere Sprache spricht als das „ich“, das im zweiten und dritten Gedicht hinzukommt und mit ihm ein „wir“ bildet. Die Sprachbarriere ist kein ernstes Hindernis, „wir hatten nicht die gleiche Sprache. doch fanden wir Worte / wie Pilze. so oft wir sie pflückten, es wuchsen uns neue. das waren die guten frühen Tage“. Das ist in seinem beglückenden Vertrauen(können) auf Verständigung denkbar weit entfernt von dem fundamentalen Sprachzweifel in Hofmannsthals Chandos-Brief („die abstrakten Worte […] zerfielen mir im Mund wie modrige Pilze“, 1902), der einem in den Sinn kommen mag.
Nur vier der neun Gedichte tragen eine Überschrift, die übrigen werden fortlaufend gezählt: „Geläut“, „(als ich ihn kannte)“, „2“, „3“, „(das Hasenmotiv)“, „5“, „(ein Mond Trost)“, „7“, „8“.
Die unerwartete Ziffer „2“ für das dritte Gedicht zeigt an, dass „Geläut“ als Vorrede zu verstehen und nicht mitzuzählen ist.
Welcher Art mag dies „Geläut“ sein?
Von „toter Freude“, „Angst“, von unruhigem Schlaf ist die Rede. „Alleinsein will geübt sein, Einsamkeit / gezähmt und gehegt, bis sie wie eine Katze nie harmlos deine Füße umschnurrt –“, heißt es, und ein paar Seiten später noch einmal: „Alleinsein / will gut geübt sein.“
Aus den Gedichten spricht Wärme, auch Wehmut, ein Wissen um Unentrinnbarkeit oder Unwiderruflichkeit vielleicht.
Die Fügung „weicher Stein“ variiert das Motiv von Zartheit und Härte. Für sich betrachtet ein Oxymoron, kann sie in Verbindung mit dem Vers „er nimmt / seine Geige, er pflegt den Bogen mit dem roten Stein, streicht mit ihm über das Rosshaar“ ebenso beschreibend sein, denn das steinförmige, aus Baumharz gewonnene, Kolophonium ist in der Tat ‚weich‘ und leicht.

Der Essay wo ist deine Wut? führt alle Themen des Bandes zusammen.

Drinnies – Privatbezeichnung für die noch ungeborenen Kinder im Mutterleib –, ein Nachklapp in zwei Gedichten.
„(der Eingeborenen-Sohn)“ greift den eigentümlichen Ausdruck aus dem Apostolischen Glaubensbekenntnis auf, der sich vereinfacht als „einziger Sohn“ wiedergeben ließe.
Ist es ein religiöses Gedicht? Schwerlich. Doch es spielt mit christlichen Versatzstücken, zieht nur allen Weihrauch davon ab, was komisch ist, und erhellend: „Anbiederung misslingt Jesus / er riecht an Stoffen.“
Er ist kein Superheld. Ein „Defekt“ wird ihm (seinem Körper) attestiert; er möchte „einzeln“ sein. – Sibylla Vričić Hausmann skizziert Jesus als schwierigen Patron: „er ist defizitär, wenn er wach ist. nicht nur / wenn er wach ist“, und kommt zum Schluss: „er braucht Poesie“. Die Liebe der Mutter hingegen scheint nicht so wichtig, er bedeutet ihr geradezu: „don’t touch me“.
„(am drinnsten ist man im Mutterleib, am dringendsten Mensch)“, das Schlussgedicht von meine Faust, nimmt den Faden der geburtsmythischen Gedichte des Anfangs wieder auf:
„neun Monate vor seiner Geburt / träumten ihn die Mütter als weißen Elefanten“. Es folgt eine schamlose Beschreibung des Säuglings („mächtig waren die Ohrmuscheln“). Die Schlussverse surreal: „erst später wurde er durch einen Fußabdruck / einen leeren Stuhl, ein herrenloses Pferd / oder einen Regenschirm dargestellt“.

„ach Lyrik, Genre des Scheiterns“ lautet ein Seufzer am Ende des Buchs. – Ist das so? Noch das zarteste denkbare Gedicht ist ja eines, das sich durchgeboxt hat, das der Verlockung des Schweigens widersagt, den Zudringlichkeiten des Alltagslebens getrotzt hat, das wirklich geschrieben wurde und durch die Schleuse der Selbstkritik gegangen ist. Nun behauptet es seinen Platz im Buch: Man würde es zäh nennen, widerständig. Und das ist doch allemal ein Erfolg.

Sibylla Vričić Hausmann, meine Faust. [ά-bet/Gebet (das Licht der Welt – Schwerkraft – aufstehen, wandeln – whatever sagen die Mütter – Meere sind Wüsten, Wüsten Meere – goldene Blumen), ω-myth/Komet (Zinken – vom Ende her gedacht – vor dem Regenfall – Manifest des weichen Steins – wo ist deine Wut? – Drinnies). Gedichte. 80 Seiten, gebunden. kookbooks, Berlin 2022. 24,00 Euro

Sibylla Vričić Hausmann, 3 FALTER. Gedichte. 96 Seiten, gebunden. Poetenladen, Leipzig 2018. 18,80 Euro

Weiter im Text:

Uljana Wolf, Sibylla Vričić Hausmann | 3 falter (Lyrik-Empfehlungen 2019)

Marie Luise Knott, Sibylla Vričić Hausmann | meine Faust (Lyrik-Empfehlungen 2023)

Lyrikgespräch Sibylla Vričić Hausmann und Samuel Taylor Coleridge. Mit Insa Wilke, Michael Braun und Christian Metz (Deutschlandfunk, 25.10.2022)

Sibylla Vričić Hausmann gründete zusammen mit Özlem Özgül Dündar die unabhängige Lesereihe Zürn (2022, Premiere in diesem April), sowie, mit Katharina Bendixen und David Blum, das Weblog und Netzwerk Other Writers Need to Concentrate. Über Autor*innenschaft und Elternschaft (2020).

Katharina Hacker Über Leben mit Tier

Katharina Hackers Büchlein Über Leben mit Tier (Tier auch als Anrede zu verstehen), das von Tieren handelt, ist humaner als manches Menschen-Buch. Es schließt eigensinnig an die Tradition der französischen Moralisten des 17. und 18. Jahrhunderts an – jener aufgeklärten Epoche, als dem Philosophen René Descartes Tiere als Automaten galten -, ohne doch nur ein Mal den sprichwörtlichen moralischen Zeigefinger zu heben.
Übrigens hat das Buch keine Paginierung, das heißt man darf es auf jeder Seite aufschlagen und zu lesen anfangen wo man will (hier eine Leseprobe).
Die Leserïnnen bewegen sich gewissermaßen hundig durch die Seiten, immer der Nase nach. Jedes Blatt ist interessant und anziehend. Und man ’nimmt was mit‘ von seinen Streunereien, oder trägt was heim, ein Bedenkknöchelchen zum Nagen, als Morgengabe für Kopf und Herz.

Katharina Hacker, Über Leben mit Tier. Ohne Paginierung [112 Seiten], flexibler Leinenband. Berenberg Verlag, Berlin 2023. 20,00 Euro.

In gleicher Ausstattung:

Katharina Hacker, Darf ich dir das Sie anbieten?

Kävele Wetten Wemb en Kleef

Mit Sommersprossen auf der Nase bin ich von meinem einwöchigen Ausflug zum Niederrhein zurückgekehrt. Für die ersten beiden Übernachtungen bin ich im World House Wetten untergekommen (ein ehemaliges Kloster der Dominikanerinnen. „Als das Kloster im März 2004 geschlossen wurde, lebten in dem Haus noch elf Schwestern. Einige waren als Erzieherinnen im Kindergarten tätig, andere in der Krankenpflege, zum Beispiel Schwester Martha”, heißt es in einem Artikel der Rheinischen Post von vor dreizehn Jahren), danach konnte ich im Gästezimmer einer Freundin bleiben, in Weihrauch City, wie zu meiner Zeit die Schüler sagten, nicht alle.
Den Weg vom Bahnhof Kevelaer zu meiner ersten Bleibe habe ich bei sonnigem Wetter zu Fuß zurückgelegt, da wochenends keine Busse fahren, oder nur bis samstags mittags, da war ich zu spät. Irgendwann stoppte ein Auto neben mir, dessen Fahrerin sich aus dem heruntergekurbelten Fenster heraus mit Namen vorstellte; sie erbot sich, mich zu fahren: sie hatte mich im Vorbeifahren als Mitglied der Großfamilie identifiziert, der ich in der Tat entstamme.
Das World House (warum der englische Name? Die Eigentümerin ist Niederländerin, da hätte Wereldhuis doch besser gepasst) ist schön gelegen, ich fand allerdings die Gärten und Wiesen rundherum einladender als das Gebäude selbst, wo ich Montag als einziger Gast bei einem üppigen Frühstück saß.

Im großen und ganzen habe ich alles gemacht, was ich mir vorgestellt hatte: Ich traf zwei meiner drei niederrheinischen Brüders (der dritte fuhr gerade nach Berlin), den Freund und die Freundinnen vom Lesekränzchen, die Steinbildhauerin mit ihren Männern (Ex- und neu, aber neu ist auch schon alt), meinen ältesten Freund – wir kennen uns seit 1979, schätzungsweise -, der Lehrer für Erdkunde und Musik ist. Ich hab Schwedische Apfeltorte bei Nederkorn gegessen, Eis bei Europa (seit 1974, jetzt in dritter Generation, INH. LUCA GAVAZ), Pfannkuchen bei Hollandia, und im Teefreund Tee getrunken, mit Scones, klar, das meiste in Gesellschaft. (Der Teefreund ist schwanger und sucht eine Nachfolge.)
Bei der Töpferin las ich die Todesanzeigen, darunter eine von einem, der genau am selben Tag geboren wurde wie ich, war aber wer anders. Wie in alten Zeiten machte sie Cappuccino, streute Zimt über die zart knisternde Milchschaumhaube. Auf die Bank setzten wir uns so, dass das durch die Planken rankende Pflänzchen nicht zerdrückt wurde. Neben der Terrassentür brütete eine Amsel, über dem Vogelhaus.
Eine Freundin lieh mir ihr überzähliges Rad, mit dem ich über die Felder fuhr, Schravelen, Sonsbeck. Zu Hause war Kirmes.
Der gastgebenden Freundin, die es sich verbeten hatte, dass ich ihr wahlweise die Alben von Rosalía oder Caroline Polachek schenkte, bekam stattdessen Small Things Like These, das zwar um die Weihnachtszeit spielt, aber ich dachte, es würde ihr gefallen. Außerdem verschenkte ich zwei Mal Das Gefühl zu denken.

Wenn ich noch einmal am Niederrhein wohnen sollte, dann wahrscheinlich nicht in Kevelaer, das – außer man unterhält sich mit den richtigen Leuten – wenig Anregung bietet, sondern eher in Kleve.

System Malfunction: Brainwash Incomplete

Gestern wurde ein neues Video von Salami Rose Joe Louis (alias Lindsay Olsen) veröffentlicht (die Überschrift ist ein Zitat daraus) – eine Künstlerin, die vermutlich keinen besonderen Wert darauf legt, groß herauszukommen, jedenfalls hat sie für ihr demnächst [am 19.5.] erscheinendes neues Album einen griechischen Titel gewählt: Akousmatikous.
(Mehr zum Song, auf Englisch, bei Broadway World → hier)

Sirrende Atmo. Bei Minute 1:12 setzt der Gesang ein:

For the plants to grow (5x) / Oh my child / We started losing / When we took / More than we need / Now we frantically / Approach catastrophe / Society is broken / I miss the sugar coating / Now we’re coated / In a veil of agency / Like we have a say, / When all of our fate / Belongs to a few / Unstable guys / With access to our lives // We started losing / Access to our lives / We took more / Than we need // For the plants to grow (x-mal) // [Bildschirm] Brain wave conditioning initiated / ! System ! Malfunction Brainwash Incomplete // [Credits]

Die Musik würde ich als Elektropop beschreiben, die Spielart, die auf einen weiten Hörhorizont schließen lässt.

YouTube wird Salami Rose Joe Louis keinen Cent zahlen. Auch darum habe ich den heutigen Bandcamp Friday – am ersten Freitag im Monat gibt Bandcamp den vollen Erlös seiner Verkäufe an die Musiker weiter – dazu genutzt, Akousmatikous vorzubestellen, bin also entschuldigt, schätze ich.

Auch von Julia Holter gibt es Neues, ein langsames, meditatives, über sechsminütiges Stück mit dem Titel And now even a flower.
Die Einnahmen gehen in diesem Fall nicht in erster Linie an sie, sondern an EarthPercent:
„EarthPercent is a charity providing a simple way for the music industry to support the most impactful organisations addressing the climate emergency.”
Der prominente Stifter von EarthPercent ist Brian Eno.

Salami Rose Joe Louis

Neulich las ich in den Blättern (Blätter für deutsche und internationale Politik), deren schnell-sprechender und mehrfache Satzeinschübe schätzender Redakteur Albrecht von Lucke – in puncto Artikulationsrasanz der legitime Nachfolger von Dieter Thomas Heck († 2018) von der ZDF Hitparade, die ich als Kind oder Halbstarker, wie man damals vielleicht schon nicht mehr sagte (kann mich nicht erinnern), eher nicht geguckt habe, weil ich wohl ein Freund des Pop, aber nicht des Schlagers bin – regelmäßiger Interview-Gast bei Deutschlandfunk und Deutschlandfunk Kultur ist (dagegen habe ich überhaupt nichts einzuwenden, denn er ist ein heller und, doch, sympathischer Kopf, zudem mag er, scheint mir, die FDP auch nicht so dolle) mit gehobenen Augenbrauen den Beitrag

»Wir können nur noch beten«: Frankreich nach der Winterdürre

von Annika Joeres (Ausgabe April 2023).
Zitat:
Umweltminister Béchu beispielsweise forderte seine Landsleute in einem Radiointerview dazu auf, „aus der Verleugnung auszubrechen“, und Frankreich auf einen durchschnittlichen Temperaturanstieg von vier Grad vorzubereiten.
: Zitat Ende

Von meiner Konversationslehrerin Sylvie weiß ich, dass in der Bretagne keine bezahlbaren Wohnungen oder Häuser zu bekommen sind, weil die sich längst wohlhabende Pariser raubtierhaft weggeschnappt haben. Denn Paris wird unerträglich werden, und Brest geht vielleicht noch gerade.

Das macht einem keine gute Laune.

„Werden wir Technologieweltmeister”, zitiert die aktuelle wochentaz den Bundesfinanzminister, und fährt fort: „Erfindungen, die es noch nicht gibt, sollen es also richten. Darauf einen Dujardin.”

Das gesellschaftliche Ziel, alle sollten am Wohlstand teilhaben, geht auch in die falsche Richtung. Wie meine Verwandtschaft ganz richtig sagt: Es geht nicht um Wohlstand, sondern darum, ein Auskommen zu haben.

So könnte ich noch lange fortfahren.
Aber es ist wichtig, sich (auch) mit Dingen zu beschäftigen, die einem Freude bereiten.
In meinem Fall ist das beispielsweise Musik. Voilà !

Der erste Song ist von einer Musikerin, die in der Gegend um San Francisco lebt und sich Salami Rose Joe Louis nennt. Der zweite Song ist von Caroline Polachek und featured das gute alte Instrument Dudelsack.

In den Kommentaren amüsierte mich:
the bagpipe fully katebushified the track
(mit heart-eyes-emoji)
und die Erwiderung eines Users:
She hates being compared to Kate Bush
und weitere Erwiderungen anderer User:
(1) she doesn’t hate it, she finds it flattering but She finds it annoying when people says she’s the new Kate Bush.
(2) TOTALLY
(3) she said she hates it when people say she’s this generation’s Kate Bush, there’s a difference, and tbh I totally get what she means. She’s this generation’s Caroline Polachek 🙂
(4) i feel her. not every female art pop musician have to be a child of kate bush …. such an understatement of who these artists really are

Und da hat (4) sicherlich Recht.

The whimsical clouds

Die Überschrift habe ich von der Verwandtschaft geklaut, die ein eigenes Blog schreibt: Hermitologies. A navel-exploring journal by a Berliner-Canadian.
Inhaltlich und sprachlich gibt das mehr her als meine zwar ausdauernd getätigten, aber lapidaren Mitteilungen.
Schon meine kalabrische Freundin von vor zwanzig Jahren hatte beklagt, dass ich so wenig effusivo (überschwenglich) sei. Das hat sie aber nicht davon abgehalten, mir wieder zum Geburtstag zu gratulieren – eine Aufmerksamkeit, die ich Anfang August erwidern kann.

Ein Freund, den ich ebenso lange kenne wie besagte professoressa, gab mir auf meine Beobachtung, dass er seine Arbeit gewechselt habe, zurück: „Ja, das ist neu. Aber eine größere Überraschung ist, dass du bei LinkedIn bist.”

Gestern war ich im Haus für Poesie, bei einer Veranstaltung zu Sylvia Plath und Anne Sexton. Meine Eintrittskarte war die letzte noch verfügbare. Daher das Zögern in der Hand der Verkäuferin, die auch die Getränke verwaltete.
Für mich gab’s Orangensaft, für eine Freundin, die ich am Eingang getroffen hatte, Wasser.
(Sie wollte Wasser, ich hab sie gefragt.)
Später sprach ich mit der Moderatorin.
Eine Dame aus dem Publikum, mit der ich ein paar Worte wechselte, schwenkte beim Reden bedenklich ihr Weinglas. Auf dem Sofa saß niemand, mein Alarmismus war übertrieben, aber das Möbelstück als solches möchte pfleglich behandelt sein.
Der Abend war – nach dem vollen Arbeitstag – auf gute Weise fordernd, lehrreich und inspirierend.
Beide Dichterinnen habe ich noch nicht gelesen, das möchte ich bald nachholen. Und das Buch von Judith Zander ist selbstverständlich auch mal dran.
Leider gab es keinen Büchertisch.

In Tälern eng
Und schwarz wie Portemonnaies
Schimmern jetzt die Hauslichter wie Kleingeld
(Sylvia Plath, übersetzt von Judith Zander)

Ici une prestation exceptionnelle de The Voice France, die 20jährige Sängerin Clem mit dem Song Popcorn salé von Santa. Jurorin Zazie, ganz ergriffen, rennt auf die Bühne, Un câlin! Un câlin! rufend (Eine Umarmung!)
Ob’s der Katastrophenchronistin gefällt, frage ich mich?

Sylvia Plath Colossus / Der Koloss. Gedichte. Englisch und Deutsch. Übertragen von Judith Zander. 160 Seiten, gebunden. Suhrkamp Verlag, Berlin 2017. 44,00 Euro (E-Book 19,99 Euro)

Sylvia Plath Das Herz steht nicht still. Späte Gedichte 1960-1963. Zweisprachige Ausgabe. Herausgegeben, aus dem Englischen übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Judith Zander. 224 Seiten, gebunden. Suhrkamp Verlag, Berlin 2022. 25,00 Euro (E-Book 21,99 Euro)

Judith Zander im ländchen sommer im winter zur see. Gedichte. 112 Seiten, gebunden. Deutscher Taschenbuch-Verlag, München 2022. 20,00 Euro

Gedichte von Birgit Kreipe, die bei der Veranstaltung des Hauses für Poesie (einstmals Literaturwerkstatt) mit Judith Zander und Silvia Morawetz (und Beate Tröger) auf dem Podium saß, sind bei kookbooks erschienen. (Website im Aufbau)

Anne Sexton – gab’s mal bei S. Fischer, in der Übersetzung von Silvia Morawetz. Jetzt haben sie nichts mehr von Anne Sexton im Programm … aber alles von Rüdiger Safranski.
Preisfrage (1) Wer ist bedeutender?
Preisfrage (2) Wer verkauft sich besser?

Tomas Fujiwara’s 7 Poets Trio

Tomas Fujiwara, dr, comp
Tomeka Reid, vc
Patricia Brennan, vb

Und, bevor ich’s wieder vergesse: ein neues Blog ist aufgetaucht: Technologische Notate aus der Werkhalle – keine Ahnung, wer dahintersteckt, das ABOUT ME bleibt vage („nimmt notiz und notiert”) -, ist aber gut. Die Schlagzahl der Posts hat menschliches Maß und kann auch von Lesern bewältigt werden, die noch im Berufsleben stecken.

https://olgahooch.wordpress.com/

Hier ein Konzert des Tomas Fujiwara’s 7 Poets Trios aus Brooklyn, New York (da komme ich in meinem Leben vielleicht auch einmal hin), das ich mir gestern komplett angehört habe, und heute wieder.

Die aktuelle Ausgabe des Jazz Podium enthält ein Interview, das John Corbett mit Tomeka Reid geführt hat.
Von Patricia Brennan empfehle ich das Album More Touch (2022).

Tomas Fujiwara leitet auch ein Doppel-Trio namens Triple Double, das nicht minder phantastisch ist als das Trio oben (Tomas Fujiwara – Schlagzeug, Gerald Cleaver – Schlagzeug, Mary Halvorson – Gitarre, Brandon Seabrook – Gitarre, Ralph Alessi – Trompete, Taylor Ho Bynum – Kornett) →

Spätwinter

Bevor wir gestern (vorgestern) mit knapp zwanzig Leuten bei eisigen Temperaturen um den Schlachtensee spazierten – eine Kollegin, die nach sieben Jahren das Unternehmen verließ, hatte sich dies zum Abschied gewünscht: Wenn das Unternehmen zehn oder elf Jahre alt ist, dann sind sieben Jahre eine lange Zeit, und man darf sich was wünschen, und der Wunsch wird erfüllt – hatte ich Erdnüsse und Rosinen ins Vogelhäuschen gestreut und mich gefragt, ob Vögel sich untereinander helfen. Es ist doch denkbar, dass ein Vogel A einem Vogel B, von dem er weiß, dass der ein süßer Schnabel ist, zwitschert: He, du magst doch Rosinen! Da hinten! Geh mal gucken! (Und Abflug.)
Ein Kollege erzählte von einer Krähe, die ihm ständig die Balkonpflanzen zerrupfte. Eines Tages legte sie ihm (zur Begütigung, oder im Tausch) eine Wurst in den Blumenkasten.

Von links nach rechts: Tom Rainey – drums, Tomeka Reid – cello, Michael Formanek – double bass, Mazz Swift – violin, Ingrid Laubrock – tenor and soprano saxophones, Brandon Seabrook – guitar

Das Format und die Ausstattung können dazu verleiten, in Ann Cottens Die Anleitungen der Vorfahren eine Fortsetzung von Verbannt! zu vermuten. Ist aber falsch. Das neue Buch, das keine Gattungsbezeichnung trägt, bezieht sich zu großen Teilen auf einen Studienaufenthalt A.C.s auf Hawaii und enthält mindestens zur Hälfte Prosa. Sie liest sich gut, ist aber auch voller Widerhaken, weil die Autorin auf ihre eigenwillige, aus ihren früheren Büchern bekannte, Weise Pronomen und Substantive gendert, also beispielsweise nicht „sie” oder „er” schreibt, sondern „sier” (eine der leichteren Übungen), nicht „ihr oder „sein”, sondern „seihrn”, und so weiter, was im Vortrag erstaunlicherweise nicht holzig im Rachen steckt wie Spargel, sondern recht geschmeidig klingt. Dennoch sehe ich dies Verfahren skeptisch, weil dem Lesefluss laufend ein Bein gestellt wird und die Leserin mit der Nase auf die gegenderten Worte fällt, und nicht, zumindest nicht ungestört, die ganze Aufmerksamkeit den Inhalten widmen kann, die doch diese Aufmerksamkeit verdient haben und auch erfordern (nicht von Pappe!).
Gedankliche Brillanz und meschuggeness sind in Die Anleitungen der Vorfahren beide zu finden; Belesenheit, Humor, Wissbegierde, Nachdenken über koloniale Schuld, über die Größe der Natur und die Kleinheit des Menschen; zurückweichende Scheu und Hineinstürzen – eine aparte Mischung, nicht langweilig, aber schwierig. Man muss es mögen. Ich mag’s. (Aber ich hab jetzt auch nur übers Gendern geschrieben.)

Die alte Tante FPD

„O nee. Nee, Mama, nee”, hörte ich auf dem S-Bahnhof Zehlendorf ein Mädchen sagen, als sich die Türen der Stadtbahn 1 öffneten und der schmuddelige barfüßige Obdachlose ins Blickfeld kam, an seinem Hosenbund nestelnd – was ich auch noch gerade sah, bevor ich zum vorderen Wagen ging. Ich habe nicht immer die innere Stärke, mich den hässlichen Seiten der Großstadt auszusetzen. Später stolperte ein anderer Elender durch die Wagen. Nicht ohne Ekel ließ ich ein Geldstück in seine vage vorbeiziehende Hand fallen. Die meisten checken ihre Handies, haben nichts gesehen und nichts gehört, lauter Einzelne, eingesunken ins Gallert der digitalen Welt, immer saugend, und immer eingesaugt.
Nemo kreuzte auch auf und psalmodierte seinen Spruch, das war auf der Rückfahrt.
„Sehr geehrte Fahrgäste”.
Nemo ist schon okay. Wo er wohl herkommt?
„Gute Weiterfahrt! Kommen Sie gut nach Hause!” – Das sagt er zu mir, aber für den Waggon sagt er es auch noch mal.

Die [air quotes] Zukunftskoalition [air quotes] hat sich nach ihren umfänglichen Beratungen auf ein „Weiter so” verständigt. Statt eine Kindergrundsicherung einzuführen – das wäre etwas Neues gewesen-, bleibt sie beim Alten und beschäftigt sich mit dem Wesentlichen: dem Auto („der Deutschen liebstes Kind”).
Hier ein Überblick über die tollen 144 Autobahnprojekte, für deren Planungsbeschleunigung angeblich ein überragendes öffentliches Interesse besteht:

Beschleunigung Straßenprojekte (pdf)

Mehr Waldrodungen, mehr Artenvernichtung, mehr Versiegelung, mehr Gift. Aber mit dem Photovoltaik-Schmuck längs der Trassen wird sicher alles schön.

Die Süddeutsche Zeitung (der Artikel ist leider nicht frei lesbar) zitiert den Präsidenten des Deutschen Naturschutzrings, Kai Niebert, mit den Worten: „Ich träume heute Nacht davon, in meinem mit E-Fuels betankten Porsche über eine nigelnagelneue, mit Solarzellen gesäumte Autobahn zum klimaneutralen Flughafen zu fahren.”

Gestern ist bei Pyroclastic Records die neue Platte von Ingrid Laubrock erschienen, The Last Quiet Place. Anspruchsvolle, immer fesselnde, Musik ohne Kästchen und Scheuklappen. Jazz, Klassik und Rock teilen sich das Zimmer, zwischendurch wird es laut. Das Zusammenspiel dissonant (bei Bedarf), wenigstens harmonisch frei – nicht, dass Wohlklang verschmäht würde (es gibt überraschend viel davon), nur: er setzt sich nicht fest, bleibt auf der Kante. Musik zum Nägelkauen.
Das Sextett aus I.L. (Tenor- und Sopransaxophon, Komposition), Mazz Swift (Violine), Tomeka Reid (Violoncello), Brandon Seabrook (Gitarre), Michael Formanek (Kontrabass) und Tom Rainey (Schlagzeug) ist eine Ballung musikalischen Genies und technischen Könnens.