Sibylla Vričić Hausmann, Forts.

Ich seh schon, meine Follower beginnen sich zu langweilen. Darum hier ein zweiter Ausschnitt aus meiner Kritik (weiter in Arbeit) zum Gedichtband meine Faust – ein nicht leicht zu fassendes Buch.

aufstehen, wandeln. Verse wie „ich war vierzehn Jahre und schlief viel“, oder „ich führte Buch bis Ostern“, wie auch die verwendete Zeitform (Präteritum), verleiten dazu, nach einem Erzählinhalt zu suchen. Der rote Faden ist aber mit Sorgfalt zerfriemelt worden. Die Flusen hat Sibylla Vričić Hausmann – mit anderen Zutaten vermengt – zu kompakt gesetzten Gedichten zu je sechs Versen komprimiert; nur das letzte, fünfte, in dieser Reihe weist einen siebenten Vers auf, der wie folgt lautet: „verschloss ich mich Reinem“. Von „Narzissen“ ist die Rede, ihrem „Blick“ – das spielt auf den Mythos von Narziss an, und weist zugleich auf das Motto des Kapitels, das dem Comic Im Spiegelsaal von Liv Strömquist entnommen ist, in dem diese sich mit der unendlichen Selbstbespiegelung der Instagram-User beschäftigt, die sich an ihren prominenten Idolen abarbeiten.

whatever sagen die Mütter sieht auf den ersten Blick wie eine (kurze) Playlist aus, jedenfalls sind die einzelnen Gedichte nach den Namen von Popgrößen benannt, mal mehr (Yoko Ono, Elton John, Nina Simone), mal weniger prominent (Toma Zdravković, Carly Simon). Schwangerschaft scheint ein übergreifendes Thema zu sein – vielleicht ist Musikhören eins der wenigen Dinge, die in dieser Zeit möglich sind. Die besagten Mütter erteilen Ratschläge (auf der linken Seite liegen), haben Weisheiten parat (es kommt, wie es kommt), und der Sprössling macht sich bemerkbar („wenn er sich umdrehen will / muss er mich treten“): auch eine Art Wut im Bauch, Zeichen von Vitalität.
Nichts will sich zueinander fügen. Das Ich lebt in einer Abfolge unverbundener Tage, die nur der Schlaf notdürftig eint. Es erfährt sich als fremd, entwickelt mit zunehmender Erdenschwere aber auch ein Gespür für Verbundenheit – mit der Buche, oder mit den Tauben: „u. die Tauben mit ihren tiefen Stimmen sind Freundinnen, kommen geflogen / setzen sich nieder auf meinen Fuß.“ Dies korrespondiert mit dem oben zitierten Schluss des ersten Kapitels („nichts setzte sich nieder auf meinen Fuß“). Das Zur-Welt-Bringen als ein Zur-Welt-Kommen.

Für Meere sind Wüsten, Wüsten Meere wählt Sibylla Vričić Hausmann wieder eine andere Form, eine durchgehend von eins bis sechsundzwanzig numerierte Folge kleiner Textscherben, aus jüngerer Zeit vielleicht den Günter Eich’schen „Formeln“ vergleichbar (die freilich zumeist kürzer sind), aus alter Zeit – Sappho?
Das Staunen über das kleine Wesen, das nun geboren ist („ein Erdzauber zog dich ans Taglicht“, „das wacklichte Körperchen –“) und den häuslichen Alltag bestimmt, wie auch die Sicht darauf („der Tag zahnt“), ergeben eine lose thematische Bindung. Das ist sehr fein gemacht, wirkt dabei bestimmt und konzentriert. […]

So weit mal.

Zu den wenigen erfreulichen Nachrichten der letzten Tage zählt, dass sich die türkische Opposition auf einen Gegenkandidaten zum Dauerherrscher Recep Tayyip Erdoğan geeinigt hat: Kemal Kılıçdaroğlu. – Viel Glück!

Auf gute Nachrichten aus Israel warte ich noch.

Das Abkommen zum Schutz der Hochsee hätte ich auch zu den guten Meldungen dazurechnen wollen, aber ich habe den Fehler gemacht, mit einer Freundin zu telefonieren, die darauf hinwies, dass dieser Vertrag keineswegs bedeutet: Wir lassen die Schutzgebiete in Ruhe, sondern nur: Wir geben uns Regeln für ihre Ausbeutung – und dann beuten wir sie aus.

Nach der Arbeit sehe ich mir manchmal Clips aus den mittlerweile weltweit stattfindenen Gesangs-Shows an; interessiert mich mehr als Kripo Gotland, etc.
Hier der Auftritt einer Teilnehmerin aus Norwegen, Jenny Z. Haugen. Die Juroren sind überwältigt, warten aber bis zum ersten hohen Ton, bevor sie sich alle auf einmal umdrehen und der Darbietung gebannt folgen.

Rembobinage (10)

Die beiden Schwestern pflügen durch die Neuheiten, nichts will ihnen zusagen, die Bücher – überflogen, abgelehnt – fallen flappend zurück. Ein ums andere Mal sticht mich die Frage:
„Haben Sie’s gelesen?” Es hat etwas Garstiges.
Am nächsten Tag kommt die ältere der beiden, sanft: „Habe ich Sie verletzt?”
Der Spielplatz wirbelt manchmal Kinder herbei, sie kommen auf Inlinern herangeschossen, spielen mit dem Kartenständer Karussell, stoppen ihn jäh, picken konzentriert eine Postkarte heraus, kommen damit hereingestakst, artig. Das Geld krümeln sie in kleiner Münze hin, dann schnappen sie sich ihre Beute und fliegen davon.
Ein alter Herr, der gar nicht alt wirkt, blättert in einem vergriffenen Buch über Rabbiner in Berlin und hält auf einer Seite inne, auf der die Synagogen und Gemeindehäuser der Stadt verzeichnet sind.
Er fährt sie mit dem Finger ab:
„Gibt es nicht mehr. – Gibt es nicht mehr. – Gibt es noch. – Gibt es nicht mehr.”
Ich spreche ihn auf die Synagoge in der Joachimsthaler Straße an. – „Die ist ja orthodox!”, sagt er.

Die Energie gehört der Arbeit. Abends mache ich nichts. Ich trinke Tee, Kaffee, klicke mich durch Twitter.
P. hat mir eine DVD mit Lubitsch-Stummfilmen gegeben.
Ossi Oswalda, auch so ein Name.
Ich gehe um zwei Uhr schlafen.
Ich stehe um acht Uhr auf.

[Besuch beim Bildungsbürgertum, 18.9.2015]

Mit diesem Beitrag beschließe ich meine kleine Rückblicksreihe.

Rembobinage (9)

Chronik ist ursprünglich keine Einzelveröffentlichung von Roland Barthes, im dritten Band seiner Oeuvres complètes nimmt sie gerade einmal fünfundzwanzig Seiten ein, genau gesagt: die Seiten 969 bis 993. Ich habe das nicht nachgeprüft.

Zwischen Dezember 1978 und März 1979 hatte Barthes (1915-1980) einmal in der Woche für Le Nouvel Observateur aufgeschrieben, was ihn bewegte, sich dabei einer minderen literarischen Form bedienend – minder, nicht minderwertig -, überdies die von ihm festgehaltenen Beobachtungen als „‚schwache’ Ereignisse” charakterisierend, im Gegensatz zu den landläufig medial aufbereiteten ‚echten’ Ereignissen.

Seine kleine Prosa werde „von der Überspanntheit der uns umgebenden Schreibstile erdrückt und fast ausradiert”, klagt Barthes dann auch, nicht überraschend – die Worte verraten gekränkte Eitelkeit -, doch hält er ihr aus strategischen, letztlich politischen Gründen die Treue:

„[…] und wenn wir allmählich, geduldig dafür sorgten, dass sich die Skala der Intensitäten ändert? […] Müssen wir heute nicht der größt möglichen Zahl von ‚kleinen Welten’ Gehör verschaffen? Die ‚große Welt der Herden’ durch die unaufhörliche Teilung der Partikularitäten angreifen?”

Ich finde, das ist ein nobles Programm.

Die Chronik liest sich leicht, und anregend ist sie sowieso, steckt auch voller Anekdoten wie die von der alten Frau, die nicht mit der Einführung des neuen Franc zurechtkommt (diese erfolgte 1960, hundert alte Franc waren gleich einem neuen Franc) und buchstäblich nicht versteht, dass der Topf Primeln 30 Franc kosten soll, aber dann sagt jemand: Die Primeln kosten 3000 Franc, und da lacht sie und zückt ihren Geldbeutel. Ein anderes Mal berichtet der Autor, eine Werbeagentur habe ihm einen Button geschickt: „Kümmern Sie sich nicht um mich”, und der Musikfreund Barthes hält auch dies fest: „Ich werde Swjatoslaw Richter stets übel nehmen, dass er ein bestimmtes Menuett einer Sonate von Beethoven viel zu langsam gespielt hat”.

Hatte ich erwähnt, dass ich jede Woche rund fünfzehn Stunden S- und U-Bahn fahre, und zwar nicht zum Vergnügen?
In der zwischen Wannsee und Oranienburg verkehrenden Stadtbahn 1 fiel neulich in einem Gespräch das Wort „Streuselschnecke”.

Gestern habe ich einen Zwetschgenkuchen gebacken. Auch „Zwetschge” sagt man nicht oft – wenn, dann im September. Zwetschge. Zwetschge.
Man hätte Hagelzucker gebraucht.

[Streuselschnecke, 3.9.2018. Ich habe Absätze eingefügt, und an einer Stelle Gedankenstriche durch Kommata ersetzt: schwache Ereignisse zweifellos.]

Chaya XCX & Christine & the JACK Quarteens – Gone / Hidden

Wer sich für Pop und neue Musik interessiert, dürfte an den verwegenen Mashups von YouTuber Lil Geti seine Freude haben. Hier wurde der Hit Gone von Charli XCX und Christine and the Queens (2019, ich verlinke mal die Aufnahme von BBC Radio 1) mit Chaya Czernowins Komposition Hidden (2013/14, für Streichquartett und Elektronik) kombiniert, deren ursprüngliche Dauer natürlich auf Popformat verkürzt wurde.

„This song is about those situations where you are surrounded by loads of people but feel so isolated and alone. I feel like that a lot of the time in social situations. I never know what to do with myself, I feel so insecure and out of place and lost. I feel like a lot of people I know get those feelings. When it comes to me, I’ll either party through it and try to escape my feelings or I will totally cave in. The emotions that come alongside anxiety are so huge and crippling. This song is about breaking down but it’s also about breaking free. It feels like one big external scream.” – Charli XCX

HIDDEN versucht zu erkunden, was hinter der Musik und ihren Empfindungen verborgen liegt, bis hin zum jenseits unserer Wahrnehmung liegenden Unhörbaren. Wir ahnen nicht, was existiert, es könnte fremd, nicht entzifferbar sein. HIDDEN ist eine 45minütige, sehr langsame Hörerfahrung, die unsere Ohren zu Augen werden lässt. Dem Ohr wird Raum und Zeit gegeben, sich in der unvorhersehbaren Klanglandschaft zu orientieren, die einer felsigen Unterwasserlandschaft ähnelt, gefüllt mit Vibrationen, die eher gefühlt als gehört werden. Schicht um Schicht lichtet sich der Nebel. Monolithische Blöcke von „Klangfelsen” werden aus verschiedenen Blickwinkeln betrachtet. Es ist ein Stück über den Versuch, die Entstehung des Ausdrucks aufzuspüren, zu erkennen und wahrzunehmen.” – Chaya Czernowin

Die Arbeit von Lil Geti geht über den Mix hinaus und umfasst auch die Titel und Collagen, die in den einzelnen Videos und Stills gezeigt werden.

Das klangliche Ergebnis passt gut zu unserer am Rande des Abgrunds taumelnden Welt.

Ich habe heute in der Mittagspause das alte Theme meines Blogs (Libre 2) durch ein neues ersetzt (Twenty Twenty-Three).

Rembobinage (8)

Neulich in einer Kirche der Evangelen. Im Glockenturm wurde ein Fassbinder-Film gezeigt, Angst vor der Angst.
Draußen ein Zettel mit Handy-Nummer: Nach 19.00 Uhr bitte anrufen.
Es ging mehrere Treppen hoch, am Ende der Treppen über eine Metalltreppe weiter nach oben, ins Gebälk. In den Nischen Kerzen, auf den Stufen Staub. Auf einem Absatz musste ein Zettel unterschreiben werden.
Der Vorführraum eine Art Tenne, Kühlschrank mit Bier, Wein, die Glocke halb hinter Gerüsten verborgen, eine Holzplanke, schräg über Rohre gelegt.
Der Wind schlug wie ein loses Laken um den Turm.
„Wird hier renoviert?”
„Nein.”
Nachher traten einige von uns ans Geländer, die Tür knallte zu.
Schöne Aussicht.
Wir froren.
Einer erbot sich, Tee zu machen, war lange weg, kam dann mit zwei Thermoskannen.
Links eine klapprige Tür zum Gewölbe. Zwei zogen Teller mit Essen hervor, das sie bis zum Beginn der Vorstellung nicht geschafft hatten – aßen sie jetzt kalt weiter.
Gab auch Kartoffeln. (Danke, kein Hunger.)
Tags drauf im P103, draußen. Ein älterer Mann suckelte sein Käffchen, hatte wohl die glorreichen Zeiten der Potse erlebt, er strahlte eine abgeblätterte Würde aus.
Unser beider Gesichter hellten sich auf, als unter den Tischen her ein Eichhörnchen vorbeihuschte, hin und zurück.

[Unter Evangelen, 12.7.2015. Im letzten Satz ein „sehr” gestrichen, „unseren” durch „den” ersetzt.]

Perlen der Popmusik

Langsam erwache ich aus dem Winterschlaf und schmiede neue Pläne. Beispielsweise hatte ich just heute die Idee, mir, sozusagen als vorgezogenes Geburtstagsgeschenk (ist erst im April, aber so lange warten?), eine Jahreskarte der Staatlichen Museen zu Berlin zuzulegen (→ Museumsgebäude) und mehr in Ausstellungen zu gehen. – Ist es zum Beispiel möglich, dass ich noch nie im Jüdischen Museum war? Ja, ist.
Dann wird es aber Zeit!, sage ich zu mir selbst, zumal gerade Paris Magnétique 1905-1940 läuft.
Es ist nicht so, dass mich Kunst nicht interessieren würde, ich denke nur oft nicht daran, und noch weniger an Kino, ganz zu schweigen von anderen Künsten, die ich völlig ausblende (Architektur, Tanz, Oper). Wahrscheinlich eine Zeitfrage, denn Literatur und Musik sind jedes für sich schon weit ausgreifende Felder.

Ein anderer Plan ist, mich verstärkt meiner Musikaliensammlung zu widmen, methodisch oder spontan, mal sehen. Eine grobe Richtung: von Debussy bis Schönberg. Die Zweite Wiener Schule ist ganz gut repräsentiert, allerdings mit ein paar Lücken bei Schönberg (Quintett für Flöte, Oboe, Klarinette, Horn und Fagott, 1923, Erwartung, 1909, Lieder usw.) und riesengroßen Lücken bei Berg, ts ts.
Im aktuellen Heft (176) der MusikTexte sagt der Komponist Nicolaus A. Huber:
„Schönberg war vielleicht radikaler, was das Abschaffen von Vergangenheit betrifft in Bezug auf den einzelnen Ton. Aber von der Technik her gesehen war Schönberg im Grunde weniger radikal, eher traditionell. Denn Kontrapunkt war für ihn Ein und Alles […]”
Warum, im Vergleich, Debussy (im Hinblick auf seine Technik) zukunftweisender ist, sagt er nicht so prägnant, doch das hat einen Text davor Reinhard Oehlschlägel erledigt, in dem Wiederabdruck eines 1971 erstmals erschienenen Beitrags mit dem Titel „Verselbständigung der klangfarblichen Dimension”. Die Überschrift sagt’s schon.
Oehlschlägel erwähnt auch, dass sich Debussy Analysemethoden entziehe, „den klassischen […] den seriellen und strukturalistischen.”

In der Einleitung zu seiner Debussy-Monographie (rororo bildmonographien, 1964, 30.-32. Tausend November 1988) zitiert Jean Barraqué einen gewissen Michel Fano:
„Gleich weit entfernt von Schönberg wie von Strawinsky, verfolgt er in seinen letzten Werken die Idee eines Klangphänomens, das sich ständig selbst erneuert; er weigert sich, seine schöpferische musikalische Materie einem Schema zu unterwerfen, das nicht durch sie bedingt ist, überträgt ihr die absolute Herrschaft über den schöpferischen Verlauf und läßt dadurch eine Welt entstehen, die, sich bewegend, ständig ihre Form verändert und eine gewisse Ähnlichkeit mit den neuesten Arbeiten serieller Komponisten aufweist.”
Wobei ich hier eher an Ligetis Klangwolken denken würde.

Die MusikTexte bringen außerdem einen gegenüber der Neuen Musik kritischen Artikel von Michael Rebhahn (… Es lebe die Neue Musik! Ein Versuch über die Chance), in dem dieser die konservativen Aspekte und Widersprüchlichkeiten der neuen Musik herausstreicht. Statt „einem Musikalischen jenseits eingeübter Settings nachzuspüren”, füge sie sich „weitgehend kritiklos in ein vollends erstarrtes Zeremoniell: Auftritt – Applaus – Spiel – Applaus – Abtritt” („Konkret sprechen wir hier von einer Codierung, die sich seit der 1725 in Paris initiierten Präsentationsform der Concerts Spirituels nicht nennenswert geändert hat”, setzt eine Fußnote nach.)
Das lässt sich so verstehen, dass die neue Musik im Grunde (konzeptuell) altbacken ist und eigentlich erst erfunden werden müsste. In der Tat schreibt Rebhahn spöttisch: „Entre nous: Neue Musik heißt nur so […]”, und bringt ihre Paradoxien wie folgt auf den Punkt:
„Neue Musik will im gewohnten Rahmen Gewohnheiten in Frage stellen, mit hochbejahrten Klangerzeugern neue Klänge hervorbringen, mit Codierungen und Restriktionen ästhetische Autonomie gewährleisten.”
Hui, hui.

Nun aber endlich zu den Perlen der Popmusik.

Stimmerman ist die Band von Eva Lawitts (Stimmerman war der Name ihrer Großmutter, wenn ich mich richtig erinnere). House Party ist aus ihrem für den 10. Mai angekündigten neuen Album Undertaking.

Es spielen (copy & paste, therefore in English):
Eva Lawitts – Acoustic Guitar, Bass, Vocals
Chris Krasnow – Guitar
Gannon Ferrell – Guitar
Micha Gilad – Synthesizer
Connor Parks – Drums

https://stimmerman.bandcamp.com/album/undertaking

A&W von Lana Del Rey kann man sich auch mal anhören, ganz gut! Der Song kam diese Woche heraus.
Ebenfalls ganz frisch die neue Platte von Caroline Polachek, Desire, I Want To Turn Into You, daraus das Stück Crude Drawing Of An Angel.

… und der Schluss des genannten Albums:

Edit: Oh, war das schon heute!?

Rembobinage (7)

Am 21.2.2023 feiert Im Dickicht sein zehnjähriges Bestehen, tada.
Aus diesem Anlass werde ich mein Kulturblatt für maximal vier Wochen mit diversen Beiträgen befüttern, die seither erschienen sind.
Da im Internet sowieso schon alles auf Englisch ist, sehe ich davon ab, die Reihe Revisited zu nennen; das französische Rembobinage bedeutet Zurückspulen (la bobine = die Spule).

Der Mann stellte mir die Tasse hin, ich fragte: „Was macht’s?”
Ich aß das mit Kokosflocken bestreute Plätzchen, am Kaffee hätte ich mir nur die Zunge verbrannt.
Der Mann war mit meiner 2-Euro-Münze entschwunden. Ich fragte mich, ob er sie für eine 1-Euro-Münze gehalten hatte und ob ich gegebenenfalls das Rückgeld reklamieren sollte. Aber die Suppe mit weißen und schwarzen Bohnen hatte nur 2,50 Euro gekostet, und dies war die Kiezkantine, eine unterstützenswerte Einrichtung. Ich kam zum Schluss, dass 4,50 Euro für ein Mittagessen mit Kaffee ein annehmbarer, ja angemessener Preis war.

An dem Haus neben dem Buchladen zur schwankenden Weltkugel las ich, wie jedes Mal, wenn ich daran vorbeikomme, die Worte: „Kapitalismus normiert / zerstört / tötet”.
Ich lese gerne Schrift im Stadtbild, wenn es keine Werbung ist. Ich mag z. B. das Alphabet, das kunstvoll auf die Fassade des Hauses zwischen Kastanienbäckerei und Lichtblick Kino gepinselt ist, einfach die 26 Buchstaben, von links nach rechts.

Der Held in La nuvola di smog (von Italo Calvino) lebt als Untermieter einer tauben alten Frau in einer nicht näher bezeichneten italienischen Stadt. Es staubt überall. Frisch gewaschen liegen Hemden auf der Bettdecke, aber die Krägen zeigen Pfotenabdrücke der Katze. Der Held wäscht sich die Hände, sobald er aus dem Büro zurückkehrt, vermeidet jedes Anfassen. Zu verschiedenen Tages- und Nachtzeiten empfängt er emphatische Telefonanrufe seiner Freundin, auf die er zurückgenommen und einsilbig antwortet. Hinter einer verglasten Tür geht das Licht an, die Vermieterin schleicht über den Flur und macht ein Handzeichen, sie werde nicht stören.

Auf der Arbeit [ich bin immer noch bei Calvino] gibt es Diskussionen über den Schluss eines Artikels zum Thema Umweltverschmutzung.
„Wir sehen uns also mit einem Problem konfrontiert, das schreckliche Folgen für die Gesellschaft nach sich ziehen kann. Werden wir es lösen?”
Der Redakteur empfindet die Frage als zu skeptisch, zu negativ. Der Autor schlägt kaltblütig vor:
„Wir werden es lösen.” Das wird als zu geschäftsmäßig abgelehnt.
„Werden wir es lösen? Wir werden es lösen!”, probiert der Autor weiter und verwirft seinen Einfall wieder.
Nach vielem Hin und Her ist schließlich die Formulierung gefunden, mit der alle zufrieden sind:
„Werden wir es lösen? Wir sind schon dabei.”

[21.2.2014, „Weiße und schwarze Bohnen”]

Rembobinage (6)

In der S-Bahn zwei junge Kerls, miteinander bekumpelt, vom gleichen Leid geschlagen. Der eine, ein Längsel, eine eingehüllte Gitarre auf dem Buckel, der andere, klein, Käppi und Brille, angelegentlich in einer Broschüre der Berliner Verkehrsbetriebe lesend; kämpft gleichzeitig mit einer 1-Liter-Flasche Coca Cola, die er schon zu zwei Dritteln aufgetrunken hat. (Vor dem Aussteigen wird er sie mit den Worten: „Kannst du die halten?” einer soignierten Dame hinstrecken – die natürlich nicht im Traum daran denkt – und dann mir, und ich nehme sie an und stelle sie hinter mich in die Ecke auf den Boden.) Während sich der Zug dem Bahnhof nähert, an dem der Große aussteigt, verabschieden sich die beiden, sorgfältig, in einem beruhigenden Singsang. „Bis Montag in der Werkstatt”, sagt der Kleine, die Nase in die Luft gereckt, der andere gibt es ihm mit genau den gleichen Worten zurück, er wirkt ganz schläfrig, worauf wieder der Kleine: „Bis Montag in der Werkstatt. Na dann”. Und die Colaflasche ist er ja jetzt los, er hält das BVG-Heft mit beiden Händen vor sich aufgeschlagen wie eine Zeitung. Er schnauft. Wir fahren wieder, halten wieder, fahren, halten, wir sind da. Er drängt sich an die Tür, eifrig in allem, und ist als erster draußen und steigt kregel die Treppe hinab.

Rembobinage (5)

Diesen Monat feiert Im Dickicht sein zehnjähriges Bestehen, tada.
Aus diesem Anlass werde ich mein Kulturblatt für maximal vier Wochen mit diversen Beiträgen befüttern, die seit Februar 2013 erschienen sind.
Da im Internet sowieso schon alles auf Englisch ist, sehe ich davon ab, die Reihe Revisited zu nennen; das französische Rembobinage bedeutet Zurückspulen (la bobine = die Spule)

Dieser Beitrag ist so nicht erschienen, er kombiniert drei Blog-Einträge zur Komponistin Clara Iannotta von Januar, März und Oktober 2020, soweit sie sich auf sie beziehen, hier also gekürzt.
(An einer Stelle habe ich, für die Wiederveröffentlichung, Kommata durch Gedankenstriche, und das Wort U-Boot durch Tauch-Boot ersetzt, auch mehr Absätze eingefügt.)
Bei der diesjährigen Ausgabe des Ultraschall Berlin Festivals wurde auch ein Werk von ihr gespielt, Memory Jolts. Flashes of Pink in the Brain (2020, für sechzehn Streicher), das hab ich leider verpasst.

Auf die Komposition von Olga Neuwirth folgte Limun (2011) von Clara Iannotta, der Berlin-Römerin, von deren Musik hier vorher schon die Rede war. Geschrieben für Violine, Viola und 2 Umblätterer, brachte es den szenischen Charakter des ersten Stücks des Abends zurück
aufs Deck.
aufs Tapet.
auf die Bühne.
Bevor ich es mir jetzt noch einmal anhöre, rufe ich mir die beiden Umblätterer in Erinnerung (ernster Habitus), die plötzlich winzige seidenumwickelte Mundharmonikas aus dem Ärmel zogen und darauf gleißend-hell-fiepende Töne erzeugten, die einen Hund zum Jaulen gebracht hätten. Schmerzhaft und nicht ohne Humor, auch wenn das Stück sicher nicht ‚witzig‘ gemeint, und in seiner irisierenden zweiten Hälfte schlicht schön ist – das Schöne ist selten lustig. Es ist auch eine kalte, sternenhafte, keine Behagen verbreitende Schönheit, nicht zu verwechseln mit dem kerzenwarmen, frommen Tintinnabuli-Stil eines Arvo Pärt. Man könnte aber bei den ruppigen Sforzati, den großen Vibrati und Glissandi und dem geräuschhaften, manchmal flötenartigen, sehr leisen, Spiel am Steg oder auf dem Griffbrett an Bartók oder Ligeti (oder Cage mit seinem Streichquartett von 1950) denken – diesen Rang würde ich Clara Iannotta auch zuweisen, wenn es denn an mir wäre, Künstlerinnen einen Rang zuzuweisen. Kurzum: Limun: super klasse.
[Ich brauche sechzehn Räume, 14.3.2020]

You crawl over seas of granite, ein Kompositionsauftrag des JACK Quartets […] ist das neueste und radikalste Streichquartett von Clara Iannotta“, lese ich im Booklet zur jüngst erschienenen CD Earthing (Wergo, Mainz 2020).
„So radikal, dass die vier Musiker zur Sicherheit auf Billiginstrumente umstiegen.”
Von diesem Zaubertrick habe ich natürlich nichts mitbekommen, als das Werk im Januar beim Ultraschall Festival uraufgeführt wurde.
Die Instrumente werden um mehr als eine Oktave nach unten gestimmt und die Saiten mit Büroklammern präpariert. Dies sind die äußeren Mittel, mit denen die Komponistin eine bildstarke Musik erschafft, die den Hörer im Nu auf den Grund des Marianengrabens versetzt, elf Kilometer unter dem Meeresspiegel, jene Tiefe, in die die Ozeanographen Jacques Piccard und Don Walsh – mit denen Theresa Beyer ihren schönen Einführungstext [zur CD] beginnt – im Jahr 1960 hinabtauchten.
Am Meeresgrund gibt es kein natürliches Licht, kein Sonnenlicht, und doch ist es nicht vollkommen finster: die dort lebenden Tiere und Organismen emittieren ein irreales Leuchten.
Schummer, Schlamm, Wasserdruck, der das Tauch-Boot knacken und knirschen macht, Mulmigkeit, Ausgesetztsein, ins Unendliche gedehnte Zeit, all dies ist in den ozeanischen Kompositionen Clara Iannottas zu hören und körperlich zu erfahren – atemberaubend.
Reizvoll an speziell diesem Werk, You crawl over seas of granite (2019/20), das die altehrwürdige Gattung Streichquartett bis auf die Wurzel neu aufzieht, ist auch, dass die Komponistin hier etwas von ihrer Kontrolle abgibt. Extrem heruntergestimmte Instrumente entwickeln eine nicht bis ins einzelne steuerbare Eigendynamik. Paradoxerweise hat genau dies Leinelassen die Künstlerin ihrer Vision näher gebracht.

Damit nicht in direktem Zusammenhang stehend, aber ich muss dennoch daran denken: Im aktuellen Heft des Jazz Podiums schreibt der Komponist Bernhard Lang von dem Problem, dass die Partituren neuer Musik oft so kompliziert sind, dass die Interpreten „mehr dem Leseprozess als dem sich gegenseitig Hören verpflichtet” seien. Sein Kollege Georg Friedrich Haas habe gerade daraus (dies zumindest Langs Vermutung) die Idee entwickelt, in seiner Komposition In Vain „das Ensemble über weite Strecken auswendig im Dunkeln” spielen zu lassen.
[Fies Tüch, wat siche lecker, 10.10.2020]

Clara Iannottas Seestücke

[…] statt.
Das New Yorker JACK Quartet spielte die Streichquartette von Clara Iannotta:
dead wasps in the jam-jar (III) (2017-2018)
A Failed Entertainment (2013)
You crawl over seas of granite (2019)
Earthing – dead wasps (obituary) (2019)
[…]
Drei der vier aufgeführten Stücke (2, 3, 4) kreisen um das Thema des Meeresgrunds („Von diesem wissenschaftlichen Feld bin ich wirklich besessen”, C.I.), um die „Vorstellung »der tiefsten Schicht im Ozean, wo ständiger Druck und ewige Bewegung das Stillstehen der Zeit zu formen scheinen«”.
Flageoletts, druckloses Wischen des Bogens (über das Griffbrett), hart kratzender Strich, knurrend (unterhalb des Saitenhalters), körperlose Pizzicati, farblos durchlaufende Geräuschbänder, Obertonflirren, Verwaschung, Auflösung, jähe Kompression – diese ‘ausdruckslose’, ausgebleichte, innerhalb ihres abgestuften Graubereichs aber wieder auch farbig schillernde Klangpalette, die die Dingfestigkeit konturierter Töne eher vermeidet, bildet den Zauberkasten von Clara Iannottas bildkräftiger Musik. Die ‘submarinen’ Effekte, die sie mittels der so geschaffenen Klangoberfläche erzielt, sind außerordentlich. (Hörempfehlung, außerhalb des Quartettzusammenhangs: Eclipse Plumage.)
Ohne mich groß auszukennen, würde ich vermuten, dass in Clara Iannottas Komponieren Helmut Lachenmanns musique concrète instrumentale und die Musik der Spektralisten aufgenommen und in ein individuelles Idiom übersetzt wird – eine Individualität, auf die die Komponistin wert legt: sie kann stolz darauf sein.
A Failed Entertainment, das mir auf der gleichnamigen Iannotta-CD gut gefiel, fällt im direkten Vergleich mit den drei späteren Streichquartetten etwas ab. Die Meisterschaft vor allem von You crawl over seas of granite (eine Uraufführung) und Earthing – dead wasps (obituary), aber auch von dead wasps in the jam-jar (III), das ebenfalls stark ist, wird hier (noch) verfehlt, weil die Komponistin nicht vollständig ihrer Radikalität vertraut. Der Klangraum, den sie kreiert, klingt zwar schon ganz nach ihr – das Booklet erwähnt „die einbeziehung von tischglocken, einer vogelpfeife, eines styroporblocks und [die] präparation der streichinstrumente mit büroklammern” -, aber die Erweiterung des Spielgeräts wirkt wie etwas Aufgesetztes, ein Fremdkörper, der das Klangbild aufbricht anstatt es zu verdichten. Aber, wie gesagt, es kann auch ein ‘Fehler’ der Programmgestaltung sein. Wer weiß, wie sich das Werk in Nachbarschaft eines Brahms-Quartetts ausnehmen würde.

Weiter
In diesen Tagen wurden die Streichquartette von Clara Iannotta für eine CD-Produktion aufgenommen, die im Laufe des Jahres in der Edition Zeitgenössische Musik erscheinen wird.
Jetzt schon lieferbar eine Porträt-CD mit dem Titel A Failed Entertainment (Edition RZ, Berlin 2015).
Ein Gespräch, das Leonie Reineke mit der Komponistin führte, kann hier nachgehört werden. Die vollständige (Lese-)Fassung („Clara Iannotta: Konstantes Unbehagen”) ist auf dieser Seite verlinkt.
Soundcloud: https://soundcloud.com/claraiannotta
[Clara Iannottas Seestücke, 17.1.2020]

Rembobinage (4)

Diesen Monat feiert Im Dickicht sein zehnjähriges Bestehen, tada.
Aus diesem Anlass werde ich mein Kulturblatt für maximal vier Wochen mit diversen Beiträgen befüttern, die seit Februar 2013 erschienen sind.
Da im Internet sowieso schon alles auf Englisch ist, sehe ich davon ab, die Reihe Revisited zu nennen; das französische Rembobinage bedeutet Zurückspulen (la bobine = die Spule)

Die dem Text zugrunde liegenden Posts sind von 2013. Ich habe sie 2019 zusammengefasst.

1
Aufstehen um vier dürfte reichen. Treffpunkt ist 5.15 Uhr in Lüllingen, Harry und Helmut nehmen mich mit (ich kenne sie noch vom letzten Jahr). Eine halbe Stunde brauche ich mit dem Fahrrad, also Aufbruch von hier spätestens Viertel vor fünf. Die Arbeit in Herongen beginnt um sechs.

2
Ich habe überlegt, was mir letztes Jahr nützlich war, und kaufte eine Flasche Wasser, eine Packung Doppelkekse und Margarine. Maria hatte ich schon vorab per SMS informiert, Maria, die immer blinzelt, weil ihr die Wimpern doppelt wachsen. Sie antwortete: „Super, nur ich hab zur Zeit ein Problem. Meine Chaufeuse ist in Lüll angef.”
Die Bewegungsmelder des Altenheims klappten ihre Lichter aus.
Helmut kam einige Minuten nach mir. Er fand die Zeit, mir Guten Morgen zu wünschen, brachte umständlich sein Fahrrad im Fahrradständer unter und steckte sich eine Zigarette an.
Im Kabuff des Nachtwächters brannte eine Lampe.
Die Fahrt zur Arbeit ist nun privat organisiert, letztes Jahr wurden noch Busse eingesetzt, aber Patti und der maulige Kurt fahren inzwischen andere Strecken. Heinz saß am Steuer, auf dem Beifahrersitz Harry, Helmut auf der Rückbank rechts, ich daneben. Nächste Woche gebe ich Heinz Spritgeld, die anderen geben ihm auch was.
Mamut kam mit dem Elektroschlepper wie in einem römischen Wagen und sagte mir, ich sei für diese Saison in Halle R eingeteilt. Als ich hinkam, stellte sich heraus, dass die Halle R erst um halb sieben zu arbeiten anfängt; sie macht dafür auch am spätesten Schluss. Es gab eine (unbezahlte) Frühstückspause von zwanzig vor acht bis acht, Gitta hatte Pappen besorgt, zum Sitzen.
Nico kam mit dem Fahrrad, schüttelte mir smart die Hand, brachte mir einen Karton mit den Arbeitsschuhen, fragte mich nach meinem Geburtsdatum, später kam Udo.
In den Hallen gilt die Straßenverkehrsordnung.

3
Ich sagte Helmut Guten Morgen, von ihm kam ein bedächtiges Morgen zurück. Er postierte sich am Eingang, rauchte eine Zigarette. Ich hätte auch rauchen können, aber mir war nicht danach.
Um 5.20 Uhr setzte Vogelgesang ein.
Die Händlerin Schultz hatte ihren Hund Rocco dabei, ein altes hässliches Tier mit braunschwarzem Fell. Ich hockte mich hin, Rocco kam auf mich zu gewackelt, leckte mir einmal über die Hand und entfernte sich wieder.
Vor der Arbeit hatte ich noch Zeit zu lesen, doch es gab zu viel Unruhe, und ich ließ es.
Voorzichtig, de kettingbaan gaat lopen.
Ich war im niederländischen Netz.
Heute liefen weniger deense karren, um kurz nach zehn war die Arbeit getan. Mamut, mit Klemmbrett, notierte sich die Zeiten.
Zwischendrin war Udo angeradelt gekommen und hatte mir eine kleine dicke Rolle mit Aufklebern übergeben. Ich muss meine Karren numerieren, damit Fehler zurückverfolgt werden können.
Die Kameras der Videoüberwachung habe ich noch nicht entdeckt.

4
„Ich möcht gern in eine Kneipe gehen und Skat spielen … mir den ganzen Frust von der Seele saufen …!”

5
Eine Maus lief auf dem Radweg vor mir her, huschte fort, kam wieder. Am äußersten Rand des Lichtkegels lief sie am Grünstreifen lang, fiel zurück, zackte nach rechts.
Etwas weiter eine tote Taube. Auch einen Igel hatte es erwischt.
„Zehn … Viertel nach zehn”, sagte Helmut. „Zehn … Viertel nach zehn. Freitag. Das ist der letzte Tag. Da ist nicht viel.” In rauher Färbung kamen die Worte aus seinem Mund, verächtlich spuckte er sie aus.
Zu Anfang der Arbeit, wenn noch keine Blumencontainer, sondern Stangenwagen über die Schiene klirren – maßgefertigte geschmiedete Konstruktionen, an die die Stangen gehängt werden, mit denen die Karren in der Kettenbahn geführt werden – bleibt noch Zeit, vor dem Hydranten stehen zu bleiben und Wandhydrant Typ F zu lesen (Kein Trinkwasser) oder mit der Schuhspitze gegen eine plattgedrückte Marlboro-Packung zu stoßen.

6
„Dat is am trekken du!” Wir stellten uns an eine windgeschützte Ecke.
Als ich mich von der Rückbank hochgekämpft hatte und durch die beige Metalltür, die von einem kleinen schwarzen Bruchstück Hartplastik aufgehalten wurde, in die von vielen Hunderten von Neonröhren beleuchteten Hallen trat, sah ich auf dem schrundigen Betonboden einen kleinen beschrifteten rötlichen Zettel, der von den das Gelände weiträumig massierenden Kehrmaschinen nicht erfasst worden war.
Die Buchstaben standen auf dem Kopf, aber ich konnte das Wort gut lesen: unregelmäßig.
Manche Anblicke hätten meinem alten Kunstlehrer Mirbach gefallen, zum Beispiel der Raum mit den Aufladegeräten, an dem ich immer vorbeikomme, kurz bevor ich in R einbiege: ungefähr zwei Dutzend Steckdosen, von denen schwarze Nabelschnüre herabführen, kleine kalte Kästen mit roten Lämpchen nährend. An manchen der Plätze stehen waidmannsgrüne Elektroschlepper mit erstorbenen Akkus. Elektrisches Summen und Knistern verstärkt den Eindruck der Stille und Konzentration. Eine Art Säugekammer. Ich gehe immer schnell vorbei, lasse die Brandschutzschiebetüren und den Heißgetränkeautomaten hinter mir, und auch den Süßigkeitenautomaten daneben, vor dem ich neulich, bevor die Arbeit anfing, eine Weile zaudernd stand, während es um mich her schon emsig schnurrte und rummste, meine Augen gingen hin und her zwischen der Mars- und der Snickers-Reihe. Ich entschied mich für Snickers. Siebzig Cent ein Riegel.

7
Der Verlust des Handys war misslich, auch wenn ich es am darauffolgenden Tag wiederbekam.
Für das Aufstehen um vier Uhr an fünf aufeinanderfolgenden Tagen bedarf es wirksamer Hilfsmittel.
Anfangs hatte ich an meinem Kopfende eine Kerze brennen, so wie in manchen Gegenden bei der Totenwache üblich.
Jemand erinnerte mich an den telefonischen Weckdienst der Telekom.
H. lieh mir ihren Wecker. Sie steckte probehalber eine Batterie ein und die Zeiger setzten sich in Gang.
Funkwecker müssen, um betriebsbereit zu sein, auf 12.00 Uhr stehen. Ist diese Ausgangsposition erreicht, schließt das Zifferblatt die Augen, um das Funksignal der Braunschweiger Atomuhr aufzunehmen. Sobald dies kommt, lösen sich die Zeiger und krabbeln auf ihre Plätze.
H. entnahm die Batterie wieder. Zu Hause setzte ich eine eigene ein.

8
Renate: „Ham wat heute auch mal wieder geschafft.”
Ich: „Ja.”
Renate: „Gott sei Dank.”
Ich: „Ja.”

9
Wenn ich ins Auto steige, habe ich zwanzig Minuten Radfahren hinter mir. Heinz und Harry werfen ihre Kippen aus dem Fenster. Der scharfe Zigarettenrauch legt sich wie Glaspapier auf meine Lungen und reibt sie fein blutig.
Ich arbeite mich warm, den Pullover brauche ich nicht.
Dann kommen die Spediteure und machen die Tore auf. Wir alle stehen im Zug.

10
Morgen, bin mit dicker Backe aufgewacht, muss zum Zahnarzt. Tut mir leid. Grüße
OK

11
Es hätte so schön sein können: Arbeitsbeginn eine halbe Stunde später (ab heute), rechtzeitig losfahren, fünf Minuten früher als sonst, um in Ruhe hinzukommen. Aber dann ist die Fahrradkette ab, ohne dass ich auch nur einmal ins Pedal getreten wäre, und ich krieg sie auch nicht mehr drauf, so verdreckt ist sie von Staub und Salatöl. Muss ich also nachher zum Fahrraddoktor, dabei war ich erst neulich da gewesen, als das Vorderrad merkwürdige Geräusche machte, das Licht hing schon länger in Fetzen. Ich selbst muss auch wieder zum Doktor, nachmittags. Ach.

12
Vor Arbeitsbeginn, gegen Viertel vor sechs, fanden wir uns immer am Stehtisch zusammen, in robuster guter Laune, Ute, Roland, Anni, Renate, Hawa, Brigitte, oder wer am jeweiligen Tag da war. Wir rauchten Selbstgedrehte oder Billigmarken, Anni setzte ihren kleinen gelben Aschenbecher in die Mitte und alle fachsimpelten, wieviele „CCs” und wieviel „Schnitt” es diesmal wären. Wer sich auskannte, sagte dann: „Zwölf” oder „Elf, Viertel nach elf” – bis dahin wäre die Arbeit geschafft, und „Zwölf” oder „Elf” antwortete es.
Die Heißgetränke kamen aus dem Automaten, bei jeder Zubereitung zuckte das Kabel.
Die Schnittblumen wurden von den Schnittblumenverteilern mit Elektroschleppern an ihre Plätze gefahren. Wir hatten damit nichts zu tun, außer dass die schnellen schlenkrigen Linien, die sie mit ihren zu langen Reihen gekoppelten Containern längs der Halle zogen, unsere energischen Striche durchkreuzten, mit denen wir die Karren von der Kettenbahn aus in Richtung Box schossen. Durch den hohen Aufbau der Schnittblumencontainer gerieten die im Abstand von einigen Metern von der Decke hängenden, am unteren Ende, der besseren Griffigkeit wegen, mit gelbem Klebeband umwickelten Ketten in Bewegung und schwangen hin und her. Sie dienten als Notbremse, wenn Karren sich verhakten oder eine Karre umgefallen war.
Für die Schnittblumenverteiler ist Pause von sieben Uhr fünfzig bis acht Uhr, hallte die Durchsage in traumartiger Exaktheit, da war unsere Pause schon zehn Minuten dran. Petra saß auf der harten niedrigen Metallkante eines Stangenwagens, ich auf dem Betonboden.
Petra war wie ich für die Stellplätze 1011, 1013, 1014, 1015 und 1080 bis 1086 eingeteilt. Sie zog heraus, ich stellte hin, oder umgekehrt, sie sagte wie bei einem Quiz die lateinischen Namen der Pflanzen, die an uns vorbeifuhren, ich war schon froh, wenn ich die „Schwarzäugige Susanne”, den „Husarenknopf” oder das „Mädchenauge” erkannte, auf Deutsch.
Als ich die letzten Container auf ihre Stellplätze geschoben und meine Kontrollnummer aufgeklebt hatte, lief ich durch die Halle nach hinten, um mich von den anderen zu verabschieden. Samuel zog seinen fleddrigen rechten Arbeitshandschuh aus, schüttelte mir die Hand und wünschte mir alles Gute. Schlaff der Händedruck von Anni und Renate (Renate hatte sich schon eine Zigarette angesteckt).
The Edge war in der 1013er-Box und machte sich an einer Karre zu schaffen, ich winkte ihm zu.
Sabrina habe ich nicht mehr gesehen. Sie will mir ein Foto ihres neuen Autos schicken. Ich hatte versucht, ihr die schwarze Folie auszureden, mit der sie die Heckscheibe und die hinteren Seitenfenster abkleben wollte, aber sie lachte und freute sich: „Ich find’s super!”

Anrufe in Abwesenheit [2013]

Vier Anrufe in Abwesenheit waren in das Speicherkissen gesunken.
Zu Hause schrieb ich Unbekannt: „In meinem Tran habe ich mein Handy in Heinz‘ Auto liegenlassen, so dass ich eine etwaige Einladung von Dir zum Essen nicht abhören kann. Vielleicht, wenn ich dann noch wach bin, komme ich gegen halb sieben mal vorbei und guck in die Töpfe.”
Die Antwort – „Halb sieben ist zu spät, besser Du kommst jetzt bald, muss heute früh zu Bett, Wetter macht mich depressiv, Essen ist von gestern, aber lecker. Gruß” – hat mich, wenngleich ich sie erhielt, nicht erreicht, weil ich erst am Abend wieder in den Computer sah.
Der Türsummer ging nach einer Weile.
Selber müde, verging fast eine Stunde, ehe ich fragte: „Hast du geschlafen?”
Udo war dabei, seine Tasche zu packen. Ob er noch nach draußen wolle?
Unbekannt lachte. „Das hast du nett formuliert.”
Da fiel mir wieder Udos Nachtdienst ein.
Gerade drehte er mit philosophischer Ruhe eine Banane in seiner Hand. Sie war unansehnlich; mit ihren grauschwarzen Verfärbungen erinnerte sie an eine Alukartoffel, die man in der Glut vergessen hat, und die nun Spuren von Oxydation, Ruß und Asche trug. Udo hatte sie frisch gekauft, aber über Nacht im Auto vergessen.
„Innen ist die noch gut”, sagte er ohne Sturheit und steckte sie zu den anderen Sachen in die Tasche und zog den Reißverschluss zu.
Ich war verschnupft und Unbekannt machte mir Tee, zwei Tassen. Später gab sie mir Lindenblüten mit, sollte ich vor dem Schlafengehen trinken.
„Bist du langweilig?”, fragte ich sie, eine Zukunft überfliegend.
„Ja sicher”, sagte sie mit Überzeugung, aber ich glaubte ihr nicht.