Falten auf der Stirn der Texte

Möglich, dass man mir die Überschrift böswillig als Prunkzitat (© Michael Rutschky) auslegt; sie ist dem 1956 erschienenen Essay Satzzeichen von Theodor W. Adorno entnommen, der 1958 in den als Band 47 der Bibliothek Suhrkamp veröffentlichten Noten zur Literatur I wiederabgedruckt wurde, da hab ich’s gelesen. Die Formulierung bezieht sich auf den „ernste[n] Gedankenstrich”.

Meine Verwendung von Auslassungspunkten ist nach Auffassung Adornos vermutlich ein stilistisches Verbrechen. Ich fühle mich als der „Schmock” ertappt, der durch die drei Punkte eine Gedankenweite und Gedankentiefe behauptet, die er nicht hat, wobei ich den jiddischen Begriff in der Bedeutung von Snob verstehe. Tja …

Ein Satzanfang wie: „Theodor Haecker erschrak mit Recht darüber, daß das Semikolon ausstirbt”, amüsiert mich.

Übrigens ist das Buch geliehen, ich werde es bei nächster Gelegenheit zurückerstatten und mir dann selber beschaffen. Adornos Bildung, sein extravaganter Sprachgebrauch, sein Witz und das gewählte Themenfeld sind gute Gründe dafür.

Es gibt einen neuen Song von Kimbra, der sehr von dem verschieden ist, was sie auf The Reckoning gemacht hat. Klavier und Stimme, das ist beinahe alles und es reicht vollkommen.

Und hier ein Fleetwood Mac-Cover von Julia Holter, das ich verpasst habe, als es vor drei Jahren veröffentlicht wurde. Brava bravissima!

Armita Geravand, die junge Iranerin, die ohne Kopftuch in die U-Bahn gestiegen ist, ist tot. Eine der traurigen Nachrichten, die uns nicht loslassen.

Die Hamas und die Hisbollah schießen immer noch Raketen auf Israel ab. Dafür ist Treibstoff da, jedoch nicht für die zivile Infrastruktur, nicht für Wasseraufbereitungsanlagen und Krankenhäuser.

Im Westjordanland häufen sich Angriffe militanter Siedler. Die tageszeitung hat darüber berichtet:
Beduinen im Westjordanland. Die Vertriebenen

Beispiele dafür, dass es auch anders geht, liefert Igal Avidan in seinem Buch … und es wurde Licht! Jüdisch-arabisches Zusammenleben in Israel, das in diesem Frühjahr im Berenberg Verlag erschienen ist. Der Autor betont, dass keine Mauer Schutz bietet, ein guter Nachbar aber schon. – Leseprobe → hier (.pdf)

Der israelische Journalist und Autor Igal Avidan berichtet, entgegen der üblichen Fernsehbilder, aus einer bewegten Gesellschaft, in der Juden und Araber längst ein Zusammenleben gefunden haben, das den Vorstel­lungen von ewigem Hass (von Politikern auf ­beiden Seiten gern geschürt) nicht entspricht. Eine friedliche und zugleich brüchige Co-Existenz auf dem Vulkan – davon erfährt man in diesen ­Reportagen aus dem Alltagsleben in Israel. Gewaltsame Übergriffe sind zwar an der Tagesordnung, gegenseitige Hilfe, Solidarität, Nachbar- und Freund­schaft aber auch. (Verlagstext)

Zwei Pressestimmen:

„Avidan suchte das Gespräch mit denen, die Brücken bauen und deeskalieren. Herausgekommen ist ein sehr beeindruckendes Buch.” Almut Engelien, rbb

„Igal Avidans luzide dokumentierte Studienreise durch das arabische Israel zeigt – 75 Jahre nach der Staatsgründung – dass und wie allen Konflikten zum Trotz der heutige Staat Israel ein gelungenes Beispiel (vielleicht auch ein Vorbild) für eine multiethnische Demokratie ist und eben alles andere als ein Apartheidsstaat.” Micha Brumlik, Frankfurter Rundschau

Javier C. Hernández berichtet unter der Überschrift Where Israelis, Palestinians and Iranians Must Listen to One Another für die New York Times aus Berlin über die Barenboim-Said Akademie (31.10.2023, leider hinter einer Paywall).
„We will not bring peace, and we will not solve the world’s problems, as much as we might want to. But we create a space, and that’s what is missing in the world, not only in the Middle East. Places for people to be accepted by the other.” – Katia Abdel Kader, 23, palästinensische Geigerin aus Ramallah.

Möge es Schule machen.

Vierzig Entwürfe

Heute habe ich gesehen, dass die neue Platte von Kimbra, A Reckoning, mittlerweile einen Veröffentlichungstermin hat (27.1.2023), und dass auch das Cover enthüllt wurde, auf dem sie wie die Franz von Stuck’sche Sünde aus der Wäsche schaut. Warum auch nicht. Ob mir die Musik dann am Ende gefällt, ist nicht sicher. Vows, The Golden Echo und Primal Heart haben mir gefallen – A Reckoning … mal sehen. Aber Kimbra als Individualistin, die ihre Musik so macht wie sie es meint, hat so oder so meinen Respekt.
(Der gemeine Hörer wird sie nur als Stimme neben Gotye im Über-Hit Somebody That I Used To Know kennen, der sie seit 2011 verfolgt, wie einst Romy Schneider von ihrer Sissi-Rolle verfolgt wurde, so ungefähr.)

Auf der Arbeit sind gerade wieder einmal die jährlichen performance reviews fällig (self review, manager review, peer reviews).
Please share your accomplishments. What work are you most proud of?
Diese Texte zu schreiben, fünf diesmal, ist kein Vergnügen. Ich habe aber zu einer gelasseneren Haltung gefunden.
Mittwoch muss alles im Kasten sein.

Eine Nachricht, die jüngst die Runde machte, erinnert daran, dass die Erdverwüstung nicht auf Ratschluss der Götter erfolgt, sondern auf Profitinteressen beruht: Sie ist (ursächlich) keine Katastrophe, sondern ein Verbrechen. Es gibt Täter, die namhaft gemacht werden können; vor Gericht bleiben sie straffrei – vorerst.
Das alles ist natürlich nicht neu, und auch ich, der ich mein mit Palmfett gebackenes Plätzchen in den Kaffee soppe, bin schuldig.
Klimawandel. Forscher machen ExxonMobil schwere Vorwürfe (Deutschlandfunk, 12.1.2023)
[Edit. – Weitere Meldungen, um pessimistisch zu bleiben: Deutsche befürworten schnelleren Neubau der Autobahnen (Der Spiegel, 15.1.2023). – Neue Regeln für Parkplatzbau. Parkplätze sollen in Deutschland deutlich größer werden als bisher – so will es das zuständige Fachgremium. Autos würden eben stetig wachsen. (Der Spiegel, 15.1.2023)
Dies steht im Widerspruch zu meiner (positiven) Vision der Mobilität der Zukunft: Abriss aller Autobahnen, Autobahnzubringer, Autobahnbrücken; Renaturierung der Flächen; Abschaffung des Individualverkehrs; regionale Organisation des Arbeits- und Alltagslebens; Umstieg aller Verkehrsteilnehmer auf Eisenbahn, Bus, Fahrrad, Fuß.]

Hier ein weiteres Meisterstück von Miss Grit, bürgerlich Margaret Sohn, aus plural-ihrer schlage ich für den Moment als Übersetzung des englischen their vor Impostor-EP, die vor einem Jahr erschienen ist.

I wish I was blonde
Walking back home I’ll sing along
Tracking their words from all their songs
I don’t hear how I sound wrong

I wish you were calm
You find your voice so fun
Can’t understand no one
When all you can do is talk on

I’ve got nothing to say
I’ve got nothing to say
I’ve got nothing to say
I’ve got nothing to say

I’ve got nothing to say
I’ve got nothing to say
I’ve got nothing to say
I’ve got nothing to say

♪ ♪ ♪ ♪ ♪
♪ ♪ ♪ ♪ ♪
♪ ♪ ♪ ♪ ♪
♪ ♪ ♪ ♪ ♪

Die zwei Strophen, die davon sprechen, dass das lyrische Ich nichts zu sagen habe – kontrastiert von der zunehmend lauter aufspielenden Band – werden im verlangsamten Schlussteil des Songs aufgenommen, aber ohne Worte, mit geschlossenem Mund; die Gesangsstimme ist so stark verfremdet, dass sie nur noch Sound ist. Das ist ein starkes gestalterisches Konzept.

Die nächste Woche wird voll: Buchhandlung, Übersetzer-Stammtisch, Ultraschall Berlin Festival, Arbeiten, Französisch (Skype), und im Kammermusiksaal ist auch was, Mittwoch. Und wollte ich nicht auch meine Kritik weiterschreiben? Wann soll ich das hinkriegen?

Oh, fast hätte ich vergessen, dass ich mich unlängst wie Bolle gefreut habe, als ein selbstgebasteltes Notizbuch der von mir geschätzten Saxophonistin, Komponistin, Dozentin, und was nicht alles, María Grand im Briefkasten lag. Muss ich mich noch bedanken.

Bewölkt

„Guten Tag! Bevor hier Bomben fallen, hätte ich gern noch einen Haarschnitt. Passt Samstag? Grüße! Ohren steif halten!”
„Hallöle … Samstag arbeite ich nicht mehr ! Nächste Woche ab Mittwoch wäre cool, bin noch unterwegs !”

Friseurtermine werden heute über Signal klargemacht.

Mir sind die französischen Ausrufungszeichen aufgefallen, mit der Leerstelle davor, dabei ist sie eine Berliner Pflanze –

Am Toreingang seitlich eine blitzneue Klingel, vom übrigen Klingelfeld etwas abgesetzt: Yvette. Ich schellte, die Tür ging auf. Yvette lenkte mich durch den leergeräumten Salon in einen rückwärtigen Raum, ihren auf zwei Frisierplätze verkleinerten Laden. Ein wandgroßes Farbfoto (Wald), zwei rosa Waschbecken, Haarschneidebesteck, Capes. Den Mantel hängte ich an der Garderobe im Durchgang auf. Keine Haftung, aber außer einem Grüppchen Nachbarn, die auf einer Seite des Vorderzimmers in einem tischlosen Kreis saßen und miteinander plauderten und flachsten, war niemand da und kam keiner rein, war ja auch schon sieben. Der Cut wie immer tadellos, die politischen Ansichten beherzt („an die Wand stellen”, „Dritter Weltkrieg”, die Sorge, andere Länder könnten im Schatten der Schweinerei eigene Schweinereien veranstalten). Ich zahlte fünfzehn Euro und gab ihr erst den Zehn-Euro-Schein, zwinkernd: stimmt so. Sie verabschiedete sich, nahm Bestellungen für den Pizzaservice auf.
Ich gehe seit Jahren zu Yvette, auch wenn ich längst nicht mehr in Moabit wohne.
Ich bin eine treue Tomate.

Der russische Überfall auf die Ukraine am 24. Februar – wohin soll, wohin wird das führen? Unstrittig scheint mir, dass ‚der Westen‘ auf diesen Angriff reagieren muss. Wie eine ‚richtige‘ Reaktion auszusehen hätte, lässt sich vermutlich nicht beantworten. Jede Bewegung wird falsch sein. Es ist immer gefährlich, wenn der Gegner eine narzisstische Persönlichkeit ist (erweiterter Selbstmord nicht ausgeschlossen; bei den anzusetzenden Opferverhältnissen eine unzulängliche Formulierung). Das Beste schiene mir, wenn sich im Land selbst eine Opposition bilden würde: Die Friedensdemonstrationen mit Zehntausenden von Teilnehmern – man wünschte sie sich auch in Sankt Petersburg und Moskau. Aber wegen Androhung und Durchsetzung von Geld- oder Gefängnisstrafen verstehe ich, dass der Protest nicht so stark ist wie bei uns, die wir im Warmen sitzen. Außerdem, verlässliche Informationskanäle wurden gekappt. (Die irregeleiteten Schafsköpfe, die hierzulande über die sogenannten ‚Mainstreammedien‘ quengeln – neben all dem anderen, das sie benörgeln und anfeinden -, könnten ihre Aufmerksamkeit einmal auf die Situation in Russland richten, es wäre sicher eine erhellende Erfahrung.)
Wenn die russische Zivilgesellschaft gestärkt werden kann, sollte dies versucht werden.
Ich wäre auch für einen sofortigen Stop der Öl- und Gasimporte aus Russland, auch wenn das für Deutschland rumpelig werden dürfte. Mit den Einnahmen aus fossilen Energien wird russisches Kriegsgerät finanziert – wer kann das wollen?

Die Entscheidung der Bundesregierung, 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr bereitzustellen, finde ich übrigens richtig. (Ob die Summe gut gewählt ist, kann ich nicht beurteilen.) Wenn sich Deutschland eine Armee hält, sollte sie auch funktionieren.
Ich erinnere allerdings an die Berateraffäre aus Zeiten von Ursula von der Leyen (die auch in ihrem neuen Amt ihre Handydaten löscht, sicher ist sicher).
Wenn Geld fließt, dann muss es eine starke Finanzkontrolle geben. Halsabschneider wie damals Katrin Suder oder Timo Noetzel, die auf Staatskosten Geld scheffeln – und deren Raffgier straflos bleibt -, dürfen keinen Fuß in die Tür kriegen. Auch wundersame Kostenexplosionen (Sanierung der Gorch Fock: aus den veranschlagten 10 Millionen Euro wurden 135 Millionen Euro) müssten ausgeschlossen werden.
Sollte dies nicht gewährleistet werden können, kann man sich das Sondervermögen (die Sonderschulden) sparen.
100 Milliarden für Bildung würde ich ebenfalls befürworten, aber davon ist – noch – keine Rede. Kommt vielleicht noch.

Eine positive Nachricht von heute:

In Deutschland wird gerade eine großangelegte Hilfsaktion für die Menschen in der Ukraine vorbereitet. Laut Bundesverkehrsminister Wissing ist eine so genannte „Schienenbrücke” geplant. Zur Zeit sammele die Deutsche Bahn im ganzen Land Hilfsgüter bei Herstellern und Großhändlern. Die gesammelte Ware werde zu Containerzügen zusammengestellt, die dann in die Ukraine fahren sollen, sagte Wissing der Bild am Sonntag.

rbb info

Letzten Sonntag war ich auf der großen Friedensdemonstration auf der Straße des 17. Juni, habe auch Geld gespendet (nächsten Monat wieder). Heute mache ich nichts, aber nächste, spätestens übernächste Woche nehme ich wahrscheinlich das Angebot meiner Firma wahr, mir ein paar Stunden für soziale Arbeit freizunehmen.

Wie Berliner den Ukrainern helfen können – und was jetzt sinnvoll ist (Der Tagesspiegel, 5.3.2022)

Bald machen wir ein Familientreffen, das erste seit – schätzungsweise – fünf Jahren.
„Norden Süden Westen, zu Hause ist am besten” lautete die betreffende Einladung, die mein Arztbruder herumgeschickt hatte. Ich freue mich, meine Geschwister (nicht alle zehn kommen, aber acht immerhin, einer guckt zu), Neffen und Nichten wiederzusehen – eher eine Seltenheit. Auch Freundinnen und Freunde werde ich treffen, worauf ich mich ebenfalls freue.
Anreise mit dem Zug.
Bei Café Nederkorn am Kapellenplatz in Kevelaer habe ich eine Schwedische Apfeltorte bestellt, die werde ich spendieren, vielleicht auch eine Flasche Fernet-Branca. Meine Brüder trinken eher (wenn Kräuterlikör) Ramazzotti, nicht so mein Geschmack. Fernet-Branca kann man natürlich auch nicht trinken, es sei denn gemischt mit Pampelmusensaft.
Ich fürchte mich ein bisschen davor zu sehen, wie der Kapellenplatz jetzt aussieht. Das alte Kopfsteinpflaster sollte, als ich das letzte Mal zu Besuch war, teilweise entfernt und durch ein rollatorfreundlicheres Material ersetzt werden, auch Linden waren zum Fällen freigegeben worden. Das Eiscafé Europa, in das ich schon als Schüler ging, hat nach Jahrzehnten dauerhaft geschlossen, ebenso das Hotel Zum Goldenen Apfel mit seiner (hoffe ich doch!?) denkmalgeschützten Fassade. Hinter der Fassade wird es sicher brachial umgebaut … Immerhin wird es nicht für einen Tennisplatz abgerissen (nicht nur auf geopolitischem, auch auf architektonischem Gebiet sind Verbrechen zu beklagen). Es kann eigentlich nur ein schrecklicher Anblick sein. Hoffentlich vertreibt es nicht die Dohlen.

PS: Das Video von Kimbra habe ich nachträglich eingefügt. (Einem Kommentar zufolge wurde es in Oaxaca, Mexiko, aufgenommen.) „Woke up in a decent mood, I don’t want to hear the news, turn the volume down. Don’t know if it’s even true, there’s nothing I can do, so turn the volume down” … passt doch ganz gut. Abgesehen von der schönen Melodie, der paradiesischen Landschaft und der erfreulichen Idee von Sommer, die sie transportiert – die Temperatur in Berlin liegt knapp über dem Gefrierpunkt -, finde ich die Schlichtheit des Videos bemerkenswert. Der Kameramann sagt Action, Kimbra sammelt sich einen Moment und fängt an zu singen (den Text hat sie ausgedruckt neben ihrem linken Fuß, schätze ich, das ist okay). Das Mikrophon zweifellos das beste und teuerste, wie es einer professionellen Musikerin angemessen ist, die irgendwann in diesem Jahr ihr viertes Album herausbringen wird. Kimbra ist erst 31 … Die Kleidung, ein weißer Bodysuit, minimalistisch, aber nicht indezent. Unschuld, Schönheit, Verletzlichkeit, Trauer – dies drückt das Video für mich aus. Zum Schluss holt Kimbra tief Luft, als Antwort schüttelt ein Windzug das Grün, dann blickt sie stumm und ohne einen Mucks in die Kamera.

Fall nicht in den Jammersack

Eine Redewendung, die meine Mutter benutzt hat: in den Jammersack fallen – kam mir neulich wieder in den Sinn. Was sie genau bedeutet, weiß ich nicht, ahne aber, bei welchen Gelegenheiten sie angebracht wäre. Problem nur, dass sie vielleicht nicht verstanden wird (wenn das ein Problem ist).

Ich finde, der Verzicht auf
– eine Reichensteuer
– ein Tempolimit auf Autobahnen
– Aussetzung der Schuldenbremse
ist Zugeständnis genug an die FDP in einer Ampelkoalition, da muss Christian Lindner nicht auch noch Finanzminister werden (und der Schrecken der EU – mit Ausnahme Schwedens, Dänemarks, der Niederlande und Österreichs: de vrekkige vier).
„Die Ampel steht auf Gelb”, wo habe ich diese Überschrift gelesen?
„Jetzt fehlt noch die Kohle”, titelte die taz am wochenende.

Der neue Song von Adele, Easy On Me, hat bei YouTube schon 67 Millionen Aufrufe – oder ist da ein Bot am Werk?
Ich habe mir auch die neue Single von James Blake angehört, aber diese englischen Sänger … Heulbojen (Thom Yorke, Chris Martin), immer leidend oder euphorisch, ich kann das nicht gut hören.

Über ihren Newsletter schickte Kimbra Johnson einen Download-Link zu ihrem neuen Song, den sie gestern veröffentlicht hat, verbunden mit den großzügigen Zeilen:
„Whichever way you chose to get involved, the song is yours. Go copy it, upload it, share it, leak it, whatever you want.”
Der Betreiber des YouTube-Kanals Kimbra Fans Forever hat sich das nicht zweimal sagen lassen und Different Story postwendend hochgeladen, mit der visuellen Umsetzung (sozusagen das Bad einlassend und zugleich das Kind hineinsetzend) von Patrick Rowe, die von Kimbra als sogenanntes Nun-Fungible Token (digitales Eigentumszertifikat) gedacht war und nur in einer Auflage von fünf Exemplaren existiert – vielleicht durch Kimbras Worte legitimiert, wer weiß.

Nachdem ich große Freude an dem Roman Der Sonnenschirm des Terroristen von Iori Fujiwara hatte – sehr zu empfehlen -, habe ich mir aus dem Programm des Cass Verlags zwei weitere Bücher ausgeguckt: Aufzeichnungen eines Serienmörders von Kim Young-ha und Das Romanverbot ist nur zu begrüßen von Seiko Ito.
Nicht, dass ich sonst nichts zu lesen hätte: Modellfliegen (Marcel Möring), Das Haus mit den sieben Giebeln (Nathaniel Hawthorne), Streulicht (Deniz Ohde), Unter Orangen (Norbert Lange), Der dritte Versuch (Julia Veihelmann) … liegt alles hier und will gelesen werden, und noch mehr, und noch mehr dazu.

Ich würde gern einmal das Polarlicht sehen, in den Norden Finnlands und auf die Orkney Inseln reisen. Konkret plane ich aber eine Fahrt zum Niederrhein, wo ich lange nicht war.

Kaoss Pad (Partymix zur Wahl)

(Die Überschrift bezieht sich auf das Effektgerät, das Kimbra im unten verlinkten Song – Miracle – bedient.)

Jemand sagte neulich, als Bundesumweltministerin habe Angela Merkel gemahnt, wir bräuchten das Drei-Liter-Auto, und als Bundeskanzlerin habe sie dann den SUVs den Weg gebahnt, von denen von Jahr zu Jahr mehr zugelassen werden.
Andreas Malm beginnt sein Buch Wie man eine Pipeline in die Luft jagt mit einem Zitat des englischen Schriftstellers John Lanchester, der sich in einer Sammelrezension für die London Review of Books bereits 2007 darüber verwundert zeigte, dass sich die Klimaaktivisten bislang so brav verhalten haben anstatt zu militanten Strategien überzugehen wie z.B. das Zerkratzen von SUV-Fahrertüren mit einem Schlüssel:
„[…] in a city the size of London, a few dozen people could in a short space of time make the ownership of these cars effectively impossible, just by running keys down the side of them, at a cost to the owner of several thousand pounds a time. Say fifty people vandalising four cars each every night for a month: six thousand trashed SUVs in a month and the Chelsea tractors would soon be disappearing from our streets. So why don’t these things happen?”
Gut, für mich wäre das nichts, aber ich würde mich öffentlich darüber freuen, falls es jemals geschehen sollte. Einstweilen tun’s auch Aufkleber, die das Bild eines Erdballs in Flammen mit dem Satz „Ich bin ein Verbrenner” kombinieren (gestern auf der Demo gesehen). Oder die – immerhin – Versechsfachung der Parkgebühr für Automobile, die schwerer als ich weiß nicht wie viel Tonnen sind, wie sie der Tübinger Oberbürgermeister kürzlich durchgesetzt hat. Auf ein Fahrverbot von SUVs in Innenstädten können wir aber vermutlich lange warten, das wäre auch eine effiziente Maßnahme, um der Plage Herr zu werden.

Die Rede von Greta Thunberg habe ich seltsamerweise verpasst, obwohl ich pünktlich am Bundestag war. Wann hat sie sie gehalten? Zu Beginn oder am Ende der Demonstration? Auch Luisa Neubauer: nicht mitgekriegt. Das Grußwort von Maja Göpel aber wenigstens doch, auch eine prägnante Rede von Emilia Roig.
20000 Protestierende waren in Berlin angemeldet gewesen, die tatsächliche Teilnehmerzahl lag deutlich höher, je nach Schätzung bei rund 50000 bis 100000 Leuten, wobei die kleinere Zahl natürlich von der Polizei stammt.
Ich kann nur hoffen, dass auch weitere Streiks und Aktionen von Fridays for Future und anderen Gruppen der Klimabewegung viel Zulauf, viel Unterstützung haben werden. – Ich dachte an eine Formulierung, die vor ein paar Tagen Robert Mattheis hingeworfen hat, lässig: in den Abgrund gähnen. Das fand ich eine hervorragende Zustandsbeschreibung. Wir blicken in einen (gähnenden) Abgrund, und was wir tun ist: gähnen. (Wir – damit meine ich diejenigen, die dringend ihren (selbst-)zerstörerischen way of life ändern müssen.)
„Und immer gibt es Leute, die bringen den Ernst, der angebracht ist, nicht an”, möchte ich den großen Uwe Johnson (aus dem Gedächtnis) zitieren.

„HUCH! Alles kaputt” (Plakat beim Klimastreik gestern)

Nach dieser langen Vorrede: Morgen ist Bundestagswahl.
Wenn mich meine Erinnerung nicht trügt, gab es bei vergangenen Bundestagswahlen schon zwei Mal eine rechnerische Mehrheit für Rot-Rot-Grün. Die Aussichten, dass morgen aller guten Dinge drei werden, stehen nicht schlecht – „Linksrutsch jetzt!” (Plakat) -, aber da die Linken von allen anderen Parteien als Schmuddelkinder angesehen werden, müssen sie wohl wieder an den Katzentisch. Sehr bedauerlich, und sehr dumm. Bleibt zu hoffen, dass Armin Laschet abblitzen wird. Wer noch im Jahr 2020 ein Steinkohlekraftwerk eröffnet, darf keine Verantwortung übertragen bekommen, so einfach ist das.
Was immer die Verhandlungen nach der Wahl ergeben werden, einige der Lobby-Minister werden nicht mehr weitermachen: Peter Altmaier, Andreas Scheuer, Julia Klöckner, das ist schon mal beruhigend. Auch das Milchbrötchen aus dem Außenministerium dürfte seinen Posten verlassen. Jetzt schnell noch ein paar Leute befördern!

In Fortsetzung einer Tradition hier eine kleine Musikzusammenstellung, wird möglicherweise noch erweitert. Die Belgierin (Belgien, yeah!) Charlotte Adigéry tauchte in der Playlist der NY Times auf, ihr Compagnon, Bolis Pupul, trägt ein T-Shirt mit ihrem Bild, ihrerseits ein T-Shirt mit seinem Konterfei tragend, am Schluss schütteln sie sich die Hand.
Kimbra mit einem poppigeren ihrer Songs, recht zurückhaltend gesungen, aber die Spitzen exakt getroffen, was bei der anderen Studioaufnahme – von Yelle – leider nicht der Fall ist, aber eigentlich macht es auch nichts, wir wollen ja keine Maschinen. Mir gefällt der fröhliche Blödsinn, den sie und ihre Schlagzeug-Elektro-Partner veranstalten. (Der modische Auftritt von Charlotte Adigéry, Kimbra und Yelle ist hervorzuheben – prima!)
Claire Laffut, Tip von Deutschlandfunk Kultur, genau dies Lied. Heisere Stimmen hab ich immer gern.
Wiki und Navy Blue, wieder aus der erwähnten Playlist geklaut. (Wiki ist der mit den eingeschlagenen oder weggerauchten Zähnen.)
Nach dem Tod des Gang of Four-Gitarristen Andy Gill gab es ein Tribute-Album, daraus das Stück Forever Starts Now, gefolgt von einem Original von anno 1979. Es klingt kein bisschen angestaubt.
Metronomy mit einem Lied zum Sonntag, das die Sonntagsstimmung ganz gut wiedergibt, finde ich.

Charlotte Adigéry & Bolis Pupul High Lights *** Kimbra (Live at Radio New Zealand) Miracle *** Metronomy Month of Sundays *** Yelle Complètement fou (Live on KEXP) *** Claire Laffut Vérité *** Wiki feat. Navy Blue Can’t Do This Alone *** Gang of Four (Killing Joke Dub) Forever Starts Now *** Gang of Four Natural’s Not in it *** Kelly Lee Owens Arpeggi *** Charlotte Adigéry & Bolis Pupul The Best Thing

Leichtmütig bleiben

– eine Übung.

[gestrichen]

Eine weitere Mail, schon einige Tage her, von Kimbra, mit der schwungvollen Anrede: „Kimbro’s!”
Sie beeilt sich, hinzuzufügen: „IRL I call everyone bro (it’s a very Kiwi thing) so feels apt.” – Wieder eine Abkürzung, die ich nachgucken muss, aber kein Problem. In real life.

„… features some of the most evocative processed vocals since Imogen Heap’s „Hide and Seek.“ ” – Heather Phares, AllMusic

Im wesentlichen verkündete sie, dass dies Jahr neue Musik von ihr erscheinen wird.
Sie verlinkte auch einen Podcast, Switched On Pop, eine knappe Stunde über einen zehn Jahre alten Hit und über das, was für sie daraus folgte. „I just believed in the power of possibility” – vielleicht durch das Alter begünstigt, sie war damals 20 oder 21 Jahre alt.

Ich lese zur Zeit (wieder) eine Fragment gebliebene Erzählung Mallarmés, Igitur ou La Folie d’Elbehnon. Igitur ist als Personenname zu verstehen, ebenso (wahrscheinlich) Elbehnon. Mallarmé hat vor allem in den Jahren 1869/1870 an dem Text gearbeitet, möglicherweise auch schon früher und später noch. Die Editionslage ist kompliziert, das Buch vermittelt einen Eindruck davon, indem zum Beispiel eingangs eines Absatzes vermerkt ist: [fos 32 ro, 33 ro, 34 ro, 35 ro, 36 ro], was heißt, dass sich der gedruckte Text auf den jeweiligen Vorderseiten der genannten Blätter eines wohl recht unübersichtlichen Manuskripts befindet, das insgesamt ungefähr fünfzig Blätter umfasst, in verschiedenen Größen, mal mit Tinte, mal mit Bleistift beschrieben, und natürlich mit Durchstreichungen, Überschreibungen … Die erste Edition datiert von 1925, Herausgeber war Dr. Edmond Bonniot, Mallarmés Schwiegersohn. Ich lese die neuere von Bertrand Marchal. [Sie basiert auf der von ihm erarbeiteten zweibändigen Mallarmé-Werkausgabe in der Bibliothèque de la Pléiade (1998/2003). Inzwischen (2006) hat der schottische Mallarmé-Forscher Gordon Millan den Text neu herausgegeben, siehe – bei Interesse – hier.] Während sich le Dr Bonniot darum bemüht hatte, eine glatte Lesefassung herzustellen, liefert Bertrand Marchal mehr einen Bausatz, beispielsweise enthält ein Kapitel gleich fünf, mit griechischen Buchstaben ’numerierte‘, Versionen der Szene, wie Igitur (Also) das Zimmer verlässt, um sich in den Keller des Hauses zu begeben, wo es einen Würfelwurf auszuführen gilt.
Auch die gestrichenen Passagen bleiben erhalten, werden nur als solche kenntlich gemacht.
Mallarmé ist eine mysteriöse, sich entziehende Gestalt. Als vor einigen Jahren eine Biographie über ihn erschien, war eine Kritik überschrieben: „Mallarmé gets a life.”

Im Fernsehen war ich sehr von der norwegischen Serie Beforeigners angetan, die davon handelt, wie weltweit – auch in Oslo – Flüchtlinge aus vergangenen Zeiten ankommen, Wikinger, Steinzeitmenschen und Leute aus dem 19. Jahrhundert, die sich, so gut es geht, in die Gesellschaft einfügen und, darum geht es in erster Linie, der Osloer Polizei bei der Verbrechensaufklärung helfen. Originell, witzig, gut gemacht.
Da ich Zarah – wilde Jahre und Unit 42 bereits gesehen habe, zur Zeit keine weitere Serienkost für mich (was sonst im Angebot ist, spricht mich nicht an).

Mit meiner Schwester bei Dussmann, wo ich mir das neue Album von Françoiz Breut gekauft habe, Flux Flou de la Foule. Daraus hier die Single.

Heute nachmittag lag wie eine hübsche, wenngleich überraschende, Bordüre eine Ringelnatter vor dem Eingang zum Wohnzimmer, züngelnd. Sie nahm in einer schönen Schlängelbewegung etwas Abstand zum Haus, kroch dann die Mauer entlang, die die Terrasse vom Garten trennt, und entschwand durch eine schmale Öffnung ins Grüne. Très joli!

re Apollinaire

Anfang des Jahres hatte ich mich an einem Übersetzungswettbewerb beteiligt, im Juli wurde die Preisträgerin gekürt, Françoise Sorel – herzlichen Glückwunsch!
Die FAZ hat ihre Übersetzung zweier Liebesbriefe von Guillaume Apollinaire an seine Geliebte Louise de Coligny-Châtillon alias Lou mit einem lesenswerten kleinen Essay von Marie Luise Knott abgedruckt, siehe -> hier.
Apollinaire verwendet den Namen Lou in Verbindung mit dem männlichen Artikel: Lou ist phonetisch mit loup (Wolf) identisch. Die Entscheidung der Preisträgerin, stattdessen ein anderes Tier ins Spiel zu bringen, nämlich den Luchs, ist clever – Lu – Lux. Ob Luchs ein Kosewort unter Liebenden ist, wage ich nicht zu beurteilen. Apollinaire hatte fraglos den Wolf im Sinn, aber für jemanden, der nicht weiß, dass lou(p) Wolf heißt, ist Luchs möglicherweise plausibler. – Sartre hat Simone de Beauvoir castor (Biber) genannt, also was soll’s.

Hier meine Übersetzung:

10. Xber 1914

Mein Wölfchen, ich schreibe Dir aus der Kantine. Das Papier hat schon Flecken, bald wird es noch viel mehr davon haben, aber nur hier habe ich in dem ganzen Tohuwabohu ein wenig Ruhe. Heute morgen Aufstehen bei Nacht, Appell im Regen. Zwischendurch Kaffee, nach dem Appell gibt man Brot und eine Tafel Schokolade an uns aus. Der Brigadeführer stellt mich mit einem anderen Soldaten für den Küchendienst ab. Um halb sieben zeigt man mir das Satteln im Stall, der wie Liebe duftet. Um halb neun in der Reitbahn, wo ich sehe, wie meine Kameraden den Pferden auf den Hintern schlagen. Ich werde nachmittags gehen. Um 9 ½, Marschübung, man lässt mich gesondert exerzieren. Um halb elf hole ich mir die Suppe und den Fraß in der Küche. Nicht sehr lustig. Alle futtern. Ich bringe die Schüssel mit den Essensresten allein zurück, ich mache mich so schnell wie möglich aus dem Staub, damit man mich nicht diesen Dreck auskratzen lässt. So steht’s, Wölfchen. Ich habe nur noch ein paar Minuten, ich esse eine Birne und trinke einen Schoppen. Um Viertel vor zwölf muss ich gewaschen und rasiert sein, um zu satteln. Es ist Viertel nach elf. Das Quartier ist bis 5 ½ h zugesperrt. Wölfchen, ich verspreche Dir, Dich mein Leben lang zu lieben und nie jemand andern zu lieben als Dich. Du bist meine einzige Frau auf immer und ewig, ewig werde ich Dir treu sein. Ich erhielt die beiden Karten im Umschlag und habe sehr gelacht.
Heute nacht, Lou, habe ich bemerkt, dass meine Kette gerissen war. Alle Medaillons waren in meinem Bett verstreut und ich habe sie alle eines nach dem anderen aufgelesen, eingezwängt in meinem kleinen Bett, dann steckte ich sie in mein Portemonnaie. Deine habe ich lange geküsst, Wölflein. Ich denke an Dich, an Deinen herrlichen Körper, an Deine liebe Seele, die so einfach ist und so tief. Auf Wiedersehen, kleiner Wolf, auf bald.
Ich werde arbeiten.
Man hat mir das Paket ausgehändigt. Mein Wolf ist köstlich, mein Wolf ist alles für mich, meine Lippen sind für immer mit Deinen vereint, Liebe, Du, liebster Teil meiner selbst. Ich trinke mein letztes Glas Wein auf Deine Gesundheit und küsse Dich von ganzem Herzen.
Bis heute abend.

Guillaume Apollinaire
und Guillaume Kostrowitzky
2er Geschützführer
38stes Artillerieregiment
78ste Batterie
Nîmes

24. Mai 1915

Nach einigen Tagen Ruhe erleben wir heute in der Pfingstnacht unser blaues Wunder. Es ist ein Uhr früh. Gestern morgen besuchte ich unsere Artilleristen, die in die Schützengräben abkommandiert waren. Ich brachte ihnen den Sold. Toller Spaziergang. Pferd bei den Küchen gelassen. Zurück über Wiesen, die buchstäblich golden von Butterblumen waren. Ich hörte dumpfes Kanonengrollen. Auf der Straße sehe ich eine reizende kleine Ringelnatter mit gelbem Ring, als ich sie berührte, richtete sie sich sehr tapfer auf und züngelte, sie kroch, indem sie sich mal so, mal so wand, [Piktogramm Schlange] oder [Piktogramm Schlange].
Da kommt ein Militärbischof angeritten, ich hatte ihn nicht kommen hören. Ich höre:„Suchen Sie Spuren oder eine Fährte?“ Ich hebe den Kopf und sehe einen alten Mann mit weißem Bart, Augen sehr sanft, Polizeimütze mit vier goldenen Winkeln, großes veilchenblaues Ding um den Hals, Bischofskreuz auf der Brust, schwarze wallende Soutane, schwarze Lackstiefel, Sporen. Ich antworte: „Ich sehe mir eine Ringelnatter an.“ Er sah mich mit sehr sanften Augen an und ritt vorbei. Auch die Ringelnatter machte sich davon, guter kleiner Geist, den ich als gutes Omen nehme, zurück dann gegessen, darauf in den Park, um das Konzert zu hören, von dem ich Dir erzählt habe, dann heimgekehrt, Briefe, nichts von Dir, dafür der Brief eines Freundes, ein interessanter italienischer Schriftsteller, interessanter als der künstliche D’Annunzio mit seinen überlebten Reizen einer alten Kokotte. Ich schicke Dir den Brief in einem anderen Umschlag, adressiert an G. Apollinaire. Dann zum Abendessen in der Stadt, ich war eingeladen (1), ich habe reizende Mädchen gesehen, die eine vor allem wirklich entzückend und sehr sehr kokett, aber mit mir nichts zu machen, die Keuschheit selbst, dann gab man telefonisch die Entscheidung Italiens durch (2), und ich trottete nach Hause. Um ein Uhr hat die ganze Front eine Ehrensalve abgegeben, zu Ehren des neuen Verbündeten, es war prachtvoll, die Nacht war hereingebrochen, die Schützengräben waren von Jubel erfüllt. Und jetzt schlagen die Boches zurück – Ich kann es kaum erwarten, die Zeitungen zu lesen, um zu erfahren, was sich an der neuen italienischen Front tut, nach der Kriegserklärung. Natürlich wird das viele von den Boches beschäftigen. Na, um so besser, je mehr Leute mitspielen, desto kürzer, hoffe ich, wird der Krieg dauern, und um so früher werden wir zu unseren häuslichen Beschäftigungen zurückkehren können.
Ich könnte mir vorstellen, dass die Deutschen jetzt versuchen werden, mit aller Gewalt ihre ganze Flotte gegen England aufzufahren, um zu versuchen, es zu brechen, seine Seemacht zu zerstören.
Ich habe mich fotografieren lassen, als ich vom Konzert zurückkam, von einem Unteroffizier der Jäger, den ich kenne, ich bin bei Berthier, der das Krankenrevier verlassen hat und der mit mir beim Konzert war. Wenn das Foto gelungen ist, werde ich es Dir schicken.
Auf dem Weg zum Konzert kam ich durch ein Dorf, in dem Teile der Truppe untergebracht sind, ich sah an der Kirche ein Schild mit der Aufschrift „Gefängnis“, es schaudert einen, vor allem, wo man jetzt sehr sehr streng ist.
So viel f. heute, auf Wiedersehen, mein Wölfchen, bis morgen, ich schicke Dir ein Insekt, es ist ganz golden, ein Fund aus den Schützengräben. Ich weiß nicht seinen Namen.

Gui.

Aus: Guillaume Apollinaire, „Lettres à Lou“ © Éditions Gallimard, Paris, 1969

1) Wahrscheinlich beim Buchhändler Henri Matot, dessen Geschäftsbogen er für diesen Brief verwendet hat.
2) Der Kriegseintritt Italiens, der seit einigen Tagen erwartet worden war, trat am 24. Mai in Kraft.

Aus einem Brief:

„Ich habe ein weiteres Argument gegen das Übersetzen (als Tätigkeit für mich) gefunden: Ich würde immer wieder im Deutschen landen. Mein Plan ist aber, ins Französische abzuspringen und dort zu bleiben. Also glaube ich, dass es nicht falsch gedacht ist, wenn ich möglichst viel Französisch lese und höre, hin und wieder auch spreche – und bei Gelegenheit nach (z.B.) Lyon fahre, um dort, so Gott will, mehr zu lesen, zu hören und zu sprechen.
Eine App serviert mir jeden Tag ein Mot du jour: le facteur, l’enquête, le banc des accusés …
Das Französische (Italienische, Englische) ist mein Privatvergnügen und ein soziales Interesse mehr denn ein berufliches.”

Aus einem Brief:

„Schade, dass Du die Ergebnisse des Übersetzungswettbewerbs nicht weiter verfolgt hast. Aus Respekt vor Deinem Engagement ist es doch spannend zu sehen, wie bestimmte Stellen ‚offiziell‘ übersetzt worden sind. Das kann doch zur Weiterbildung beitragen. Autodidaktsein heißt ja, Erfahrungen nie als Niederlage anzusehen, sondern prinzipiell als Chance, was dazu zu lernen, auch wenn man gar keinen Plan hat, wozu so ein Wissen nützlich sein könnte.”

Chairlifts Caroline Polachek (Chairlift – Amanaemonesia, Bruises, Ghost Tonight, Met Before u.a. – haben sich 2017 getrennt) hat ein neues Video draußen, wie ich aus der jüngsten Playlist der New York Times erfahren habe: Bunny Is A Rider. Im Rahmen der vorgestellten Songs einer der besseren. Dennoch ist Kimbra – die hinsichtlich Experimentierfreude manchem Jazzer voraus ist – für mich interessanter, sie steht ihrem Idol Prince in nichts nach und geht doch eigene Wege, z.B. rauht sie in der Stockholmer Live-Aufnahme von Version of Me den Sound zum Schluss hin immer mehr auf und bewegt sich so weit in Richtung Industrial, wie es im Pop noch gerade erlaubt sein mag. „Letting her inner Trent Reznor out! Superb”, schreibt dann auch ein Kommentator in Anspielung auf Nine Inch Nails.
Das strahlend-schimmernde, makellos produzierte Waltz Me to the Grave – Schluss-Stück von The Golden Echo (2014) – steigert sich zur knalligen Hochglanz-Oper inclusive Chor und (Synthie-) Streichern, ändert dann (4:45) recht abrupt den Charakter, der Gesang plötzlich piano (5:10), dann ganz weg (5:35), ein langes Ausklingen bis 7:20, gefolgt von zehn Sekunden Stille. Ein ungewöhnlicher Popsong, und natürlich zu lang fürs Radio, wo Kimbra aber ohnehin keine Rolle spielt – vermutlich ist ihre Musik nicht überraschungsarm genug.

Hier nun aber wirklich – als Post – ein Song von Mrs. Johnson, Goldmine. Das Video hat Chester Travis geschaffen, der auch für das Video zu Like They Do on the TV zuständig war.

Frühjahrsbelebung

Im rbb inforadio hörte ich heute morgen einen Bericht der ARD-Korrespondentin für Nordwestafrika Dunja Sadaqi über eine Kautschukplantage in Kamerun -> Kautschuk-Anbau in Kamerun. Greenwashing bei der Deutschen Bank?, für deren Ausbau am Rand eines Biosphärenreservats die Deutsche Bank („Eine neue Zeit braucht neue Antworten. Wir haben sie”) dem Konzern Halcyon Agri Corporation einen Kredit von 25 Millionen US-Dollar gewährt hat.
Wie einem diesbezüglichen Bericht von Greenpeace zu entnehmen ist, geschah dies in bester Absicht:
„Vertraglich wurden dabei Ziele zur Verbesserung der Nachhaltigkeitsstandards bei der Bewirtschaftung ihrer Kautschuk-Plantagen in Kamerun und Malaysia vereinbart”, so ein Unternehmenssprecher.
Wie sich das in der Wirklichkeit ausnimmt, davon gibt das Beitragsfoto auf erwähnter Greenpeace-Seite einen ungefähren Eindruck.
Die Umweltschutzorganisation hat den Facebook-Kanal der Bank gespammt, um diesen Skandal anzuprangern – ob’s hilft? Negative Publicity kann jedenfalls nicht schaden.

Übrigens habe ich beschlossen – wie im letzten Beitrag angedeutet -, via atmosfair vierteljährlich eine CO2-Kompensation zu zahlen (‚kompensieren’ – vermutlich eine Selbsttäuschung).
Mir liegt daran, dass es besser wird auf der Welt!
Werde trotzdem einmal nachhören, welche Bäume gepflanzt werden, denn irgendwo habe ich aufgeschnappt, dass für Wiederaufforstungen häufig Eukalyptus verwendet wird, der viel Wasser zieht, das dann den Leuten fehlt.

Was würde Bruno Manser zur Lage des Waldes sagen?
Nicht auszuschließen, dass sein – mutmaßlicher – Tod in Malaysia auf das Konto ebenjener Firma Corrie MacColl geht, der die Deutsche Bank ihren schmutzigen Kredit gegeben hat, damit sie auf ihren wachsenden Kautschuk-Plantagen in Kamerun und Malaysia den Kahlschlag, wie bisher, nachhaltig betreiben kann.

Eine positive Nachricht inmitten dieser fortgesetzten Tragödie ist, dass sich das französische Parlament dafür ausgesprochen hat, Ökozid zum Straftatbestand zu erklären, worüber in diesem Monat die Nationalversammlung abstimmen wird. Ich wünsche viel Erfolg! – und auf dass das Beispiel Schule mache.
In Deutschland werden es Minister P. Altmaier und Ministerin J. Klöckner zu verhindern wissen, doch ihre Zeit wird mit der kommenden Bundestagswahl ablaufen (wie auch die von Straßenbau-Champion A. Scheuer, Gott sei Dank).

Was sonst geschah: Ich habe mir nach vielen Jahren mal wieder eine Germanistik-Vorlesung an der Freien Universität Berlin angehört (online) – prima! Muss ich mir aber noch mal zu Gemüte führen.
„Alle Hände voll zu deuten haben”, habe ich (u.a.) mitgeschrieben.
Gestern lud Kimbra kurzfristig zu einem Chat ein, der um 23.00 Uhr Berliner Zeit stattfand (17.00 Uhr New Yorker Zeit).
Sie wollte die Meinungen ihrer Fans zu einer noch zu treffenden künstlerischen Entscheidung einholen (I’d love to get my core fanbases‘ thoughts!).
Die Teilnehmerzahl lag um 50, viele Leute aus Europa, schien mir, alle tippten fleißig ihre Kommentare.
Schlechte Internetverbindung.
Unabhängig von der Musikindustrie produzieren und veröffentlichen.
Dafür sind wir da!, wurde in die Kommentarspalte getippt.

Hier nun aber ein schöner, majestätischer Song von Julia Holter (auf die sich mein Fantum ebenfalls erstreckt) aus ihrem letzten Album Aviary.
Vielleicht höre ich die falschen Sender, aber Musik dieser Qualität begegnet mir nie, wenn ich das Radio einschalte. Mein Verdacht ist, dass der Maßstab der Redaktionen ist: Wir spielen nicht die Musik, die gut ist, sondern die, die nicht so mies ist, dass die Leute abschalten.
À propos: Ich kann es der Komponistin Rebecca Saunders nicht verzeihen, dass sie als einziges Pop-Stück in der ihr gewidmeten Ausgabe der Zwischentöne ausgerechnet das unsägliche Killing me softly der Fugees spielen ließ – der Ausverkauf des Ausverkaufs /smh.
Zu solcher Ignoranz fällt mir nichts mehr ein.

Julia Holter tauchte neulich im Fernsehen auf, in Tracks: Die Ungerechtigkeiten des Musikgeschäfts. Sie war dort auf einer Demonstration in Los Angeles zu sehen, im Rahmen eines internationalen Protesttags gegen den Verteilmechanismus der Streamingdienste. Auf Plakaten wurde 1 Cent per Stream gefordert – jetzt sind es 0,02 oder 0,03 Cent, wenn ich mich richtig erinnere.
„Beutet uns nicht aus mit euerem Algorithmus!” (Transparent auf der Berliner Demo).

Kimbra Like They Do On The TV

Ich bin neugierig, wie das Königsdrama ausgeht, sagte ich zu Dr. B., den ich heute nach längerem mal wieder gesehen habe (er lebt also noch). Aber jetzt haben wir ja eine Königin! erwiderte er gutgelaunt und schob sich vor den Sachbuch-Neuheitentisch, wo er natürlich nichts für ihn Interessantes fand.
Dr. B. lässt wenig gelten.
Bücher drucken ist zu einfach, befand er.
Von Königen zu reden, war im Falle von Herrn L. und Herrn S. natürlich maßlos übertrieben. Wie mir diese Alphatierchen auf die Nerven gehen! Sollen sie nach Hause und schmollen!
Besonders staunte ich über die Darbietung des Franken. Der Narzisst liebt es zu zerstören! Dass er mit einem Privatflugzeug von München nach Berlin geflogen ist (und zurück), ist nur ein weiterer Beweis für seine Skrupellosigkeit.

NB. Ich habe noch einmal nachgesehen, wie viel Staatshilfe das Touristikunternehmen TUI 2020 und 2021 erhalten hat: 4.8 Milliarden Euro laut Süddeutsche(r) Zeitung. So wird das nichts mit den Klimaschutz-Zielen!
Hatte ich nicht neulich schon Günter Eich zitiert?
„Denke daran, daß nach den großen Zerstörungen / jedermann beweisen wird, daß er unschuldig war.”
Wie listig von ihm, diese Worte über den Äther zu schicken, als gerade alle damit beschäftigt waren, Buttercremetorte zu essen und Cognac zu trinken, oder kam das erst später?

Nachdem Fixpoetry leider seinen Dienst eingestellt hat, habe ich meinen sehr geringen monatlichen Förderbeitrag nun umgeleitet zu einer in New York lebenden Musikerin namens Kimbra Lee Johnson, die ich schon seit einigen Jahren höre. Mit einem Plattenvertrag von Warner Bros. in der Tasche, muss sie hoffentlich nicht darüber nachdenken, sich einen anderen Beruf zu suchen, aber weiß man’s?
Ihr Fanclub bei Patreon (dem ich nun angehöre) weist eine erstaunlich geringe Mitgliederzahl aus [280, Stand 22.4.2021], wenn man bedenkt, dass ihre Zusammenarbeit mit Gotye 1.6 Milliarden Aufrufe bei YouTube hat – Somebody That I Used To Know trug ihr und ihrem Landsmann (ich korrigiere: Gotye ist Australier belgischer Herkunft, Kimbra ist Neuseeländerin) einen Grammy ein: kein Geringerer als Prince hat ihn damals überreicht.

Hier ein Stück aus ihrem Album Primal Heart, das an einem 20. April (2018) erschien – daher die Anspielung zu Anfang des Videos, bei dem ich mich übrigens frage, ob es in Berlin gedreht wurde. Diese kaputte Ostigkeit kommt mir irgendwie bekannt vor.

Glückwunsch an Ann Cotten zum Gert Jonke-Preis!
Heute erschien ihre Übersetzung von Pippins Tochters Taschentuch von Rosmarie Waldrop, die für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert wurde.

Unkategorisierbare Fehler

Die Praktikantin, die nach Feierabend die Bücher des Verlags vorbeibringt, für den wir ausliefern (wir liefern für zwei Verlage aus, von daher ist mein Satz ungenau, aber das ist er sowieso), ist Österreicherin. Sie nimmt die Bücherpacken aus ihrem roten Stoffbeutel und verabschiedet sich mit einer freundlichen Höflichkeit, die in Berlin Seltenheitswert hat.

Was die Leute kaufen: Sigmund Freud, Unglaube auf der Akropolis. Ein Urtext und seine Geschichte, Klaus Heinrich, wie eine religion der anderen die wahrheit wegnimmt, Elif Shafak, Hört einander zu!, Donatella Di Cesare, Souveränes Virus? Die Atemnot des Kapitalismus, Franziska Meier, Besuch in der Hölle. Dantes Göttliche Komödie, Andreas Reckwitz, Das Ende der Illusionen. Politik, Ökonomie und Kultur in der Spätmoderne, Slavoj Žižek, Ein Linker wagt sich aus der Deckung. Für einen neuen Kommunismus, Dirk von Gehlen, Meme.

Bildungsbürgertum, ich sag’s ja.

Kohlhaases Erfindung einer Sprache und andere Erzählungen hätte ich auch verkauft, ist aber gerade im Nachdruck und wird erst Ende April/Anfang Mai wieder lieferbar sein, wie ein Anruf bei Prolit ergab.

Kein Wunder, dass ich abends müde bin.

Nach ungefähr vier Stunden wurde ich von einem leisen Knall geweckt.
Zwanzig vor drei, verriet mir das Display. Die PK war noch brühwarm.
Smartie war natürlich zur Wandseite hin gefallen.
In den Nachrichten stach das Wort „Intensivbetten” heraus.
Auf den letzten Stufen zum Bad schon das Morselicht der elektrischen Zahnbürste auf der Ladestation.
Um halb fünf wieder hingelegt, nicht aus Müdigkeit, sondern aus Vernunft, um acht das Wecksignal, halb neun auf. Kaffee, Arbeit, noch mal Kaffee.
Ich habe ein kräftiges Über-Ich.
Irgendwann mittags fiel mir ein, dass ich am frühen Abend eine kleine Präsentation zum Thema „Uncategorizable Errors” für einige der US-Kolleg*innen machen sollte. Das hat mich ein bisschen gestresst, denn ich rede nicht gern, und Erklären ist auch nicht meine Sache, aber es lief dann ganz gut, unkategorisierbare Fehler hab ich ja öfter.

Ich werde meine Ostereinkäufe Montag, spätestens Dienstag erledigen.

„Diese Zahl von 100.000 Satelliten ist leider realistisch.”
(„Vor lauter Satelliten keine Sterne mehr. Megakonstellationen bedrohen Astronomie”).