Wie Schafe, nach oben guckend

Der Titel ist die (eine) Übersetzung des zweiten Stücks aus dem spektakulären Live-Album The Berlin Concert (2018) von Angelika Niescier, Christopher Tordini und Tyshawn Sorey: „Like Sheep, Looking Up”.

Wie verschiedentlich angemerkt, braucht ein Blogger Überschriften. Was in den Posts steht, geht oft in eine andere Richtung.

Als im Soundcheck, der freitäglichen Sendung von rbb radio eins, in der vier Musikjournalistïnnen über neue Alben diskutieren, Julia Holter mit Something in the Room She Moves an der Reihe war (Folge vom 29.3.), bin ich leider eingeschlafen – (selbstverständlich) nicht, weil mich das Thema gelangweilt hätte, sondern weil ich einige Tage lang früh, zwischen fünf und sechs Uhr, wach war, oder sogar noch etwas davor, was beileibe nicht das ist, was die Italiener levataccia nennen, aber doch ein zeitiges Aufstehen bedeutet, wenn man selten vor Mitternacht, also zum Beispiel um eins, ins Bett geht.
Am nächsten Tag habe ich nachgesehen, wie die Wertung ausgefallen war:
1 x Hit, 2 x geht in Ordnung, 1 x Niete.
„Niete” verstehe ich nicht und scheint mir eine Frechheit gegenüber einer Künstlerin, die, seit sie Musik macht – Eating the Stars erschien, noch unter dem Namen Julia Shammas Holter, 2008, da war sie dreiundzwanzig Jahre alt -, mit Ernst, Ausdauer, Sorgfalt, Originalität, Perfektionismus und Hingabe ans Werk geht, und die mit jeder ihrer Veröffentlichungen Klasse bewiesen hat, inbegriffen die Wahl ihrer Band, die stets makellose Produktion und Verpackung (Cover-Art, Beiheft, Videos).
„Geht in Ordnung” – okay. Vielleicht hat da jemand gehofft, dass sie etwas Ähnliches macht wie bei Have You in My Wilderness, sich stärker an Songstrukturen orientiert, und wurde enttäuscht.
Kurz: Nur bei „Hit” gehe ich mit.

Nach den vielen Worten nun auch endlich Musik.
Der Song Evening Mood, der die C-Seite eröffnet, hat etwas von der Verstrahltheit, dem Glimmen und Blinken des Openers Sun Girl, jedoch abgemildert, dem Titel angemessen.

Die Tänzerin ist Tatiana Luboviski-Acosta, a queer anarchist anti-zionist Jewish Nicaragüense artist, poet, and sexual health educator, wie ich bei The Poetry Project nachlese.

Hier möchte ich einschieben, dass auf einem der zig Zettel, die im Zuge meines therapeutischen Aufräumens (Ziel war es, meine Laune zu heben, was geglückt ist) von mir geprüft wurden, das Wort verbumfeien notiert war, das sich nicht in meinem aktiven Wortschatz befindet, und das zu hören mich doch immer gefreut hat, wenn mein alter Freund Walter es gesagt hat.
Er verwendet es nur in der dritten Person Singular, übrigens stets mit Betonung, die Augenbrauen hebend. Will er damit unterstreichen, dass dies so schöne, allerdings regionalsprachliche, Wort, verbumfeit, vielleicht den Fortgang der Sprachentwicklung nicht überleben wird, ähnlich wie heute bei uns niemand mehr Kindergarten sagt, während es im englischsprachigen Raum sicher immer noch geläufig ist?

Am 12. April tritt Julia Holter in Berlin auf – ich bin gespannt!

Es gibt auch Neues von Charli XCX, für die ich eine gewisse Schwäche habe. Sie pflegt ihr Image als hart feierndes Party Girl, aber vor allem ist sie eine innovative Musikerin, die die (Verfremdungs-) Techniken, die die Produktionstools heute bereithalten, kühn nutzt: sozusagen eskalierend, maximal. Meiner Ansicht nach ist dieser Ansatz, freilich bei komplett anderem Musikstil (Pop), nicht grundsätzlich verschieden von dem Jimi Hendrix‘ (Rock), der die elektrische Gitarre auch nicht mehr spielte wie Charlie Christian, sondern ihr Potential, auch im Zusammengehen mit Verstärker, Feedbackkreischen, Effekt- und Wahwah-Pedalen, voll ausschöpfte.
Ob sie von ihrem künstlerischen Rang her vergleichbar sind, Charli und Jimi … das wohl nicht.
Macht aber nichts. Und glücklicherweise ist Charli XCX am Leben. Ich wünsche ihr, dass sie noch viel von ihrer Energie wird verschwenden können.

Da ich heute in DJ-Laune bin, jetzt aber wirklich zum Schluss, ein wunderbarer, kraftvoller Track von David Leon, Bluest Blue (David Leon – alto saxophone, Sonya Belaya – piano, Florian Herzog – bass, Stephen Boegehold – drums), aus dem Album Aire De Agua (2021), inspiriert von einer Arbeit von Marina Abramovic.

Zwieback der Straße

Nach oberflächlichem erstem Lesen, durchkämme ich jetzt noch einmal die Illuminations, ungefähr drei jeden Tag. Und siehe da, ganz so unbegreiflich sind sie doch nicht.
Erst lese ich zweimal den französischen Text in meiner Billigausgabe, dann gucke ich, was der Herausgeber der Taschenbuchedition bei Folio classique anmerkt. Das beginnt immer gleich: Texte du manuscrit de la BNF (n.a.fr. 14123, f19), lies: Text des in der Französischen Nationalbibliothek (Bibliothèque Nationale de France), in der Abteilung der neuen französischen Erwerbungen (nouvelles acquisitions françaises), aufbewahrten Manuskripts, registriert unter der Nummer 14123, Blatt 19.
Interessanter sind die Worterklärungen.
Die Interpretationsansätze des Herausgebers, Louis Forestier, Professor an der Sorbonne (1999): sparsam und zurückhaltend.
Anschließend gucke ich in die Anmerkungen der Reclam-Ausgabe (die Umschlagzeichnung ist übrigens von Paul Verlaine) und lese, ebenfalls ein- bis zweimal, die klassische Übersetzung von Walther Küchler, die 1946 zum ersten Mal erschien. Danach, oder parallel, noch einmal O-Ton Rimbaud. Fertig.
Es war gar nicht mein Plan, Rimbaud zu lesen, aber ich sah das Buch da stehen, und jetzt können Johnson, Austen und Homer erst mal einpacken.

Im zweiten der drei Paragraphen von Veillées (Nachtwachen), dem einundzwanzigsten Stück der Illuminations – Walther Küchler übersetzt es mit „Nächtliche Feierstunden” -, bin ich bei dem Satz hängengeblieben:
La muraille en face du veilleur est une succession psychologique de coupes de frises, de bandes atmosphériques et d’accidences géologiques.
Vermutlich stand in Küchlers Textvorlage hinter coupes ein Komma, so dass er übersetzte:
Die Wand gegenüber dem Nachtschwärmer ist ein beseeltes Band von Schalen, Friesen, atmosphärischen Streifen und geologischen Ausbrüchen.

Mit Veilleur ist in meinem Verständnis in erster Linie jemand bezeichnet, der zu nachtschlafener Zeit wach ist, ohne dass mit dem Wachsein eine bestimmte Aufgabe oder Absicht verbunden ist. Mein Satz würde darum so beginnen:
Die Wand gegenüber dem Wachenden.
Für psychologique scheint mir „beseelt” nicht richtig, aber „psychologisch”? Hm.
Vorerst würde ich vorschlagen: psychisch.
Nicht die Bilder sind beseelt, sondern es ist ein psychischer Vorgang, dass der Schlaflose Bilder sieht.
… und jetzt nicht de coupes, de frises, sondern de coupes de frises, coupe verstanden als Stück, Ausschnitt, Bildausschnitt. (Rimbaud hatte als Titel für seine Sammlung auch erwogen: Photographies du temps passé. Ob von dort ein Weg führt zu Thomas Klings Polaroids?)

Accidence kommt im Petit Robert und im Larousse nicht vor. Im Trésor de la Langue Française informatisé wird man zum Glück fündig → accidence. Daraus ein deutsches Wort abzuleiten, das für eine Übersetzung taugen würde, ist schwierig. Immerhin hilft es weiter zu wissen, dass der Begriff nach dem Muster von essence aus accident abgeleitet wurde. Also noch mal im Petit Robert unter accident nachsehen. Aha: „Ce qui rompt l’uniformité (Accidents de terrain)”, das heißt: was die Gleichförmigkeit unterbricht (Unebenheiten des Geländes).
Aus irgendeinem Grund kommt mir das Wort Auszackungen in den Sinn (statt Unebenheiten), also:
Die Wand gegenüber dem Wachenden ist eine psychische Aufeinanderfolge von Ausschnitten von Friesen, von atmosphärischen Streifen und geologischen Auszackungen. [16.1.2024: von … von ist aber nicht schön, also lieber so – bis jemand mit einem besseren Vorschlag kommt: Die Wand gegenüber dem Wachenden ist eine psychische Aufeinanderfolge von Fries-Ausschnitten, atmosphärischen Streifen und geologischen Auszackungen.]

Am 12. April kommt Julia Holter nach Berlin, um ihr neues Album vorzustellen.

[Die Überschrift ist ein Rimbaud/Küchler-Zitat, aus dem Prosastück Vagabonds, in dem es heißt: […] nous errions, nourris du vin des cavernes et du biscuit de la route […][…] wir irrten dahin, uns nährend vom Wein der [Quellen] und vom Zwieback der Straße […]. – Küchler hatte „Wein der Spelunken” übersetzt, weil in seiner Übersetzungsvorlage „tavernes” stand.
An Stelle des aktiven uns nährend warum nicht schreiben: genährt von?]

Falten auf der Stirn der Texte

Möglich, dass man mir die Überschrift böswillig als Prunkzitat (© Michael Rutschky) auslegt; sie ist dem 1956 erschienenen Essay Satzzeichen von Theodor W. Adorno entnommen, der 1958 in den als Band 47 der Bibliothek Suhrkamp veröffentlichten Noten zur Literatur I wiederabgedruckt wurde, da hab ich’s gelesen. Die Formulierung bezieht sich auf den „ernste[n] Gedankenstrich”.

Meine Verwendung von Auslassungspunkten ist nach Auffassung Adornos vermutlich ein stilistisches Verbrechen. Ich fühle mich als der „Schmock” ertappt, der durch die drei Punkte eine Gedankenweite und Gedankentiefe behauptet, die er nicht hat, wobei ich den jiddischen Begriff in der Bedeutung von Snob verstehe. Tja …

Ein Satzanfang wie: „Theodor Haecker erschrak mit Recht darüber, daß das Semikolon ausstirbt”, amüsiert mich.

Übrigens ist das Buch geliehen, ich werde es bei nächster Gelegenheit zurückerstatten und mir dann selber beschaffen. Adornos Bildung, sein extravaganter Sprachgebrauch, sein Witz und das gewählte Themenfeld sind gute Gründe dafür.

Es gibt einen neuen Song von Kimbra, der sehr von dem verschieden ist, was sie auf The Reckoning gemacht hat. Klavier und Stimme, das ist beinahe alles und es reicht vollkommen.

Und hier ein Fleetwood Mac-Cover von Julia Holter, das ich verpasst habe, als es vor drei Jahren veröffentlicht wurde. Brava bravissima!

Armita Geravand, die junge Iranerin, die ohne Kopftuch in die U-Bahn gestiegen ist, ist tot. Eine der traurigen Nachrichten, die uns nicht loslassen.

Die Hamas und die Hisbollah schießen immer noch Raketen auf Israel ab. Dafür ist Treibstoff da, jedoch nicht für die zivile Infrastruktur, nicht für Wasseraufbereitungsanlagen und Krankenhäuser.

Im Westjordanland häufen sich Angriffe militanter Siedler. Die tageszeitung hat darüber berichtet:
Beduinen im Westjordanland. Die Vertriebenen

Beispiele dafür, dass es auch anders geht, liefert Igal Avidan in seinem Buch … und es wurde Licht! Jüdisch-arabisches Zusammenleben in Israel, das in diesem Frühjahr im Berenberg Verlag erschienen ist. Der Autor betont, dass keine Mauer Schutz bietet, ein guter Nachbar aber schon. – Leseprobe → hier (.pdf)

Der israelische Journalist und Autor Igal Avidan berichtet, entgegen der üblichen Fernsehbilder, aus einer bewegten Gesellschaft, in der Juden und Araber längst ein Zusammenleben gefunden haben, das den Vorstel­lungen von ewigem Hass (von Politikern auf ­beiden Seiten gern geschürt) nicht entspricht. Eine friedliche und zugleich brüchige Co-Existenz auf dem Vulkan – davon erfährt man in diesen ­Reportagen aus dem Alltagsleben in Israel. Gewaltsame Übergriffe sind zwar an der Tagesordnung, gegenseitige Hilfe, Solidarität, Nachbar- und Freund­schaft aber auch. (Verlagstext)

Zwei Pressestimmen:

„Avidan suchte das Gespräch mit denen, die Brücken bauen und deeskalieren. Herausgekommen ist ein sehr beeindruckendes Buch.” Almut Engelien, rbb

„Igal Avidans luzide dokumentierte Studienreise durch das arabische Israel zeigt – 75 Jahre nach der Staatsgründung – dass und wie allen Konflikten zum Trotz der heutige Staat Israel ein gelungenes Beispiel (vielleicht auch ein Vorbild) für eine multiethnische Demokratie ist und eben alles andere als ein Apartheidsstaat.” Micha Brumlik, Frankfurter Rundschau

Javier C. Hernández berichtet unter der Überschrift Where Israelis, Palestinians and Iranians Must Listen to One Another für die New York Times aus Berlin über die Barenboim-Said Akademie (31.10.2023, leider hinter einer Paywall).
„We will not bring peace, and we will not solve the world’s problems, as much as we might want to. But we create a space, and that’s what is missing in the world, not only in the Middle East. Places for people to be accepted by the other.” – Katia Abdel Kader, 23, palästinensische Geigerin aus Ramallah.

Möge es Schule machen.

System Malfunction: Brainwash Incomplete

Gestern wurde ein neues Video von Salami Rose Joe Louis (alias Lindsay Olsen) veröffentlicht (die Überschrift ist ein Zitat daraus) – eine Künstlerin, die vermutlich keinen besonderen Wert darauf legt, groß herauszukommen, jedenfalls hat sie für ihr demnächst [am 19.5.] erscheinendes neues Album einen griechischen Titel gewählt: Akousmatikous.
(Mehr zum Song, auf Englisch, bei Broadway World → hier)

Sirrende Atmo. Bei Minute 1:12 setzt der Gesang ein:

For the plants to grow (5x) / Oh my child / We started losing / When we took / More than we need / Now we frantically / Approach catastrophe / Society is broken / I miss the sugar coating / Now we’re coated / In a veil of agency / Like we have a say, / When all of our fate / Belongs to a few / Unstable guys / With access to our lives // We started losing / Access to our lives / We took more / Than we need // For the plants to grow (x-mal) // [Bildschirm] Brain wave conditioning initiated / ! System ! Malfunction Brainwash Incomplete // [Credits]

Die Musik würde ich als Elektropop beschreiben, die Spielart, die auf einen weiten Hörhorizont schließen lässt.

YouTube wird Salami Rose Joe Louis keinen Cent zahlen. Auch darum habe ich den heutigen Bandcamp Friday – am ersten Freitag im Monat gibt Bandcamp den vollen Erlös seiner Verkäufe an die Musiker weiter – dazu genutzt, Akousmatikous vorzubestellen, bin also entschuldigt, schätze ich.

Auch von Julia Holter gibt es Neues, ein langsames, meditatives, über sechsminütiges Stück mit dem Titel And now even a flower.
Die Einnahmen gehen in diesem Fall nicht in erster Linie an sie, sondern an EarthPercent:
„EarthPercent is a charity providing a simple way for the music industry to support the most impactful organisations addressing the climate emergency.”
Der prominente Stifter von EarthPercent ist Brian Eno.

Larnaca leicht bewölkt

Ich finde das Wort Wrasenabzug gar nicht so schlimm, aber einer Freundin von mir stellten sich die Nackenhaare auf, wenn sie es hörte. Ihr Vater, ein Schiffsbauingenieur (meine ich), pflegte es zu verwenden, er kochte gern, ich erinnere mich an Grünkohl mit Pinkelwurst. Auch Labskaus gab’s mal, das ist also etwas her, denn ich bin schon seit Jahren Vegetarier (seit Graz). Zum Abschluss Friesentee mit Kandis und Sahne. Ein Festessen! Vielleicht war es wirklich ein Festtag, Weihnachten zum Beispiel, als ich kilometerweit gegen den Schneefall geradelt war und wir nachher meine nassen Schuhe trockenzuföhnen versuchten, denn ich musste ja auch wieder zurückradeln, die Schuhe sicher klamm. Unterm Tisch bettelte der Hund, das durfte er nicht. Aber verbiete mal was einem Hund.
Ich würde alles wieder essen, als guter Gast. Ich würde keinen Mucks sagen, einmal nachnehmen, kann sein, und das Essen loben: das sicher.

Die Company in L.A. hat entschieden, die working from home policy in der derzeitigen Form zu beenden. Ab Ende Februar sollen wir mindestens 80% unserer Arbeitszeit im Büro verbringen, in meinem Fall wären das drei Tage. Wenn die Anfahrt länger als anderthalb Stunden dauert (eine Strecke), darf eine Ausnahme beantragt werden – außer man hat die Strecke vor Covid auch zurückgelegt.
Heute bin ich um kurz vor 8 aus dem Haus gegangen und kam gegen 20 Uhr zurück. Nicht lang genug! Ein Kollege empfahl, langsamer zu gehen, doch bei dem strengen Regelwerk wird alles nicht nützen, und keine Ausnahme wird Bestand haben.

Über Weihnachten und Neujahr möchte ich Tragödien lesen: Aischylos, Sophokles. Das scheint mir die passende Haltung zu dem, was ist, und dem, was wird.

Füllwörter müssen nicht kurz sein

Sie können auch lang sein. Das derzeitige Modewort ist „tatsächlich” – wird zu jeder passenden und, vor allem, unpassenden Gelegenheit benutzt, allmählich entwickele ich einen Widerwillen dagegen, allerdings mehr im medialen Zusammenhang, privat ist es mir einigermaßen gleichgültig. Als Ann-Kathrin Büüsker vom Deutschlandfunk in den ersten Sätzen des „Interview[s] der Woche”, das ich mir andernfalls möglicherweise angehört hätte, das ominöse Wort mindestens vier Mal unterbrachte, zwei Mal davon im selben Satz, schaltete ich das Radio reflexhaft aus. Sie ist eine gute Journalistin, aber es gibt Grenzen der Toleranz. Wenn ich auch sonst kein besonders empfindlicher Mensch bin: hinsichtlich des Sprachgebrauchs bin ich es, bis zur Überempfindlichkeit.

Mein Plan, mich mehr mit Französisch zu beschäftigen, ist bisher gut aufgegangen. Ich habe Bücher auf Französisch gelesen, französische Serien (Nona et ses filles von Valérie Donzelli, u.a. mit Miou-Miou als schwangere Alt-Feministin, Rüdiger Vogler als würdiger Docteur Marcel Trüffel und Barnaby Metschurat als Hebamme; die vierte Staffel von Dix pour cent alias Call My Agent!) und Filme geguckt, war inzwischen auch wieder bei Zadig, wo ich kurze Sätze gesprochen habe („Vous avez deux livres pour moi”, „Je paie comptant”) – lächerlich, aber ein Anfang.
Über einen Vokabelfehler in einer E-Mail an das Zadig-Team habe ich mich geärgert.
Ich werde sie morgen abholen kommen: „Je viendrai les chercher demain”, so muss es heißen, und nicht „Je verrai les chercher demain”. Aber na gut, immerhin ist es mir aufgefallen. Es besteht Hoffnung.
Als nächstes werde ich ein Online-Konversationsprogramm mit einer Dame in Nordfrankreich starten. Ein Skype-Konto habe ich jetzt eingerichtet (Spitzname: Snoopy12), es nur noch nicht getestet. Wenn diese technische Hürde genommen ist, kann es losgehen.

In der Buchhandlung hat mein neuntes Jahr angefangen. Ich tu die Arbeit immer noch gerne, es spricht also nichts dagegen, dass ich die Montage zwei bis vier auch fürderhin bei Shakespeare and Company verbringen werde.

Die andere Firma wünscht sich, dass ich smart bin und will Beweise. Meine Arbeitstage werden aber von regulären Tätigkeiten aufgezehrt, so dass ich mein „berufliches Wachstum” aufs Wochenende werde verschieben müssen – oder ich setze mich jeweils vor Arbeitsbeginn an den Computer, das ginge auch (theoretisch).

Ein Buch, in dem ich blättere, doch vielleicht entschließe ich mich ja, es ordentlich zu lesen, sind die Gespräche von und mit Julien Gracq. (Ein Mensch, der stur sein Ding macht, hat immer meine Anerkennung.) Gleich, wo man diese Gespräche aufschlägt – man könnte mit einem Messer irgendwo hineinstechen und aufs Geratewohl lesen -, immer findet man eine bemerkenswerte Aussage:
„Ich schreibe langsam und mühsam, ein bißchen schneeballartig.” (S. 6)
„Leider gibt es kein großes gesellschaftliches Leben oberhalb von 4000 Metern Höhe!” (S. 28)
„Ansonsten glaubt ein Schriftsteller natürlich immer an das, was er tut – was für eine traurige Beschäftigung wäre das andernfalls! Wollte man näher definieren, was es heißt, ‚an das zu glauben, was man tut‘, dann müßte man recht komplizierte Überlegungen anstellen.” (S. 119)
Usw. usw. Alles super!

Julien Gracq (bürgerlich: Louis Poirier), Gespräche. Aus dem Französischen von Dieter Hornig. 248 Seiten. Literaturverlag Droschl, Graz – Wien 2007. 23,00 Euro

Frühjahrsbelebung

Im rbb inforadio hörte ich heute morgen einen Bericht der ARD-Korrespondentin für Nordwestafrika Dunja Sadaqi über eine Kautschukplantage in Kamerun -> Kautschuk-Anbau in Kamerun. Greenwashing bei der Deutschen Bank?, für deren Ausbau am Rand eines Biosphärenreservats die Deutsche Bank („Eine neue Zeit braucht neue Antworten. Wir haben sie”) dem Konzern Halcyon Agri Corporation einen Kredit von 25 Millionen US-Dollar gewährt hat.
Wie einem diesbezüglichen Bericht von Greenpeace zu entnehmen ist, geschah dies in bester Absicht:
„Vertraglich wurden dabei Ziele zur Verbesserung der Nachhaltigkeitsstandards bei der Bewirtschaftung ihrer Kautschuk-Plantagen in Kamerun und Malaysia vereinbart”, so ein Unternehmenssprecher.
Wie sich das in der Wirklichkeit ausnimmt, davon gibt das Beitragsfoto auf erwähnter Greenpeace-Seite einen ungefähren Eindruck.
Die Umweltschutzorganisation hat den Facebook-Kanal der Bank gespammt, um diesen Skandal anzuprangern – ob’s hilft? Negative Publicity kann jedenfalls nicht schaden.

Übrigens habe ich beschlossen – wie im letzten Beitrag angedeutet -, via atmosfair vierteljährlich eine CO2-Kompensation zu zahlen (‚kompensieren’ – vermutlich eine Selbsttäuschung).
Mir liegt daran, dass es besser wird auf der Welt!
Werde trotzdem einmal nachhören, welche Bäume gepflanzt werden, denn irgendwo habe ich aufgeschnappt, dass für Wiederaufforstungen häufig Eukalyptus verwendet wird, der viel Wasser zieht, das dann den Leuten fehlt.

Was würde Bruno Manser zur Lage des Waldes sagen?
Nicht auszuschließen, dass sein – mutmaßlicher – Tod in Malaysia auf das Konto ebenjener Firma Corrie MacColl geht, der die Deutsche Bank ihren schmutzigen Kredit gegeben hat, damit sie auf ihren wachsenden Kautschuk-Plantagen in Kamerun und Malaysia den Kahlschlag, wie bisher, nachhaltig betreiben kann.

Eine positive Nachricht inmitten dieser fortgesetzten Tragödie ist, dass sich das französische Parlament dafür ausgesprochen hat, Ökozid zum Straftatbestand zu erklären, worüber in diesem Monat die Nationalversammlung abstimmen wird. Ich wünsche viel Erfolg! – und auf dass das Beispiel Schule mache.
In Deutschland werden es Minister P. Altmaier und Ministerin J. Klöckner zu verhindern wissen, doch ihre Zeit wird mit der kommenden Bundestagswahl ablaufen (wie auch die von Straßenbau-Champion A. Scheuer, Gott sei Dank).

Was sonst geschah: Ich habe mir nach vielen Jahren mal wieder eine Germanistik-Vorlesung an der Freien Universität Berlin angehört (online) – prima! Muss ich mir aber noch mal zu Gemüte führen.
„Alle Hände voll zu deuten haben”, habe ich (u.a.) mitgeschrieben.
Gestern lud Kimbra kurzfristig zu einem Chat ein, der um 23.00 Uhr Berliner Zeit stattfand (17.00 Uhr New Yorker Zeit).
Sie wollte die Meinungen ihrer Fans zu einer noch zu treffenden künstlerischen Entscheidung einholen (I’d love to get my core fanbases‘ thoughts!).
Die Teilnehmerzahl lag um 50, viele Leute aus Europa, schien mir, alle tippten fleißig ihre Kommentare.
Schlechte Internetverbindung.
Unabhängig von der Musikindustrie produzieren und veröffentlichen.
Dafür sind wir da!, wurde in die Kommentarspalte getippt.

Hier nun aber ein schöner, majestätischer Song von Julia Holter (auf die sich mein Fantum ebenfalls erstreckt) aus ihrem letzten Album Aviary.
Vielleicht höre ich die falschen Sender, aber Musik dieser Qualität begegnet mir nie, wenn ich das Radio einschalte. Mein Verdacht ist, dass der Maßstab der Redaktionen ist: Wir spielen nicht die Musik, die gut ist, sondern die, die nicht so mies ist, dass die Leute abschalten.
À propos: Ich kann es der Komponistin Rebecca Saunders nicht verzeihen, dass sie als einziges Pop-Stück in der ihr gewidmeten Ausgabe der Zwischentöne ausgerechnet das unsägliche Killing me softly der Fugees spielen ließ – der Ausverkauf des Ausverkaufs /smh.
Zu solcher Ignoranz fällt mir nichts mehr ein.

Julia Holter tauchte neulich im Fernsehen auf, in Tracks: Die Ungerechtigkeiten des Musikgeschäfts. Sie war dort auf einer Demonstration in Los Angeles zu sehen, im Rahmen eines internationalen Protesttags gegen den Verteilmechanismus der Streamingdienste. Auf Plakaten wurde 1 Cent per Stream gefordert – jetzt sind es 0,02 oder 0,03 Cent, wenn ich mich richtig erinnere.
„Beutet uns nicht aus mit euerem Algorithmus!” (Transparent auf der Berliner Demo).

Magerstufe

„Keine Magerstufe”. Ich hatte gerade das (leise rappelnde, quietschende) Tor zugezogen, als meine Mitbewohnerin nach mir rief. Erst sah ich sie nicht, weil die Kiefer dazwischenstand (eine der vielen Kiefern, die die Sommerfeldsiedlung so vorortmäßig erscheinen lassen). In ihrer braunen Wolljacke lehnte sie an ihrem Zimmerfenster – ich hab auch so eine, ziemlich ähnlich, scheint mir, nur für zu Hause, von meinem Vater geerbt – und fragte zu mir herab, ob ich zu Rewe gehe.
– Ja. (So zögerlich-fragend gesagt, nur eine Silbe ist eine ganz unzureichende Notation.)
Zu oder zum, das weiß ich nun nicht genau, vielleicht zum. Ich sage: zu, egal. (Den Joghurt kaufe ich für mich selbst auch, aber die kleine Packung. Ich kaufe die kleine Packung zweimal, sie die große einmal, von der Menge her läuft’s aufs Gleiche hinaus. So zeigen sich die unterschiedlichen Charaktere.) – Ich fand das Wort „Magerstufe” gut, eine gute Covid 19-Zeit-Metapher. Nicht in finanzpolitischer Hinsicht zutreffend, aber sonst.
3.8 % Fett leuchten mir total ein.
Sie hatte sich bereits zurückgezogen, als ich zurückkam – nicht, dass ich lange weggewesen wäre, ich bin ein effizienter Einkäufer, brauch auch nicht viel -, also riss ich den Deckel einer Teeverpackung ab und schrieb darauf in Druckschrift: „Joghurt im Kühlschrank. Geschenk des Hauses.”
Ich bin nicht so der überschwengliche Typ. Einmal habe ich einer Freundin, die ich toll finde (das kann jede sein), ein Gebäck nach Hause schicken lassen, das war in der Adventszeit, und man konnte noch auf einem Kärtchen ein bisschen was schreiben, einen Gruß. Ich schrieb: Guten Appetit! – „Alles, was man sagen kann, kann man auch beiläufig sagen”, das Wort von Elfriede Gerstl hat mir immer gefallen.
Übrigens, ich weiß schon, dass man „überschwenglich” heute mit a Umlaut schreibt, weil es von „Überschwang” kommt. Aber die Sprache ist nicht konsequent, nicht logisch und auch nicht genau, und ich wüsste nicht, was schlecht daran ist.

Im Lesen bin ich ganz faul geworden, aber ich höre fleißig Musik. Ich beschäftige mich zum Beispiel mit Julia Holter, deren Individualismus ich bewundere. – An anderer Stelle hatte ich geschrieben, dass sie mir mit ihrer Ambitioniertheit manchmal auch auf die Nerven geht. Diesen Akzent würde ich heute nicht mehr setzen, weil sich Kunst ohne Ambition vermutlich im Kreis drehte.
In ihrer Kritik zu Julia Holters Doppelalbum Aviary im Musikexpress spricht Julia Lorenz von „Bildungsbürgermusik”. Das ist eine treffende Beschreibung.
Aviary ist eine mutige, schlüssige und risikobereite Weiterentwicklung ihrer Arbeit.
Eine ganz andere Musik, an der ich auch Freude habe, ist das Debütalbum der Londoner Band Goat Girl. Prima! Hier geben Sie ein kleines Wohnzimmerkonzert: Strano Session #5 / Teil 2.

Julia Holter Aviary (Domino Records)
Julia Holter Aviary (Bandcamp)
Julia Lorenz, Julia Holter, Aviary (Musikexpress)
Spyros Stasis, Julia Holter Produces Her Most Ambitious Work Yet with ‚Aviary‘ (Pop Matters)

Erinnere ein vergessenes Konzert

„Erinnere einen vergessenen Text”, hieß einmal eine paradoxe Spielanweisung des Schweizer Verlegers Urs Engeler an befreundete Schriftstellernnien (polnisch gegendert), aus deren Ergebnissen dann ein Buch geworden ist. Ich kenne es nur dem Titel nach. – Natürlich war die Vorgabe gewesen, vor dem Schreiben den vergessenen Text nicht erst noch einmal zu konsultieren.
Wollte ich meine Berichterstattung vom Ultraschall Berlin Festival unter dieser Maßgabe fortsetzen, wäre ich vermutlich schnell damit fertig. Zunächst fiele mir einiges ein, was nicht direkt mit der Musik zu tun hat, z.B. mit wem ich da war (L.), wen wir getroffen haben (Rumiana, Viola, Axel, Gernot, auch Achim?), wovon unter anderem die Rede war: den alten Vater in der Kur abgeben, Blick auf den Watzmann …, das Pausengespräch des Musikredakteurs mit der Komponistin mit dem Doppelnamen, die auf eine Krücke gestützt die Stufen zur Bühne erklomm und einen sehr vifen Eindruck machte, ihr Stück hatte „fire” im Titel. Eine Paetzoldflöte kam wieder vor, und wahrscheinlich ein Cembalo. Und gab es nicht noch ein zweites Komponistinnengespräch? (Es wurden ja überhaupt nur Werke von Komponistinnen gespielt.)
Das war mit Elena Mendoza. Es ging um Integration und Desintegration und die Frage der Perspektive. Einige der Instrumente waren präpariert, aber die Verfremdung im Gesamtklang aufgehoben. Dann gab es auf einmal einen Tisch und einen Mimen – oder stand der Tisch von Beginn an da? Der Mime ging zu den präparierten Instrumenten hin, nahm ihnen die Gegenstände der Präparation weg (sie waren ja gar nicht aufgefallen!) und exponierte sie auf dem Zaubertisch: ein Glas, eine Flasche … was noch? Ein Tuch? Tat so, als streiche er mit dem Finger über den Rand des Glases, berührte es aber gar nicht, und einer der Musiker gab einen Klang dazu. Tat so, als entkorke er die Flasche, schenke zu trinken ein, und ein Instrument unterlegte die Geste mit einer musikalischen Geste. In ihrer ostentativen Zurschaustellung wurde die ‚Integration‘ der Gegenstände der Klangverfremdung – die ja immer noch integraler Bestandteil der Komposition waren – nicht so sehr abgebrochen als auf eine andere Stufe gehoben.
Vielleicht lässt es sich anhand eines Vergleichs erklären: Bei Übersetzungen gibt es zwei Möglichkeiten (unter den unendlich vielen Möglichkeiten). Die Übersetzung kann anstreben, das Original rückstandslos der Zielsprache anzuverwandeln, oder sie kann eine Erinnerung an die ‚Fremdheit‘ des Ursprungstextes gleichsam mitlaufen lassen. Beides sind legitime Übersetzungen, unter je anderem Vorzeichen.
Auf die Komposition von Elena Mendoza gewendet, schien es, als seien hier nacheinander beide Möglichkeiten durchgespielt worden. – So beschrieben, könnte der Eindruck entstehen, als hätten wir es mit einer furchtbar didaktischen Arbeit zu tun – doch keineswegs! Ich erinnere [Titel einsetzen] als eines der (auch konzeptuell) stärksten Werke des Abends.
Aber ich muss das Programmheft heraussuchen und mir die Sachen noch mal anhören, so wird das ja nichts.

Hier zum Schluss ein Stück von Julia Holter, die ich in ihrer übergroßen Ambition immer ein wenig anstrengend finde, ihr Album Loud City Song, das ich hierhabe, wollte ich lange loswerden, aber jetzt habe ich mich entschieden, es zu behalten und sogar wieder anzuhören, denn trotz allem habe ich Julia Holter gern und verfolge mit Sympathie, was sie macht. ¯\_(ツ)_/¯

Frohe Ostern again!