Hoppla!

Da nehme ich meine 1996 gedruckte Ausgabe von Roland Barthes‘ Mythen des Alltags in die Hand, edition suhrkamp 92, erstmals 1964 erschienen, und lese in einer Notiz, die vermutlich vom Übersetzer Helmut Scheffel stammt, oder vom Redakteur der Reihe, Günther Busch: Unser Band enthält eine Auswahl aus dem 1957 in Paris erschienenen Buch Mythologies. Fortgelassen wurden in der deutschen Ausgabe einige kürzere Texte des ersten Teils, deren Thematik und Bedeutung einem mit den Verhältnissen in Frankreich wenig vertrauten Leser nur unzureichend sich erschlossen hätten.

2012 brachte Suhrkamp, diesmal in der Reihe der suhrkamp taschenbücher, eine vollständige Übertragung heraus, für die Horst Brühmann zuständig war – und siehe da:
Die erste vollständige Übersetzung enthält 34 zusätzliche Essays.
Die bereitgestellte Leseprobe beginnt mit dem genauen Inhaltsverzeichnis.

(Ich möchte beiläufig auf die wie üblich dürre und kaltherzige Todesanzeige hinweisen, die der Verlag für seinen treuen Mitarbeiter verfasst hat → hier.)

Man kann ja nicht alles lesen, aber ich bin immer bereit, ein Buch von Roland Barthes zur Hand zu nehmen: ein Anrege-Autor.

Meine Rimbaud-Lektüre setze ich unterdessen fort.
Gerade lese ich den Band Die Zukunft der Dichtung. Die Seher-Briefe, den Tim Trzaskalik schon 2010 bei Matthes & Seitz Berlin in der Reihe Fröhliche Wissenschaft herausgebracht hat – eine Reihe, die mich eigentlich nur im Zusammenhang mit meinen Leuten interessiert: Mallarmé und Rimbaud … Darf man Andreas Rötzer natürlich nicht sagen.
Die beiden sogenannten Seher-Briefe, der eine an Rimbauds Lehrer Georges Izambard, der andere an seinen Dichterfreund Paul Demeny adressiert, beide im Mai 1871 vom damals Sechzehnjährigen verfasst, nehmen zusammen sechzehn Seiten des Buchs ein (3 Seiten + 13 Seiten). Vorgeschaltet ist ein dritter Brief, der vom 17. April 1871 datiert, an Paul Demeny (3 nicht voll bedruckte Seiten); dieser berichtet von der aktuellen Literatur, wie Rimbaud sie in den Pariser Buchhandlungen ausliegen sah – offenbar nicht zukunftsweisend.
Die Namen und zeitgenössischen Anspielungen werden selbst einem französischen Leser heute teilweise nichts mehr sagen, so scheint mir der Umfang der Anmerkungen: 15 1/4 Seiten für den April-Brief, 5 1/2 Seiten für den Brief an Izambard, 21 Seiten für den (zweiten) Brief an Demeny angemessen, um so mehr, als die Kommentare auch den jeweils beigefügten Gedichte gelten, die es in sich haben.

Die Übersetzung ist mir tendenziell zu forsch, da wär ich mal neugierig, wie Werner von Koppenfels das in seiner Übertragung gemacht hat, die 1990 in der Reihe excerpta classica in der Dieterich’schen Verlagsbuchhandlung Mainz erschienen ist.

Nur ein Beispiel: Im Gedicht Mes petites amoureuses (Meine kleinen Liebchen) wählt Tim Trzaskalik für den Ausdruck laideron, der laut Petit Robert für jeune fille ou jeune femme laide steht, also ein hässliches Mädchen oder eine hässliche junge Frau bezeichnet, das deutsche Schlampe, welches mir unangemessen scheint. Doch was wäre zutreffender?
Die Anrede Cher Monsieur ! (an G. Izambard) liest sich bei Trzaskalik: Allerwertester!
Rimbauds Ton ist zwar insgesamt ziemlich frech und unehrerbietig, aber trotzdem –

Ich will aber nicht vorschnell urteilen. Das Buch endet mit einem gut fünfzigseitigen Essay des Übersetzers: Auf den zweiten Blick.

Arthur Rimbaud, Prosa über die Zukunft der Dichtung. Die Seher-Briefe. Aus dem Französischen, mit Anmerkungen und einem Nachwort von Tim Trzaskalik. Mit einem Vorwort von Philippe Beck. 160 Seiten, Klappenbroschur. Matthes & Seitz Berlin, Berlin 2010. 14,80 Euro

Wie Schafe, nach oben guckend

Der Titel ist die (eine) Übersetzung des zweiten Stücks aus dem spektakulären Live-Album The Berlin Concert (2018) von Angelika Niescier, Christopher Tordini und Tyshawn Sorey: „Like Sheep, Looking Up”.

Wie verschiedentlich angemerkt, braucht ein Blogger Überschriften. Was in den Posts steht, geht oft in eine andere Richtung.

Als im Soundcheck, der freitäglichen Sendung von rbb radio eins, in der vier Musikjournalistïnnen über neue Alben diskutieren, Julia Holter mit Something in the Room She Moves an der Reihe war (Folge vom 29.3.), bin ich leider eingeschlafen – (selbstverständlich) nicht, weil mich das Thema gelangweilt hätte, sondern weil ich einige Tage lang früh, zwischen fünf und sechs Uhr, wach war, oder sogar noch etwas davor, was beileibe nicht das ist, was die Italiener levataccia nennen, aber doch ein zeitiges Aufstehen bedeutet, wenn man selten vor Mitternacht, also zum Beispiel um eins, ins Bett geht.
Am nächsten Tag habe ich nachgesehen, wie die Wertung ausgefallen war:
1 x Hit, 2 x geht in Ordnung, 1 x Niete.
„Niete” verstehe ich nicht und scheint mir eine Frechheit gegenüber einer Künstlerin, die, seit sie Musik macht – Eating the Stars erschien, noch unter dem Namen Julia Shammas Holter, 2008, da war sie dreiundzwanzig Jahre alt -, mit Ernst, Ausdauer, Sorgfalt, Originalität, Perfektionismus und Hingabe ans Werk geht, und die mit jeder ihrer Veröffentlichungen Klasse bewiesen hat, inbegriffen die Wahl ihrer Band, die stets makellose Produktion und Verpackung (Cover-Art, Beiheft, Videos).
„Geht in Ordnung” – okay. Vielleicht hat da jemand gehofft, dass sie etwas Ähnliches macht wie bei Have You in My Wilderness, sich stärker an Songstrukturen orientiert, und wurde enttäuscht.
Kurz: Nur bei „Hit” gehe ich mit.

Nach den vielen Worten nun auch endlich Musik.
Der Song Evening Mood, der die C-Seite eröffnet, hat etwas von der Verstrahltheit, dem Glimmen und Blinken des Openers Sun Girl, jedoch abgemildert, dem Titel angemessen.

Die Tänzerin ist Tatiana Luboviski-Acosta, a queer anarchist anti-zionist Jewish Nicaragüense artist, poet, and sexual health educator, wie ich bei The Poetry Project nachlese.

Hier möchte ich einschieben, dass auf einem der zig Zettel, die im Zuge meines therapeutischen Aufräumens (Ziel war es, meine Laune zu heben, was geglückt ist) von mir geprüft wurden, das Wort verbumfeien notiert war, das sich nicht in meinem aktiven Wortschatz befindet, und das zu hören mich doch immer gefreut hat, wenn mein alter Freund Walter es gesagt hat.
Er verwendet es nur in der dritten Person Singular, übrigens stets mit Betonung, die Augenbrauen hebend. Will er damit unterstreichen, dass dies so schöne, allerdings regionalsprachliche, Wort, verbumfeit, vielleicht den Fortgang der Sprachentwicklung nicht überleben wird, ähnlich wie heute bei uns niemand mehr Kindergarten sagt, während es im englischsprachigen Raum sicher immer noch geläufig ist?

Am 12. April tritt Julia Holter in Berlin auf – ich bin gespannt!

Es gibt auch Neues von Charli XCX, für die ich eine gewisse Schwäche habe. Sie pflegt ihr Image als hart feierndes Party Girl, aber vor allem ist sie eine innovative Musikerin, die die (Verfremdungs-) Techniken, die die Produktionstools heute bereithalten, kühn nutzt: sozusagen eskalierend, maximal. Meiner Ansicht nach ist dieser Ansatz, freilich bei komplett anderem Musikstil (Pop), nicht grundsätzlich verschieden von dem Jimi Hendrix‘ (Rock), der die elektrische Gitarre auch nicht mehr spielte wie Charlie Christian, sondern ihr Potential, auch im Zusammengehen mit Verstärker, Feedbackkreischen, Effekt- und Wahwah-Pedalen, voll ausschöpfte.
Ob sie von ihrem künstlerischen Rang her vergleichbar sind, Charli und Jimi … das wohl nicht.
Macht aber nichts. Und glücklicherweise ist Charli XCX am Leben. Ich wünsche ihr, dass sie noch viel von ihrer Energie wird verschwenden können.

Da ich heute in DJ-Laune bin, jetzt aber wirklich zum Schluss, ein wunderbarer, kraftvoller Track von David Leon, Bluest Blue (David Leon – alto saxophone, Sonya Belaya – piano, Florian Herzog – bass, Stephen Boegehold – drums), aus dem Album Aire De Agua (2021), inspiriert von einer Arbeit von Marina Abramovic.

Random, Random, Semper Random

Überschrift frei nach einem Stück von Archie Shepp aus seiner Free Jazz-Phase (der Archie Shepp der Free Jazz-Phase lehnte das weiße Wort Jazz ab und sprach von Black Classical Music, während Ornette, der den Begriff Jazz auch nicht mochte, meinte, er habe Besseres zu tun als sich einen neuen Namen für Hmhmhm auszudenken – seine eigene Priorisierung war eine andere: Musik machen! („Ornette didn’t play free jazz, what he did was he freed jazz”, lese ich auf einem Zettel, den ich jetzt wegwerfe. – 31.3.2024)
Nebenbei, ich halte Malcolm, Malcolm, Semper Malcolm für das schwächste Stück der Platte*, fast banal, zu sehr zeitgebunden auch, da hilft selbst das All Star-Line-up nichts. Für meine Zwecke spielt das aber keine Rolle, denn ich will nur sagen, dass ich ein paar Zufallslektüren einschieben könnte, jetzt, wo ich meine Bücher abgepudert habe. (Nicht im Gartenzimmer, wo sich die Gedichtbände stapeln.) Brigitte Kronauers Im Gebirg‘ zum Beispiel, März 2011 in der Reihe Die Tollen Hefte erschienen, Auflage 2000, ungelesen, noch.
* Fire Music (Impulse! Records, 1965).
Und wer hat Archie Shepp dem Impulse!-Produzenten Bob Thiele empfohlen? Der heilige John!

Quelle: Internet. – Mein Cover sieht etwas anders aus.

Das Gartenzimmer

(© Katharina Lattermann)

Die Floskel „in die Hand nehmen” in Verbindung mit Abstrakta wird dann verwendet, wenn das Abstraktum mit einem unmessbaren Inhalt verknüpft ist. (Vermutlich ist das doch immer so, oder? – 26.3.2024) Die Politik gebraucht sie gern, weil dem Publikum Verniedlichungen und Euphemismen leichter einzufüttern sind als Monstrositäten.
Geld in die Hand nehmen.
Geld ist aber immer messbar bzw. bezifferbar, insofern stimmt nicht, was ich sage, und auch die Zeit, die ich werde aufwenden müssen, um fertig aufzuräumen (→ Wer Ordnung schaffen will, muss Zeit in die Hand nehmen!), ist nicht unabsehbar; zur Not parke ich paar Kisten im Keller.

Zum Komplex Geld als etwas Abstraktem einerseits, und etwas Konkretem andererseits hat Gertrude Stein in fünf kurzen Texten alles Notwendige gesagt:
Geld
Geld – Mehr über Geld
Noch mehr über Geld
Alles über Geld
Ein Letztes über Geld
(Gertrude Stein, Geld. Aus dem Englischen (USA) übersetzt von Michael Mundhenk, Friedenauer Presse, Berlin 2019, 3. Auflage [erstmals 2004].)

Bei dieser Gelegenheit die Anmerkung, dass ich überkorrekte Bezeichnungen wie amerikanisches Englisch, kanadisches Französisch, argentinisches Spanisch usw. ablehne. Man muss nicht alles einzeln verpacken. Ich finde es praktikabler, bei der bloßen Sprachbezeichnung zu bleiben und die jeweilige regionale Varietät nur in Klammern anzudeuten.

Hier zwei aufeinanderfolgende Stücke aus dem (Debüt-) Album Seeds (Relative Pitch Records, New York 2023) von Yvonne Rogers: Untitled Situation und Abundance.
Wer will, kann weiterhören, vor und zurück.

Yvonne Rogers, p, comp
Nadav Erlich, b
Iago Fernández, dr

Neues vom Gartenzimmer (26.3.2024)

An die Bücher kommt man wieder ran, dafür ist das Sofa zugebaut – vorübergehend. Die Begonie bekommt Licht, und E. E. Cummings stößt Rauchsilbenfäden aus, 1938: gerahmter FAZ-Artikel von Joachim Kalka, dessen Datum ich leider nicht nachsehen kann.

Plink!

Als ich heute morgen das Licht einschaltete, machte es plink und ging blitzend aus. Das bedeutet sicher nichts Gutes … Ich rechne immer mit dem Schlimmsten, verzähle mich selten. Die Leiter in der Garage war zugestaubt und hing voller Spinnweben. Ich habe die Birne nicht gleich ausgewechselt. So früh durchs taunasse Gras zu streifen (ich war um fünf Uhr wach), wäre mir übertrieben erschienen. Stattdessen habe ich Futter ausgestreut, und auf dem Fenstersims zur Straße hin Erdnüsse (in der Schale) ausgelegt, die holt sich der Eichelhäher ab; er kommt auch dann angeflogen, wenn das Fenster geöffnet ist, Fressen ist Fressen. Das Wasser hat er wahrscheinlich runtergefegt, seh ich morgen mal nach. Es ist alles nicht so eilig.
Spinnweben machen mir übrigens nichts aus. Hab auch gestern eine größere Spinne, wie sie im Herbst gern einsteigen, hinter dem Bücherregal im Eck hervorkrabbeln sehen. Die stört mich nicht.
Krümel dagegen -.
Meinolf, stören dich die Krümel? fragt sie beherrscht, sie kennt mich ja lang genug, wenn sie mir einen Gesundheitstee kredenzt und aus dem Augenwinkel sieht, wie ich mit dem Rateau also der Handkante über die Tischplatte fahre.
Wer ist jetzt sie? fragt sich der Leser.

Meine Mitbewohnerin knipst immer und überall Licht an, auch wenn draußen heller Tag ist. Die Erziehung der 70er! … vorausgesetzt, die Eltern waren jung, und nicht Kriegseltern wie meine, die noch sowas wie Verdunkelung kannten!
Ich sehe genug. Zur Not würde ich einen Klumpen Torf anzünden, wie Balzac.
Wenn sie im Haus eine Lichtfährte legt und im nächsten Moment am Telefon hängen bleibt, und alles Licht ist an wie auf der Kirmes, lösche ich es.
Zum Beispiel: Ich bereite mir einen Kaffee – ein Schritt nach links, ein Schritt nach rechts, halbe Drehung, viertel Drehung -, mit dem Licht, das da ist. Tritt meine Mitbewohnerin durch die Tür, schaltet zackzackzack die Lampen an, macht Essen, wirtschaftet, wurschtelt, Tablett, Besteck, fragt – den Kaffee kegelförmig in die macchinetta zu häufen, ohne zu viel zu verkrümeln, dauert ein Weilchen, und evtl. muss er sowieso erst noch gemahlen werden, je nachdem, und die Milch aufschäumen -:
Soll ich wieder dunkel machen?
und verschwindet in ihre Räume.

Frühjahrsputz

Irgendwann stirbt man. Kein Beinbruch. Gott sei Dank!

Ich dachte daran, weil ich manchmal kreuzunglücklich bin. (Warum nur manchmal?)
Dann besinne ich mich auf meine Sterblichkeit, und dass ich nicht weiß, an welchem Tag sie zuschnappt. Brächte ich mich um, wüsste ich’s, aber das ist nicht der Plan. Dem Tod zuarbeiten, soweit kommt’s noch!
Alles, was ich erlebt und nicht erlebt habe – das vor allem – wird, solchermaßen perspektiviert, in ein Licht der Egalheit getaucht, und ich denke: die restlichen zwanzig Jahre halte ich auch noch durch.

Ich bin überzeugt von der Vergeblichkeit alles Tuns und Strebens. Ich geb mir mit dem Schreiben Mühe, aber es ist nur ein elektrischer Reiz, angeklickt, vergessen, ich häng das nicht hoch. Alles wird verschwinden, früher oder später. Die Leute machen natürlich trotzdem was. Nicht selten ist es überaus langlebig, selbst wenn zuweilen kaum mehr lebendig bleibt als ein Name (z.B. Voltaire) und, aus einem Riesenwerk, ein schmales Buch (Candide) – immerhin!

Not related: Ich hatte vorgehabt, zur Leipziger Buchmesse zu fahren, aber dann ist mir wieder eingefallen, dass ich große Menschenansammlungen verabscheue, und ich mich darüberhinaus nirgendwo der Literatur so fern fühle wie auf einer Buchmesse.
Ich hatte sehen wollen, ob ich einen Verlag für ein Übersetzungsprojekt interessieren kann, doch ist mir klargeworden, dass ich nicht dafür tauge, die Werbetrommel zu rühren – wie es aber für jemanden, der keinen Namen hat, unerlässlich ist, wenn er wünscht, Geld mit dem Kram zu verdienen. Ich bin nicht dafür gemacht, chi nasce tondo non muore quadrato (heute bin ich wirklich vom Tod besessen!), und da ist es dann auch wurscht, dass ich wohl übersetzen könnte. Indem ich mich persönlich nicht in der Lage sehe, dies Zugeständnis an den Betrieb zu machen, muss ich feststellen, dass der Job nichts für mich ist.
Erschütternd, wie lange ich gebraucht habe, um das zu erkennen, aber jetzt weiß ich es endlich und werde die Konsequenz daraus ziehen, der Autorin absagen, und mich nach Jahren vom Übersetzer-Stammtisch Französisch zurückziehen, wo ich mich sowieso schon längst wie ein Betrüger fühle.

Neulich stieß ich wieder auf Bobi Bazlen. Ich schreibe nur Fußnoten.

Nudel im Heuhaufen

Lachend stiegen die Kinder in den Bus, lachend, dass sie ihn noch erwischt hatten, doch der Fahrer hatte auch gewartet. Ich sah sie gar nicht, hörte sie nur. Sie waren hinten eingestiegen und riefen nach vorne mit ihren hellen kräftigen Stimmen, wie freche Spatzen: Dankeschön! Sie waren zu mehreren, ich hätte mich umdrehen können, dann hätte ich eine Zahl. Sie waren vergnügt. Dankeschön! Dankeschön! Vorne beim Fahrer rauschte die Sprechtaste, in ein Tuch aus Rauschen hinein sprach er: Bitte, und schaltete die Sprechtaste wieder aus. Könnte mir vorstellen, dass er dabei in den Rückspiegel guckte. Der war auch nicht in meinem Blick, der Fahrer. Neben mir sah ich die Leute lächeln.

U-Bahn, Tram, Bus und Fähre fahren wie gewohnt.

Um 1.30 Uhr aufzustehen, hab ich nicht geschafft, um 1.50 Uhr ging’s. Das war doch wieder Aglaia Dane? So ein schöner Name! – und dann ihn nur einmal pro Sendestunde sagen! Ich hab’s auch noch verpasst, denn um ein Uhr ging zwar der Wecker, doch ich war noch nicht so weit, erst mal fünfzig Minuten sammeln.
(Mit mir: sagt sie nach dem Jingle. Ihr Markenzeichen, neben ihrer Stimme.)

Es war überhaupt nicht schlimm, den Anfang von David Leons Listening Party zu verpassen, viel Musik würde noch kommen, und morgen (8.3.2024) erscheint offiziell die CD, dann kann ich Bird’s Eye hören so oft ich will.


Auf dem Bildschirm war das Cover zu sehen und die Stückabfolge zu lesen. Rechts ein breites Seitenfenster, der Chat.

David Leon – soprano & alto saxophones, alto flute, piccolo
Doyeon Kim – gayagum, voice
Lesley Mok – drumset & percussion, glockenspiel

David Leon war da, und Lesley Mok, und die Gruppe der Gasthörer oder Hörgäste. Doyeon Kim fehlte, trat zumindest nicht persönlich in Erscheinung.
Die Musik ist auf Reduktion hin angelegt, mit vielen Pausen durchsetzt – nicht kahl oder grau – im Gegenteil. [Edit 10.3.2024: Sie hat auch eine quirlige, sanguinische Seite.] David Leon gab kurze Erläuterungen, erwähnte beispielsweise, dass sich der Titel Expressive Jargon auf den Spracherwerb bei Kleinkindern bezieht, oder er teilte den Link zu einem Gedicht des koreanischen Dichters Yun Dong-ju, 헤는 밤 (Sternenklare Nacht), das in einem der Stücke zitiert wird (dem fünften: A Night For Counting Stars), oder er warf ein: Dies ist ein Duett mit Lesley, dies ist eins mit Doyeon, wir versuchten, die Klänge unserer Instrumente möglichst einander anzugleichen. Ein Hörer gab die Anekdote zum besten, er habe Wochen gebraucht um zu kapieren, dass die Lautäußerung hej giri seines Kleinen dem Sprachassistenten Siri galt, den er offenbar dazu auffordern wollte, Musik wiederzugeben. Daraufhin erzählte D.L., er habe als Kleinkind unwillentlich seine Eltern beschimpft, indem er puta (Hure) für compota (Brei) sagte, was gleichfalls Gelächter (verbalisiert) hervorrief. Ein nicht geringer Teil der Proben sei darauf verwendet worden, ein Gefühl dafür zu entwickeln, wann die Instrumente schweigen sollten. Im Chat wurde die Klaviersituation in Texas erörtert: Diese Universität hat ein gutes, wusste jemand, und da und da steht auch eins – zwei Klaviere: gute.
Mein englischer Kollege war bedauerlicherweise zu der späten oder frühen Stunde (die Listening Party endete gegen 2.40 Uhr) nicht verfügbar, um mein Urteil auf Fehler zu prüfen, aber da ich doch mehr schreiben wollte als bloß Magnificent, tippte ich ins Kommentarfeld: The music sounds to me maximalist in its minimalism. It’s rich and sparkling with its spareness.
(Mit Blick auf das Schluss-Stück Palmetto hatte David Leon geschrieben, sie klängen darauf wie blinkende Lichter an einem Weihnachtsbaum.)
Das Album beweist, dass eine Ausdünnung künstlerischer Mittel – wenn gut gemacht – zu ihrer Entfaltung und ihrem Aufblühen führt. Und da denke ich doch glatt an Dieter Rams: less, but better.

Nicht-produktive Flächen

Wann ich diese Petition, für die Sarah Wiener und die Deutsche Umwelthilfe verantwortlich zeichnen, unterschrieben, und eine Bienenpatenschaft übernommen habe, weiß ich schon gar nicht mehr. Jedenfalls werde ich von Zeit zu Zeit auf den neuesten Stand gebracht, zuletzt am Freitag.
Der Betreff lautete: Ein dunkler Tag für den Wildbienenschutz: Der Lebensraum „Brachfläche” steht vor dem Aus.

Stoppt das Bienensterben – wir brauchen eine andere Art von Landwirtschaft

Ich zitiere:
„Die ohnehin viel zu geringen Flächen zum Schutz der Artenvielfalt sollen ersatzlos geopfert werden.
Dabei handelt es sich um sogenannte nicht-produktive Flächen, wie Brachen, blüten- und kräuterreiche Feldraine oder andere Landschaftsstrukturen, die von den Landwirt*innen nach EU-Recht ohne Einsatz von Düngemitteln und Pestiziden mit einem Anteil von 4 % dem Biodiversitätsschutz zur Verfügung gestellt werden müssen.”

Leider ist Bundeslandwirtschaftsminister Cem Özdemir vor den Bauernprotesten eingeknickt.
Die Intensivlandwirtschaft, verantwortlich für die Zerstörung der Artenvielfalt, darf noch intensiver werden.
Der Clou dabei: Es wäre zielführender (pardon) gewesen, Ackerflächen umzuwidmen, die derzeit für Agrosprit und Tierfutterproduktion genutzt werden.
Na ja, kann man nix machen.
Oder: In der eigenen Parzelle kann man was machen.
Ich habe bei Rossmann zwei Packungen Nektarwiese (Insektenfutterpflanzen) gekauft, und ich kann den Lirpa kaum erwarten, wenn ich sie säen darf („breitwürfig”).

Charli XCX, bürgerlich Charlotte Emma Aitchison, hat am 29. Februar einen neuen Song mit dem Titel Von Dutch veröffentlicht. Ich hätte darauf gewettet, ihn in der jüngsten Playlist der New York Times wiederzufinden (Every Friday, pop critics for The New York Times weigh in on the week’s most notable new tracks). Vielleicht nächste Woche.
Im Gespräch mit der BBC hatte Charli XCX (2013) gesagt, dass sie Musik in Farben wahrnimmt:
„I see music in colours. I love music that’s black, pink, purple or red — but I hate music that’s green, yellow or brown.”
Das lässt Rückschlüsse auf die Farbpalette in Von Dutch zu.
Selbstverständlich gibt es zu dem Song/Video bereits einen Wikipediaeintrag.
Das zugehörige Album wird Brat heißen, Göre, und soll im Sommer erscheinen.
Aber ist das alles so wichtig?
1) Songwriting ist eine friedliche und schöpferische Tätigkeit. 2) Die Welt nimmt, wohin man blickt, eine andere Abbiegung, und 3) da schenke ich meine Aufmerksamkeit doch lieber Charli XCX, deren Energie im Falle eines Blackouts hinreichen dürfte, einen ganzen Londoner Stadtteil mit Elektrizität zu versorgen.

Die Idee der Nicht-Produktivität fasziniert mich. Es bedeutet nicht, dass kein Potential vorhanden wäre, sondern dass darauf verzichtet wird, es auszunutzen, so dass etwas anderes Raum findet oder beanspruchen darf, das vom Nutzgedanken nicht erfasst wird, aber möglicherweise wichtig ist.

Jede Konzeption von Wirtschaft, die Wachstum im Namen führt, zieht Zerstörung nach sich.

Die Journalistin Annette Jensen hat sich soeben zum Thema Grünes Wachstum geäußert:

Ist Grünes Wachstum ein neokoloniales Konzept? (Deutschlandfunk Kultur, 1.3.2024)

Den Energie- und Rohstoffbedarf verringern: das wird bedauerlicherweise von keiner Partei propagiert. Es sollte doch z.B. klar sein, dass die Alternative zum Verbrenner-Auto nicht das batteriebetriebene Auto ist, sondern die radikale Abkehr vom – privat genutzten – Auto überhaupt.
(Doch wer jetzt noch ein Autochen hat, soll es um Himmels willen weiter fahren, bis es den Geist aufgibt, und es dann damit gut sein lassen.)

Statt fieberhaft von Jahr zu Jahr Wohlstand zu erwirtschaften, wäre es an der Zeit, die heilige Kuh Wohlstand durch das genügsame Kalb Auskommen zu ersetzen – grob definiert als: eine Wohnung und zu essen haben, medizinisch versorgt sein -, und dies dann nicht zu erwirtschaften auf Teufel komm raus (Ausbeutung), sondern zu finanzieren durch Verteilung des Reichtums, der seit eh und je in den Händen Weniger konzentriert ist und sich märchenhaft vermehrt.
Wir hatten ziemlich lange Industrialisierung mit all ihren Schrecknissen und Ungerechtigkeiten, man kann’s jetzt auch mal sein lassen und sich zukünftig darum kümmern, der Natur Pflaster zu kleben und Salben aufzustreichen und sie im übrigen in Ruhe zu lassen.

Ein Beispiel hierfür:
Ina Rottscheidt – Bäume für die Hoch-Anden: Wie die Acción Andina den Bergwald wieder aufforsten will (SWR, 28.2.2024)

Zum Schluss noch ein Musiktip: Lesley MokThe Living Collection (2023).
Es ist ein Konzeptalbum mit wohlgeplanter Dramaturgie. Die einzelnen Stücktitel ergeben zusammen ein Gedicht.

KI / IA

Offener Brief zur KI-Verordnung der EU – war gestern im Postfach, zusammen mit einem Sechs-Punkte-Manifest für menschliche Sprache. Die vom Arbeitskreis Literaturübersetzen und KI initiierte Petition wird von den Verbänden
A*dS – Autorinnen und Autoren der Schweiz
IGÜ – Interessengemeinschaft von Übersetzerinnen und Übersetzern literarischer und wissenschaftlicher Werke (Österreich) und
VdÜ – Verband deutschsprachiger Übersetzer/innen literarischer und wissenschaftlicher Werke (Deutschland)
unterstützt.

„Ein Weltbild, das davon ausgeht, man könne den Menschen als Maschine nachbilden, birgt zudem die Gefahr, dass man Menschen auch wie Maschinen behandelt.”

Wer lesen und, gegebenenfalls, unterschreiben möchte:

Offener Brief zur KI-Verordnung der EU

„Wir freuen uns über jede Unterschrift, natürlich nicht nur von Übersetzenden! Und wären sehr dankbar, wenn Ihr die Petition in Euren Netzwerken teilen könntet.” – So stand’s in der E-Mail.

Am 6. März habe ich vor, lange aufzubleiben. Am 7. März, um 1.30 Uhr in der Nacht, lädt David Leon alle Interessierten zur Listening Party ein, um die Veröffentlichung seines zusammen mit Doyeon Kim und Lesley Mok eingespielten Albums Bird’s Eye (VÖ 8.3.2024) zu feiern, dem Bandcamp die Bauchbinde experimental, contemporary music, free jazz, improvisation, jazz, noise, Brooklyn umgehängt hat, was es ja vielleicht auch trifft, mit leisem Zweifel meinerseits, noise betreffend.
Vor einigen Tagen wurde ein zweites Stück freigeschaltet, Palmetto – sehr schöne Musik, am besten dann zu hören, wenn draußen kein Lärm ist (we sound like twinkling lights on a christmas tree on this one – downright gorgeous!! – David Leon).
Ich verlinke mal, auch wegen der hervorragenden Klangqualität, die Bandcamp-Seite:

À propos Bandcamp („a big independent record store and a small band’s merch table after a gig” – Ben Ratliff, New York Times): Die Plattform ist nicht perfekt, sag ich gar nichts. Der Wikipedia-Eintrag erwähnt, dass der – kurzzeitige – vormalige Besitzer, Epic Games, 16% der Belegschaft entließ, bevor er Bandcamp zu einem ungenannten Preis an Songtradr verkaufte, eine Firma, die ihren Sitz, ebenso wie ein gewisses Social Media-Unternehmen mit Gespenst-Logo, in Santa Monica hat, wo der Kapitalismus offenbar in seiner beinharten Variante gespielt wird, jedenfalls hat Songtradr nach Erwerb von Bandcamp die Hälfte der zu dem Zeitpunkt noch vorhandenen Belegschaft entlassen, zuvörderst die gewerkschaftlich Organisierten. Der Betriebsrat wurde aufgelöst.
Trotzdem, für mich ist Bandcamp im Bereich der Online-Musikdienste ein immer noch gutes Angebot, weil sie die Urheber ordentlich bezahlen.
Wahrscheinlich ist auch SoundCloud gut, kenne ich aber zu wenig. – Spotify sind Halsabschneider. „Macht euch keine Illusionen. Neue Künstler, die ihr auf Spotify entdeckt, werden nicht bezahlt.“ – Thom Yorke, Radiohead

Vielleicht sehe ich mir dies gelegentlich zur Vertiefung an:

Comment le streaming a mangé la musique (Arte, auch auf Deutsch → in der Adresszeile einfach fr durch de ersetzen, dann kommt man hin) [53:00]

Ein Klavierstück und ein Video der US-amerikanischen Pianistin Yvonne Rogers, deren Debütalbum Seeds (2023) mir gut gefällt. Sie spielt auch in der Band Lilith von Ingrid Laubrock; da gibt’s noch keine Platte.

Zur Überschrift: KI = Künstliche Intelligenz, eh klar; IA = dasselbe auf Französisch, Intelligence Artificielle, zugleich eine Anspielung auf die eigentliche Eselhaftigkeit dieser Technik, die nichts wäre ohne menschlich generierten Input.

Alle sind einander zum Sich-Beömmeln fremd

Zitat aus: Polina Barskova, „Musikalische Form”, in: Mutabor. Gedichte. Zweisprachige Ausgabe. Aus dem Russischen von Daniel Jurjew. Edition Lyrik Kabinett bei Hanser. München 2023, S. 89.

Neulich mit ein paar Leuten von der Arbeit (ehemalig) in einem türkischen Essgeschäft in Schöneberg, das ausschließlich Börek, und Getränke, auf der Karte hatte. Im direkten Vergleich mit Sultan Grill (U-Bahnhof Oskar-Helene-Heim) schnitt dieser Großanbieter für meinen Geschmack nicht so gut ab, beispielsweise würde ich keine Wette eingehen, dass wirklich Schafskäse verarbeitet wurde, das Zeug im Blätterteig war so unnatürlich weiß. Aber für einmal war’s okay.
Nächstens kaufe ich wieder beim Mann mit der Reibeisen-Flüsterstimme, der übrigens auch Kısır im Angebot hat.
„Tüte? Löffel? Gabel?” raspelt es über die Theke.
Ich will nichts, ist eh verpackt, Plastikbecher, 500 g.
„Wo wohnst du?”: hat er einmal gefragt. „Kleinmachnow”, hab ich geantwortet und er wiegte den Kopf: „Das ist weit.”
Irgendwann kommt der Bus, länger als zwanzig Minuten dauert es nie.
Bei dem Schöneberger tranken meine griechische Kollegin (ehemalig) und ich abschließend türkischen Kaffee, aber als sie den bekaffeeten Innenrand meiner Tasse lesen wollte, hatte sich kein Dratz abgesetzt.
„No future”, sagte ich.
Bei ihr war es vielleicht ein Herz.
Der Libanese (Libanese?) vom Magnifique wusste natürlich nichts von dieser Vorgeschichte, als ich Montag, denn ich geh immer ungefrühstückt zur Buchhandlung, zu café crème und pain au chocolat auch ein Stück Marmorkuchen wünschte und er mit dem Schneidemesser auf die Schnittkante wies und sagte: „Ich sehe da eine Frau.”
„Nehm ich”, sagte ich.

Unfallinstandsetzung

Ein Wort aus dem wirklichen Leben, ich lese es immer, wenn ich mit dem Hundertfünfzehner die Berlepschstraße entlang fahre. Als wäre es der Unfall, der instandgesetzt würde und nicht das Auto. Vorstellung eines kontinuierlichen Verunfallens und Reparierens.

Beweist die Langsamkeit meiner Balzac-Lektüre, dass ich ein engagierter oder ein fauler Leser bin? Neulich bei Zadig fragte ich nach einer größer gedruckten Ausgabe, größer als (ich hielt das Buch aufgeschlagen hoch). Die beiden Buchhändlerinnen wandten ihr Gesicht mit Grausen. Der Band, den sie vorrätig hatten, war auch nicht luftiger gesetzt, und die Großdruck-Edition, die sie hätten bestellen können, war mir mit vierzig Euro für einen Spontankauf zu teuer.

Gegen Ende des ersten Teils von Illusions perdues wird erzählt, wie unangemeldete Besucher – sie kommen im Hause der Eheleute de Bargeton, die seit Jahr und Tag die bessere Gesellschaft von Angoulême, entweder geballt bei Abendgesellschaften, oder einzeln, bei sich empfangen, und die als zu langweilig gelten, als dass man sie je in einer ungelegenen Situation anzutreffen fürchten müsste, immer unangemeldet; das lässt sich ihnen auch nicht mehr abgewöhnen, nun da Madame mit einem angehenden Dichter namens Lucien angebändelt hat, der auf ihren mütterlichen Rat hin seinen nichts hermachenden Vatersnamen Chardon zugunsten des wohlklingenden Künstlernamens de Rubempré abgelegt hat. Als der Bürgerliche den Aristokraten eines großen Tages aus seinen Dichtungen vortragen darf (die Leute wollen eigentlich Whist spielen) und diese nach dem Namen des ihnen unbekannten Wundervogels fragen, hört man abwechselnd raunen: Monsieur Chardon, Monsieur de Rubempré. Vor allem Lucien hört es, und darf seinen Vortrag nicht unterbrechen.
Alle Türen müssen offenbleiben, wie gehabt, auch die zum Boudoir, Naïs de Bargeton (Lucien nennt sie Louise) wird ihrer Hautevolee niemals sagen: Sorry, Leute, ich hab jetzt einen Liebhaber.
Eines Tages kommen also unangemeldete Besucher, sehen, selbst unbemerkt, wie der Dichter, kniend, in einer romantischen Wallung seinen Kopf in, sitzend, Madame de Bargetons Schoß vergräbt, missdeuten die theatralische Geste, retirieren und erzählen die Szene brühwarm, und mit frei erfundenen Ausschmückungen, der ganzen Kleinstadt. Die düpierte Madame de Bargeton weiß sich keinen anderen Rat als ihren Mann, der sie zwar tödlich langweilt, aber ein guter Schluff ist, zu sich zu rufen und ihm zu sagen: Lieber Gemahl, ich fürchte, die Leute haben etwas missverstanden. Geh heute noch (Monsieur wollte gerade zu Bett) zu dem und dem, fordere ihn auf, vor versammelter Gesellschaft zurückzunehmen, was er frech herumerzählt hat, und wenn er das verweigert, bestell ihn zum Duell! Du bist der Beleidigte, Du darfst die Waffe wählen. Du schießt doch gut …!
Monsieur de Bargeton gehorcht und, nicht geübt im Reden und Denken, legt sich auf dem Weg zum Gegner in leichter Panik zurecht, was er eigentlich sagen soll und hat seine Worte bei seinem Eintreffen dann so genau sortiert, dass er sie auf den Punkt glatt, trocken und leidenschaftslos vorbringt. Sein Kontrahent hört es erbleichend an.
Das Duell ist auf vier Uhr in der Frühe festgesetzt, de Bargeton geht hin wie zu einem Spaziergang, schreibt Balzac.

Kris Davis, Labelchefin von Pyroclastic Records, hat in einem Newsletter auf das bevorstehende Erscheinen der Platte Bird’s Eye des Trios David Leon / Doyeon Kim / Lesley Mok aufmerksam gemacht. David Leon erzählt (bei Bandcamp), die drei hätten sehr viel geprobt, und sehr oft zusammen gegessen (das Essen als heimlicher Mieter nicht deklarierter Teil ihres Arbeitsprozesses): We rehearsed an enormous amount. We shared even more meals together, an unofficial tenant of our process. Das scheint mir eine sehr gute Vorbereitung.
Aus besagtem Album hier das spartanische Stück Expressive Jargon III, das ohne Zweifel auch eine theatralische Dimension hat, ein bisschen so, als würden Buster Keaton (L.M.), Harold Lloyd (D.L.) und Charlie Chaplin (D.K.) zusammen einen stummen Sketch aufführen, der Witz hat, ohne zum Lachen zu sein. Viele Pausen, ein sternklar blinkendes Glockenspiel – David Leon umschreibt Lesley Moks Spiel mit dem Ausdruck der gestural poetry -, Doyeon Kim auf dem Gayageum (koreanische Wölbbrettzither): flippt aus, schürft, oder wühlt. Alles etwas bizarr, aber fesselnd, zum mehrmaligen Anhören verführend.