Rembobinage (4)

Diesen Monat feiert Im Dickicht sein zehnjähriges Bestehen, tada.
Aus diesem Anlass werde ich mein Kulturblatt für maximal vier Wochen mit diversen Beiträgen befüttern, die seit Februar 2013 erschienen sind.
Da im Internet sowieso schon alles auf Englisch ist, sehe ich davon ab, die Reihe Revisited zu nennen; das französische Rembobinage bedeutet Zurückspulen (la bobine = die Spule)

Die dem Text zugrunde liegenden Posts sind von 2013. Ich habe sie 2019 zusammengefasst.

1
Aufstehen um vier dürfte reichen. Treffpunkt ist 5.15 Uhr in Lüllingen, Harry und Helmut nehmen mich mit (ich kenne sie noch vom letzten Jahr). Eine halbe Stunde brauche ich mit dem Fahrrad, also Aufbruch von hier spätestens Viertel vor fünf. Die Arbeit in Herongen beginnt um sechs.

2
Ich habe überlegt, was mir letztes Jahr nützlich war, und kaufte eine Flasche Wasser, eine Packung Doppelkekse und Margarine. Maria hatte ich schon vorab per SMS informiert, Maria, die immer blinzelt, weil ihr die Wimpern doppelt wachsen. Sie antwortete: „Super, nur ich hab zur Zeit ein Problem. Meine Chaufeuse ist in Lüll angef.”
Die Bewegungsmelder des Altenheims klappten ihre Lichter aus.
Helmut kam einige Minuten nach mir. Er fand die Zeit, mir Guten Morgen zu wünschen, brachte umständlich sein Fahrrad im Fahrradständer unter und steckte sich eine Zigarette an.
Im Kabuff des Nachtwächters brannte eine Lampe.
Die Fahrt zur Arbeit ist nun privat organisiert, letztes Jahr wurden noch Busse eingesetzt, aber Patti und der maulige Kurt fahren inzwischen andere Strecken. Heinz saß am Steuer, auf dem Beifahrersitz Harry, Helmut auf der Rückbank rechts, ich daneben. Nächste Woche gebe ich Heinz Spritgeld, die anderen geben ihm auch was.
Mamut kam mit dem Elektroschlepper wie in einem römischen Wagen und sagte mir, ich sei für diese Saison in Halle R eingeteilt. Als ich hinkam, stellte sich heraus, dass die Halle R erst um halb sieben zu arbeiten anfängt; sie macht dafür auch am spätesten Schluss. Es gab eine (unbezahlte) Frühstückspause von zwanzig vor acht bis acht, Gitta hatte Pappen besorgt, zum Sitzen.
Nico kam mit dem Fahrrad, schüttelte mir smart die Hand, brachte mir einen Karton mit den Arbeitsschuhen, fragte mich nach meinem Geburtsdatum, später kam Udo.
In den Hallen gilt die Straßenverkehrsordnung.

3
Ich sagte Helmut Guten Morgen, von ihm kam ein bedächtiges Morgen zurück. Er postierte sich am Eingang, rauchte eine Zigarette. Ich hätte auch rauchen können, aber mir war nicht danach.
Um 5.20 Uhr setzte Vogelgesang ein.
Die Händlerin Schultz hatte ihren Hund Rocco dabei, ein altes hässliches Tier mit braunschwarzem Fell. Ich hockte mich hin, Rocco kam auf mich zu gewackelt, leckte mir einmal über die Hand und entfernte sich wieder.
Vor der Arbeit hatte ich noch Zeit zu lesen, doch es gab zu viel Unruhe, und ich ließ es.
Voorzichtig, de kettingbaan gaat lopen.
Ich war im niederländischen Netz.
Heute liefen weniger deense karren, um kurz nach zehn war die Arbeit getan. Mamut, mit Klemmbrett, notierte sich die Zeiten.
Zwischendrin war Udo angeradelt gekommen und hatte mir eine kleine dicke Rolle mit Aufklebern übergeben. Ich muss meine Karren numerieren, damit Fehler zurückverfolgt werden können.
Die Kameras der Videoüberwachung habe ich noch nicht entdeckt.

4
„Ich möcht gern in eine Kneipe gehen und Skat spielen … mir den ganzen Frust von der Seele saufen …!”

5
Eine Maus lief auf dem Radweg vor mir her, huschte fort, kam wieder. Am äußersten Rand des Lichtkegels lief sie am Grünstreifen lang, fiel zurück, zackte nach rechts.
Etwas weiter eine tote Taube. Auch einen Igel hatte es erwischt.
„Zehn … Viertel nach zehn”, sagte Helmut. „Zehn … Viertel nach zehn. Freitag. Das ist der letzte Tag. Da ist nicht viel.” In rauher Färbung kamen die Worte aus seinem Mund, verächtlich spuckte er sie aus.
Zu Anfang der Arbeit, wenn noch keine Blumencontainer, sondern Stangenwagen über die Schiene klirren – maßgefertigte geschmiedete Konstruktionen, an die die Stangen gehängt werden, mit denen die Karren in der Kettenbahn geführt werden – bleibt noch Zeit, vor dem Hydranten stehen zu bleiben und Wandhydrant Typ F zu lesen (Kein Trinkwasser) oder mit der Schuhspitze gegen eine plattgedrückte Marlboro-Packung zu stoßen.

6
„Dat is am trekken du!” Wir stellten uns an eine windgeschützte Ecke.
Als ich mich von der Rückbank hochgekämpft hatte und durch die beige Metalltür, die von einem kleinen schwarzen Bruchstück Hartplastik aufgehalten wurde, in die von vielen Hunderten von Neonröhren beleuchteten Hallen trat, sah ich auf dem schrundigen Betonboden einen kleinen beschrifteten rötlichen Zettel, der von den das Gelände weiträumig massierenden Kehrmaschinen nicht erfasst worden war.
Die Buchstaben standen auf dem Kopf, aber ich konnte das Wort gut lesen: unregelmäßig.
Manche Anblicke hätten meinem alten Kunstlehrer Mirbach gefallen, zum Beispiel der Raum mit den Aufladegeräten, an dem ich immer vorbeikomme, kurz bevor ich in R einbiege: ungefähr zwei Dutzend Steckdosen, von denen schwarze Nabelschnüre herabführen, kleine kalte Kästen mit roten Lämpchen nährend. An manchen der Plätze stehen waidmannsgrüne Elektroschlepper mit erstorbenen Akkus. Elektrisches Summen und Knistern verstärkt den Eindruck der Stille und Konzentration. Eine Art Säugekammer. Ich gehe immer schnell vorbei, lasse die Brandschutzschiebetüren und den Heißgetränkeautomaten hinter mir, und auch den Süßigkeitenautomaten daneben, vor dem ich neulich, bevor die Arbeit anfing, eine Weile zaudernd stand, während es um mich her schon emsig schnurrte und rummste, meine Augen gingen hin und her zwischen der Mars- und der Snickers-Reihe. Ich entschied mich für Snickers. Siebzig Cent ein Riegel.

7
Der Verlust des Handys war misslich, auch wenn ich es am darauffolgenden Tag wiederbekam.
Für das Aufstehen um vier Uhr an fünf aufeinanderfolgenden Tagen bedarf es wirksamer Hilfsmittel.
Anfangs hatte ich an meinem Kopfende eine Kerze brennen, so wie in manchen Gegenden bei der Totenwache üblich.
Jemand erinnerte mich an den telefonischen Weckdienst der Telekom.
H. lieh mir ihren Wecker. Sie steckte probehalber eine Batterie ein und die Zeiger setzten sich in Gang.
Funkwecker müssen, um betriebsbereit zu sein, auf 12.00 Uhr stehen. Ist diese Ausgangsposition erreicht, schließt das Zifferblatt die Augen, um das Funksignal der Braunschweiger Atomuhr aufzunehmen. Sobald dies kommt, lösen sich die Zeiger und krabbeln auf ihre Plätze.
H. entnahm die Batterie wieder. Zu Hause setzte ich eine eigene ein.

8
Renate: „Ham wat heute auch mal wieder geschafft.”
Ich: „Ja.”
Renate: „Gott sei Dank.”
Ich: „Ja.”

9
Wenn ich ins Auto steige, habe ich zwanzig Minuten Radfahren hinter mir. Heinz und Harry werfen ihre Kippen aus dem Fenster. Der scharfe Zigarettenrauch legt sich wie Glaspapier auf meine Lungen und reibt sie fein blutig.
Ich arbeite mich warm, den Pullover brauche ich nicht.
Dann kommen die Spediteure und machen die Tore auf. Wir alle stehen im Zug.

10
Morgen, bin mit dicker Backe aufgewacht, muss zum Zahnarzt. Tut mir leid. Grüße
OK

11
Es hätte so schön sein können: Arbeitsbeginn eine halbe Stunde später (ab heute), rechtzeitig losfahren, fünf Minuten früher als sonst, um in Ruhe hinzukommen. Aber dann ist die Fahrradkette ab, ohne dass ich auch nur einmal ins Pedal getreten wäre, und ich krieg sie auch nicht mehr drauf, so verdreckt ist sie von Staub und Salatöl. Muss ich also nachher zum Fahrraddoktor, dabei war ich erst neulich da gewesen, als das Vorderrad merkwürdige Geräusche machte, das Licht hing schon länger in Fetzen. Ich selbst muss auch wieder zum Doktor, nachmittags. Ach.

12
Vor Arbeitsbeginn, gegen Viertel vor sechs, fanden wir uns immer am Stehtisch zusammen, in robuster guter Laune, Ute, Roland, Anni, Renate, Hawa, Brigitte, oder wer am jeweiligen Tag da war. Wir rauchten Selbstgedrehte oder Billigmarken, Anni setzte ihren kleinen gelben Aschenbecher in die Mitte und alle fachsimpelten, wieviele „CCs” und wieviel „Schnitt” es diesmal wären. Wer sich auskannte, sagte dann: „Zwölf” oder „Elf, Viertel nach elf” – bis dahin wäre die Arbeit geschafft, und „Zwölf” oder „Elf” antwortete es.
Die Heißgetränke kamen aus dem Automaten, bei jeder Zubereitung zuckte das Kabel.
Die Schnittblumen wurden von den Schnittblumenverteilern mit Elektroschleppern an ihre Plätze gefahren. Wir hatten damit nichts zu tun, außer dass die schnellen schlenkrigen Linien, die sie mit ihren zu langen Reihen gekoppelten Containern längs der Halle zogen, unsere energischen Striche durchkreuzten, mit denen wir die Karren von der Kettenbahn aus in Richtung Box schossen. Durch den hohen Aufbau der Schnittblumencontainer gerieten die im Abstand von einigen Metern von der Decke hängenden, am unteren Ende, der besseren Griffigkeit wegen, mit gelbem Klebeband umwickelten Ketten in Bewegung und schwangen hin und her. Sie dienten als Notbremse, wenn Karren sich verhakten oder eine Karre umgefallen war.
Für die Schnittblumenverteiler ist Pause von sieben Uhr fünfzig bis acht Uhr, hallte die Durchsage in traumartiger Exaktheit, da war unsere Pause schon zehn Minuten dran. Petra saß auf der harten niedrigen Metallkante eines Stangenwagens, ich auf dem Betonboden.
Petra war wie ich für die Stellplätze 1011, 1013, 1014, 1015 und 1080 bis 1086 eingeteilt. Sie zog heraus, ich stellte hin, oder umgekehrt, sie sagte wie bei einem Quiz die lateinischen Namen der Pflanzen, die an uns vorbeifuhren, ich war schon froh, wenn ich die „Schwarzäugige Susanne”, den „Husarenknopf” oder das „Mädchenauge” erkannte, auf Deutsch.
Als ich die letzten Container auf ihre Stellplätze geschoben und meine Kontrollnummer aufgeklebt hatte, lief ich durch die Halle nach hinten, um mich von den anderen zu verabschieden. Samuel zog seinen fleddrigen rechten Arbeitshandschuh aus, schüttelte mir die Hand und wünschte mir alles Gute. Schlaff der Händedruck von Anni und Renate (Renate hatte sich schon eine Zigarette angesteckt).
The Edge war in der 1013er-Box und machte sich an einer Karre zu schaffen, ich winkte ihm zu.
Sabrina habe ich nicht mehr gesehen. Sie will mir ein Foto ihres neuen Autos schicken. Ich hatte versucht, ihr die schwarze Folie auszureden, mit der sie die Heckscheibe und die hinteren Seitenfenster abkleben wollte, aber sie lachte und freute sich: „Ich find’s super!”

Anrufe in Abwesenheit [2013]

Vier Anrufe in Abwesenheit waren in das Speicherkissen gesunken.
Zu Hause schrieb ich Unbekannt: „In meinem Tran habe ich mein Handy in Heinz‘ Auto liegenlassen, so dass ich eine etwaige Einladung von Dir zum Essen nicht abhören kann. Vielleicht, wenn ich dann noch wach bin, komme ich gegen halb sieben mal vorbei und guck in die Töpfe.”
Die Antwort – „Halb sieben ist zu spät, besser Du kommst jetzt bald, muss heute früh zu Bett, Wetter macht mich depressiv, Essen ist von gestern, aber lecker. Gruß” – hat mich, wenngleich ich sie erhielt, nicht erreicht, weil ich erst am Abend wieder in den Computer sah.
Der Türsummer ging nach einer Weile.
Selber müde, verging fast eine Stunde, ehe ich fragte: „Hast du geschlafen?”
Udo war dabei, seine Tasche zu packen. Ob er noch nach draußen wolle?
Unbekannt lachte. „Das hast du nett formuliert.”
Da fiel mir wieder Udos Nachtdienst ein.
Gerade drehte er mit philosophischer Ruhe eine Banane in seiner Hand. Sie war unansehnlich; mit ihren grauschwarzen Verfärbungen erinnerte sie an eine Alukartoffel, die man in der Glut vergessen hat, und die nun Spuren von Oxydation, Ruß und Asche trug. Udo hatte sie frisch gekauft, aber über Nacht im Auto vergessen.
„Innen ist die noch gut”, sagte er ohne Sturheit und steckte sie zu den anderen Sachen in die Tasche und zog den Reißverschluss zu.
Ich war verschnupft und Unbekannt machte mir Tee, zwei Tassen. Später gab sie mir Lindenblüten mit, sollte ich vor dem Schlafengehen trinken.
„Bist du langweilig?”, fragte ich sie, eine Zukunft überfliegend.
„Ja sicher”, sagte sie mit Überzeugung, aber ich glaubte ihr nicht.

Rembobinage (3)

Drei niederrheinische Einträge: Kleine Radtour (18.9.2014), An die Maas, 2007 (9.5.2015), Rheinischer Hof (19.11.2018). Die ersten beiden waren wohl zuerst bei Facebook zu lesen und liegen zeitlich vor 2013. Rheinischer Hof besteht, einschließlich der Überschrift, aus den Namen von Kevelaerer (→ Kevelaer) Hotels und Gaststätten und deren Betreiberfamilien. Kaum etwas davon hat die Zeiten überdauert. Vielleicht stehen noch die Häuser, oder die Fassaden.
Zum Goldenen Löwendas Hotel ist allerdings noch da, und ist auch nach wie vor ein Hotel, mit schönem Jugendstil-Entrée. Die eine oder andere Lesung fand dort statt, vielleicht ließe sich das wiederaufnehmen.

Kleine Radtour

Kleine Radtour zum Neuen Jahr. Ich kam mir vor wie in einem holländischen Landschaftsgemälde des 17. Jahrhunderts, die schönen Wolken, das Licht zwischen Gelb und Braun, die Gänse mit ihrem Ruf, in Schürhakenformation. Später die Biogasanlage des Barons, die B9 (schwach befahren). Modder. Am Wegrand ein Raubvogel höhlte eine Taubenbrust aus, flog auf. Kurz daneben gefedertes Gras. Matsch. Wiesen, wassersatt.

An die Maas, 2007

Ausflug an die Maas, südwestlich von Well. Spaziergang im scharfen Wind. Der Acker flussnah, Trecker sind darüber gefahren. Vorbeituckernde Schiffe, Schubkähne, alle getauft, alle ungläubig.
Apfelkuchen → appelvlaai.
Provinz Limburg, Tante Jet. Ausgeschildert ab Blitterswijk.

Rheinischer Hof

Zum Goldenen Löwen
Zum Schwarzen Pferd
Zum Schwarzen Raben
Zum Blumenkranz

Zum Tannenbaum
(Linden- Palm-)
Zu den drei Hufeisen
Zu den drei Scheren

St. Sebastianus (Geschw. Schülter)
St. Augustinus (Therese Mürtz)

Janssen
Verhasselt
Pesch
Voss

Zur Goldenen Kugel
Zum Goldenen Faß

Rembobinage (2)

In Kürze feiert Im Dickicht sein zehnjähriges Bestehen, tada.
Aus diesem Anlass werde ich mein Kulturblatt für maximal vier Wochen mit diversen Beiträgen befüttern, die seit Februar 2013 erschienen sind.
Da im Internet sowieso schon alles auf Englisch ist, sehe ich davon ab, die Reihe Revisited zu nennen; das französische Rembobinage bedeutet Zurückspulen (la bobine = die Spule).

Heute drei Schnappschüsse aus dem Berliner Alltag, Das Ertasten des Raums (31.8.2014), Besichtigung (2.9.2014) und Stangenwerfen, eine Parabel (17.7.2014).
Als ich noch in Moabit wohnte, hab ich was erlebt!
Als Extra vorab: Ein Prof, in Tel Aviv lehrend, kam Montag in die Buchhandlung, um meinem Chef hallo zu sagen. Der fragte: Und? In Israel alles gut? – Ja! Endlich!, kam es sarkastisch zurück.

[Das Ertasten des Raums] Wer am späten Abend durch den Tiergarten Richtung Neue Nationalgalerie fährt, sollte seinen Blick aufmerksam auf die kurze von der Fahrradlampe erleuchtete Strecke vor sich heften. Denn vielleicht liegt quer über den Radweg ein Mann, den der Alkohol schwer gemacht hat, und der nun, bleiern, wie festgeschraubt, aus seiner Rückenlage heraus die Rede gurgelnd an seine Saufkumpane richtet. Er scharrt mit seinen Schuhen im Schotter. Sackartig sitzen die Trinker auf der Bank und halten sich die Bierhand ans eingedickte schweräugige Gesicht. Hin und wieder kommt das gurgelnde Sprechen von ihnen, gurgelt herab zu dem Mann, den der Fahrradreifen zwei Handspannen von seinem Scheitel nicht im mindesten beeindruckt.

Auf dem dunkelgrauen Gras und ins tiefere Dunkelgrau des Waldsaums gesunken, braune bauschige Schatten, erstarrt. Die zum Weg hin hocken, halten das Gaslicht kurz, das in gelbem Schein auf den Rasen fällt.

Die Autos stehen mit ihren Schnauzen von der Straße abgewandt und blicken auf die eingezäunten Bäume.

[Besichtigung] A., nachdem sie die kargen, schmucklosen Zimmer abgeschritten hat, steht mit hochgezogenen Augenbrauen im Flur, prüft mit den Schuhen das Knarzen der Dielen und sagt mit gesalzener Nüchternheit, wie eine strenge Westtante, ohne Verständnis für den Berliner Purismus: „Ihr habt die ungemütlichste WG, die ich je gesehen hab!”

[Stangenwerfen] Vom Küchenfenster aus beobachtete ich zwei Kinder, die unermüdlich eine Stange in das Geäst eines Baumes warfen, um ein Spielzeug zu befreien, das sich darin verfangen hatte. Es war von meiner Position aus nicht zu erkennen, und sie selbst sahen es vielleicht auch nicht genau. Mit eintönigem Geräusch fiel die Stange auf den Gehweg, die Kinder passten auf, dass sie nicht von ihr getroffen wurden und dass auch das Auto nicht zu Schaden kam, das nebenan auf der Straße parkte. Ihr Tun hatte überhaupt keine Wirkung, brachte nur das immer wiederkehrende ‚klong’ hervor, wenn die Stange auf den Boden traf.
Vielleicht war da nichts.
Schließlich legten sie die Stange weg, griffen ihre Ranzen und zogen ab.

Rembobinage (1)

In Kürze feiert Im Dickicht sein zehnjähriges Bestehen, tada.
Aus diesem Anlass werde ich mein Kulturblatt für maximal vier Wochen mit diversen Beiträgen befüttern, die seit Februar 2013 erschienen sind.
Da im Internet sowieso schon alles auf Englisch ist, sehe ich davon ab, die Reihe Revisited zu nennen; das französische Rembobinage bedeutet Zurückspulen (la bobine = die Spule).

Den Anfang macht heute ein Post zur Platte A Thousand Leaves von Sonic Youth, zuerst erschienen am 23. April 2015.

Sonic Youth A Thousand Leaves

Nach ihrem Ausflug in den Rock ’n‘ Roll-Zirkus – die dem Massengeschmack vergleichsweise zugänglichen Alben Goo (1990) und Dirty (1992) hatten der Band einige Popularität eingetragen – hatten Sonic Youth auch schon wieder genug davon („rock stardom is puerile, tacky, and very outdated“, befand Thurston Moore resümierend – wobei „tacky“ – „showing poor taste or style“ – nicht leicht zu übersetzen ist; ich schlage „abgeschmackt“ vor), und mit den beiden folgenden Alben schlug die Band einen anderen, ihr gemäßen, Weg ein.
Drummer Steve Shelley stellte fest:

„It’s just our fate – Sonic Youth are the bridesmaids, never the bride.“

Mit A Thousand Leaves von 1998 sind Sonic Youth wieder ganz bei sich angekommen. Der Albumtitel ist eine Anspielung auf Walt Whitmans Leaves of Grass, andererseits auch die wörtliche Übersetzung von millefeuille, einem französischen Feingebäck (das übrigens auch in Italien bekannt ist, wo es sfogliatelle heißt).

Contre le sexisme eröffnet das Album. In Schönberg’schem Sprechgesang rezitiert Kim Gordon ein Gedicht, leicht neben der Spur, untermalt von schwarzem elektrischem Zischen und Rauschen, Knistern und Knacken. Gewittrige Entladungen, bordunartige E-Gitarren (in Skordatur), in der Mitte des Tracks der maschinell rasselnde Beat eines metallisch-hohltönenden Zombie-Schlagzeugs – ein stacheliger, harscher Beginn.

Geschmeidig hebt dann Sunday an. Thurston Moore singt über einem mittelschnellen, einfachen, gleichmäßig rockenden Gitarrenriff, während im Hintergrund die zweite Gitarre schöne bengalische Feuer entzündet. Im kontrolliert-entfesselten Mittelteil fliegen die Gitarren zu phantastischen Lärm-Wolken empor, kommen gut wieder zurück auf die Erde, und Moore nimmt seinen entspannten Gesang wieder auf. Das kompakte 5-Minuten-Stück schließt über leiser werdendem Gitarrenglimmen. (Harmony Korine hat ein Video dazu gedreht, mit Macauley Culkin und Rachel Miner.)

Großartig Female Mechanic Now On Duty, im Tempo zurückgenommen, rauh, jaulend, grimmig. Kim Gordon, berichtet SY-Biograph David Browne, hat es als Erwiderung auf Meredith Brooks Hit „Bitch“ geschrieben. (Remember? „I’m a bitch, I’m a lover, I’m a child, I’m a mother …“.)
Interessant der absteigende dreigliedrige Aufbau: Auf den furiosen Hardrock-Beginn folgt ein vergleichsweise beruhigter, von wiederkehrenden Gitarrenschlägen und einem flackernden mittelhohen Gitarrenton getragener Abschnitt; der Schluss – beginnend mit den Worten: TOUCH THE FIRE IN THE RAIN AND / SEE THE CHILDREN / STOP THEIR PLAY AND/ LOOK FOR SHELTER – gelöst, satt, minimalistisch. Tolles Stück.

Wildflower Soul startet mit siebzehn Sekunden Kakophonie, dann gehen Gitarren, Bass und Schlagzeug, die eben noch in alle vier Himmelsrichtungen davonstürmen wollten, zurück auf Los, und nach einem Moment durcheinanderstolpernder Neuorientierung setzt ein lieblicher, friedvoller Gesang ein (SING YR CHILDREN / YR CHILDREN SONG / SING YR CHILD LOVE / LOVE IS ON / SEE THE CHILD EYES / EYES ARE OLD / AND OLD IS MAGIC GROWING), der nach einer Weile beschleunigt. Kim Gordon kommt als weitere Stimme hinzu, Schlagzeug und Gitarren spielen ein wildes übermütiges Spiel. Dann lichtet sich die Musik plötzlich. Sich wiederholende rhythmische und musikalische Muster bilden eine Art Wand und Tür zur nachfolgenden jam session. Eine kurze Reprise des Anfangs-Gezerres und -Gezisches und des melodiös-idyllischen Parts, wieder mit Moores Gesang, beendet das Stück.

Nach diesen etwas ausschweifenden 9:05 Minuten zurrt das anbetungswürdige, von Ranaldo gesungene Hoarfrost die Fäden wieder fester zusammen, die Gitarren spielen differenziert und schlichtweg schön, Shelley setzt Trommel-Akzente und bestreut das delikate Gefüge mit feinpudrigem High-Hat-Gezimbel.

French Tickler ist ein Stück in der Manier von Contre le sexisme, gesungener, flüssiger, aber keine leichte Kost, Snare, Girl pastoral, ein dissonantes Wiegenlied für Kinder von Eltern, die im Kunstbereich arbeiten.

Mit 11:05 Minuten ragt Hits of Sunshine (For Allen Ginsberg) heraus: eine ausgedehnte, wunderbar sich entspinnende Gitarren-Bass-Schlagzeug-Meditation, eine atmende Klangzone aus zarten Linien und feinen Punkten elektrifizierter Geräusche, friedlich und schön.
Allen Ginsberg, der Band freundschaftlich verbunden, war kurz vor Beginn der Aufnahmen zu A Thousand Leaves gestorben (wie übrigens auch William S. Burroughs, ein anderer Sonic Youth-Assoziierter).

Die Produktion und Abmischung der Platte – mit einer Gesamtspielzeit von 72:04 Minuten ein echter Longplayer – soll nicht einfach gewesen sein, wie SY-Monograph Browne berichtet. Der Produzent, Wharton Tiers, taufte sie auf den Namen „A Thousand Edits“.

Sonic Youth, A Thousand Leaves. Geffen Records, New York (N.Y.) 1998

Sibylla Vričić Hausmann meine Faust

Wenn ihr euch wundert, warum ich so wenig und so langsam lese: Manchmal denke ich länger über das Gelesene nach und schreibe was dazu auf – selten genug, denn ich muss Geld verdienen, Miete zahlen, Sachen kaufen, essen und schlafen. Zeit zum Nachdenken ist knapp.

Hieraus könnte eine Kritik entstehen, es sieht schon ganz danach aus:

Geballte Zerbrechlichkeit. Neue Gedichte von Sibylla Vričić Hausmann: meine Faust

„Was bedeutet es, etwas ‚aber’ zu sagen, etwas ‚aber’ zu tun? In diesem ‚aber’, das nah am ‚trotzdem’ angesiedelt ist, liegt meine Faust, warm, manchmal fast zart. Hier entstehen meine Worte […]”

„Material […] Angélica Freitas: Der Uterus ist groß wie eine Faust (2020) […]”

Die beiden Zitate – das eine aus dem Essay „wo ist deine Wut?“, das andere aus den Literaturangaben dazu – schlagen (mindestens) drei Themen an, die in meine Faust eine hervorgehobene Rolle spielen: Schreiben gegen Widerstände; Mutterschaft; Wut.
Wut wird nicht grundsätzlich verschieden von Zorn gesehen, darüber ließe sich diskutieren. Doch sind derlei definitorische Feinheiten nicht nötig, um festzustellen, dass die Gedichte von Sibylla Vričić Hausmann eine viszerale Kraft haben – sie ist allerdings mehr genotypisch denn phänotypisch ausgeprägt.

„ach Lyrik, Genre des Scheiterns“, heißt es in einem der die einzelnen Kapitel einleitenden Epigraphe. – Ist das so? Noch das zarteste denkbare Gedicht ist ja eines, das sich durchgeboxt hat, das der Verlockung des Schweigens widersagt, den Zudringlichkeiten des Alltagslebens getrotzt hat, das wirklich geschrieben wurde und durch die Schleuse der Selbstkritik gegangen ist. Nun behauptet es seinen Platz im Buch: Man würde es zäh nennen, widerständig.

„ich (aber) sage: meine Mütter sind streng, das riecht man“, lautet das erste Motto.

Hier, auf der ersten Seite, erscheint bereits das eingangs erwähnte Motiv des trotzdem-etwas-Tuns, und dieses Tun ist immer ein Sagen, das von einem Ich ausgeht. Acht der zwölf Abschnitte beginnen mit diesem „ich (aber) sage“, das auch als religiöses Signal gedeutet werden könnte (Bergpredigt), zumal das erste Kapitel „das Licht der Welt“ überschrieben ist. Das biblische „Ich bin das Licht der Welt“ klingt an, ebenso die Wendung „das Licht der Welt erblicken“; und um Geburt geht es auch.
Die – vermeintlich – transzendentalen Zeichen bleiben aber leer. Man lasse sich nicht durch den Hinweis am Ende des Buchs täuschen: „Dieses Buch enthält Zitate aus heiligen Schriften.“ – „Weh dem, der Symbole sieht!“ (Samuel Beckett)

[…]

Eine kleine rhythmische Aufgabe von Rajna Swaminathan:

Und hier ein Stück ihres Ensembles.

Nächsten Monat wird der Krieg ein Jahr alt. Stimmen die Ziele der Ukraine (Wiedererlangung der vollen Souveränität über das ukrainische Staatsgebiet einschließlich der Krim) mit den Zielen der westlichen Waffengeber überein?
Danach dürfte sich richten, welches Kriegsgerät geliefert wird, und welches nicht.
Wie lässt sich der russische Tyrann an den Verhandlungstisch bringen, an dem alle Kriege enden? In einem Moment neige ich dazu zu denken, dass ‚der Westen‘ eine Drohkulisse aufbauen, ihm ‚die Instrumente‘ zeigen muss. Aber im nächsten wende ich dagegen ein, dass immer noch Geschäfte mit dem russischen Staat laufen, er immer noch nicht vom internationalen Zahlungsverkehr abgeschnitten ist, dass die Entourage des Potentaten ein ungestört lustiges Leben führt, Yachten und Villen nicht samt und sonders beschlagnahmt, Gelder nicht restlos gesperrt wurden. Und das sollte als erstes geschehen, ganz ohne Blutvergießen.
(Der Wikipedia-Artikel zur PCK Raffinerie in Schwedt vermerkt:
„Mit dem Bezug des kasachischen Öls wird die Wirkung des Ölembargos gegen Russland geschwächt, denn es verdient an den Durchleitungsgebühren.”)

Wie auch immer, ein Krieg ist es, und er dauert zu lang. Schon die Dauer vom 24.2.2022 zum 25.2.2022 war zu lang. Wie kommen wir zum Frieden hin?
Dem Aggressor scheinen Opferzahlen nicht wichtig. Gehen dann nicht alle Schüsse auf die Invasoren, auch wenn sie treffen (das tun sie), ins Leere?
Welches Überraschungsmoment können die Ukraine und ihre Unterstützer abseits von Waffen und immer mehr Waffen bieten? Was ist wichtiger? Der Besitz des Landes, oder Menschenleben? Doch was ist die Garantie dafür, dass der Megalomane nicht auch Moldau, Estland, Lettland, Litauen, Finnland, Polen angreift?
So viele Fragen.
Für Rheinmetall läuft’s gut.
Eigentlich haben wir doch andere Probleme, Stichwort Schutz der Biosphäre.

K-Pop

Die Überschrift ist irreführend. Margaret Sohn alias Miss Grit kommt aus Michigan, Yaeji aus Flushing, NY. Aber beider familiärer Hintergrund ist (teilweise) koreanisch, und Yaeji singt auch, neben Englisch, auf Koreanisch; Miss Grit hat Koreanisch neu gelernt (während der Pandemie).
Am Schluss ihres Sets für KEXP (hier die vollständige Aufnahme samt Interview mit Moderatorin Cheryl Waters, hier die Musik allein) steht ein Cover von, eben, Yaeji, What We Drew. Auch davon gibt es, im Original, zwei Versionen, einmal lang – mit Großvater und Freundinnen -, einmal kurz:

Lichte Musik, ein bisschen fremdartig, aber gut. – Hab dann noch ein bisschen weitergestöbert und fand diese beiden Songs, Waking Up Down, dessen Gesangslinie mich an M.I.A. erinnert, und For Granted, diesen Freitag auch in der Playlist der New York Times verlinkt.

Yaejis erstes Studio-Album With A Hammer, das am 7. April erscheinen wird, „is a diaristic ode to self-exploration; the feeling of confronting one’s own emotions, and the transformation that is possible when we’re brave enough to do so. In this case, Yaeji examines her relationship to anger.”

Das scheint gerade ein Thema zu sein, meine Faust von Sibylla Vričić Hausmann beschäftigt sich damit, und im Heimathafen Neukölln, habe ich gestern im Vorbeigehen gesehen, läuft ein Stück mit dem Titel Furios!, angekündigt als „wütende Show mit fünf Göttinnen, Band und Seminarleiter”.

Für mich steht Wut nicht auf dem Plan. Ich war allerdings als sehr junger Mensch jähzornig, da könnte ich mich fragen, was daraus geworden ist.
(In meiner damaligen Buchhandlung hatte ich das Buch Robbi regt sich auf von Mireille d’Allancé, und natürlich Wo die wilden Kerle wohnen.)

Heute sagte mir eine Freundin, sie habe sich entschlossen, wieder im Flugzeug zu fliegen, nachdem sie ein paar Jahre darauf verzichtet hatte: für die junge Generation. Sie hat aber (sie ist Lehrerin) den Eindruck gewonnen, dass die junge Generation – ausgenommen die Letzte Generation – selber keinesfalls verzichtsbereit ist, was Fliegen und Konsum betrifft, ihr möglicherweise auch Artenvielfalt/Artenschwund egal sind.
Ich kann’s nicht beurteilen.
Ich meinte, das müsse jeder für sich selbst entscheiden; unter Umständen würde ich auch mit dem Flugzeug verreisen (letzte Flugreise: 2016, Rom), aber erst mal nicht.

Nancy Fraser: „Die kapitalistische Gesellschaft ist eine Fressorgie, deren Hauptgericht wir alle sind.”

Morgen gehe ich ins Konzert, und demnächst auch mal wieder ins DaBangg, das vor kurzem wieder aufgemacht hat.

Schön Blog schreiben

Auf der Suche nach einem alten Beitrag stieß ich auf diesen hier von Oktober 2015. Damals wohnte ich in einer WG in der Perleberger Straße 41 und blickte aus dem vielleicht dritten Stock auf die Baustelle der ehemaligen Schultheiss-Brauerei, die damals zu einer Shopping Mall umgebaut wurde – daran fehlt es ja in Berlin. Es ist die einzige Idee, die der Investor hat, und er wiederholt sie, wo er nur kann („Bekannt ist Huth hauptsächlich für das Planen und Bauen von Einkaufszentren.” – Wikipedia)

Gewöhnliche Baustellenkaputtheit

Der Bagger hackt in den Boden, kippt, kippelt die Schaufel, rüttelt den Sand durch den Rost, dreht steif seitwärts, wirft Steinbrocken ab. Der Motor malocht, aber die Ketten stehen.
Hinter dem Schuttberg die angenagten Mauern, abgeplatzter Putz, weiß, ocker, lindgrün, blassgelb, die Farben in einem fort angeraunzt von Kälte und Nässe, so sehen sie aus. Eine 12 ist deutlich zu lesen und ein paarmal, neonfarben: STOP. Wandlöcher, Fensterlöcher, Türlöcher unter dichtem Himmel. Das karge Kra-kra der Nebelkrähen und der schmutzige Rauch, der da hinten schon aufsteigt, ergeben ein schlüssiges Bild und ein einsilbiges Wort. Manchmal landet eine Krähe auf der rauhgrünen Zunge der Straßenlaterne dort unterm Fenster und lässt sie stärker erzittern. Unbehaglich sieht das aus, kalt, doch gerade richtig für diese ernsten, befrackten Vögel, nach denen ich mich immer umdrehe, als gäb’s da was zu lernen, als wäre es wirklich möglich: sich etwas abgucken, Krähenkonzentration, Krähenfokussierung. Kommt kein Sterbenswort von dieser Zunge, nur abends, nachts, schweigt sie ihr Licht, da sitzen die Arbeiter längst in ihren Containern und essen Fritten und zischen ein Bier und suchen mit dem nackten Fuß nach dem verlorenen Pantoffel.

Natürlich kann man in dem Stil nur kurze Sachen machen, maximal. Heute, und längst, schreibe ich nicht mehr schön, was in Ordnung ist, weil ich Im Dickicht mehr oder weniger als Tagebuchersatz sehe – Erinnerungssachen mit Musik. Da reicht es fast, wenn die Orthographie stimmt. Vielleicht sollte ich mir aber auch wieder mehr Mühe geben. Hm.

Gestern sehr schönes und nachdenklich stimmendes Konzert des Jerusalem Quartet im Kammermusiksaal der Philharmonie. Auf dem Programm:
• Sergej Prokofjew, Streichquartett Nr. 2 F-Dur op. 92 (1941, UA 1942)
• Dmitri Schostakowitsch, Streichquartett Nr. 10 As-Dur op. 118 (1964, UA 1964)
• Béla Bartók, Streichquartett Nr. 6 Sz 114 (1939, UA 1941)

Dem Begleitheft ist zu entnehmen, dass Bartók zuerst „ein volkstanzbasiertes Finale” vorgesehen hatte. Nach dem deutschen Überfall auf Polen am 1.9.1939 schrieb er stattdessen das Mesto aus – die Vortragsbezeichnung heißt übersetzt: wehmütig, traurig, betrübt -, das den übrigen Sätzen jeweils als Motto vorgeschaltet ist.

Am Schluss des Konzerts wandte sich der Bratschist, Ori Kam, ans Publikum und sprach von den zwei Fragen, die bei ihren Auftritten in den USA immer kämen: Are you a band?, und: Where do you come from?
Auch wenn das Ensemble in Jerusalem gegründet wurde – der Cellist, Kyril Zlotnikov, kommt aus Minsk, der zweite Geiger, Sergei Bresler, aus Charkiw, und der erste Geiger, Alexander Pavlovsky, aus Kyjiw. Als Zugabe spielten sie dann passenderweise ein ukrainisches Stück, etwas kitschig, vor allem im direkten Vergleich zum Bartók-Quartett, aber dennoch dem Abend angemessen und seiner würdig.

Das Publikum hatte im ersten Streichquartett noch dazwischengeklatscht; im weiteren Verlauf des Konzerts blieb es weitgehend still, von Husten und Niesen abgesehen – die Musiker hielten auch Beifallskundgebungen mit ihren nach den einzelnen Sätzen florettartig erhobenen Bögen und mit unbewegter Pose in Schach.

Zum Schluss ein bisschen Klatsch und Tratsch.
Nachdem es bisher immer nur geheißen hatte, unser Büro würde von der Frankfurter Allee in Nähe Jannowitzbrücke umziehen (voraussichtlich irgendwann um Mitte des Jahres), wurde die künftige Bürofläche heute als BEAM namhaft, wie das umgebaute historische Schicklerhaus von anno 1910 demnächst heißen wird. „Neuer Glanz auf altem Stein”. Und wem gehört’s? Dem österreichischen Immobilientycoon René Benko!
Vermutlich nicht billig das Ganze.

Meine Reviews, sofern sie noch ausstanden, habe ich rechtzeitig zu heute morgen eingereicht, es hat mich, bis auf drei Stunden Schlaf, eine Nacht gekostet.

Im Deutschlandfunk (nachts) eine meiner Lieblingsstimmen, Aglaia Dane. Die möchte ich gern öfter hören! – vielleicht auch mal, und dauerhaft, an Stelle der frohgemuten Knatschigkeit einer Martina Sturm-Wende. Und vielleicht auch mal tagsüber, wenn ich unter den Lebenden bin.

Vierzig Entwürfe

Heute habe ich gesehen, dass die neue Platte von Kimbra, A Reckoning, mittlerweile einen Veröffentlichungstermin hat (27.1.2023), und dass auch das Cover enthüllt wurde, auf dem sie wie die Franz von Stuck’sche Sünde aus der Wäsche schaut. Warum auch nicht. Ob mir die Musik dann am Ende gefällt, ist nicht sicher. Vows, The Golden Echo und Primal Heart haben mir gefallen – A Reckoning … mal sehen. Aber Kimbra als Individualistin, die ihre Musik so macht wie sie es meint, hat so oder so meinen Respekt.
(Der gemeine Hörer wird sie nur als Stimme neben Gotye im Über-Hit Somebody That I Used To Know kennen, der sie seit 2011 verfolgt, wie einst Romy Schneider von ihrer Sissi-Rolle verfolgt wurde, so ungefähr.)

Auf der Arbeit sind gerade wieder einmal die jährlichen performance reviews fällig (self review, manager review, peer reviews).
Please share your accomplishments. What work are you most proud of?
Diese Texte zu schreiben, fünf diesmal, ist kein Vergnügen. Ich habe aber zu einer gelasseneren Haltung gefunden.
Mittwoch muss alles im Kasten sein.

Eine Nachricht, die jüngst die Runde machte, erinnert daran, dass die Erdverwüstung nicht auf Ratschluss der Götter erfolgt, sondern auf Profitinteressen beruht: Sie ist (ursächlich) keine Katastrophe, sondern ein Verbrechen. Es gibt Täter, die namhaft gemacht werden können; vor Gericht bleiben sie straffrei – vorerst.
Das alles ist natürlich nicht neu, und auch ich, der ich mein mit Palmfett gebackenes Plätzchen in den Kaffee soppe, bin schuldig.
Klimawandel. Forscher machen ExxonMobil schwere Vorwürfe (Deutschlandfunk, 12.1.2023)
[Edit. – Weitere Meldungen, um pessimistisch zu bleiben: Deutsche befürworten schnelleren Neubau der Autobahnen (Der Spiegel, 15.1.2023). – Neue Regeln für Parkplatzbau. Parkplätze sollen in Deutschland deutlich größer werden als bisher – so will es das zuständige Fachgremium. Autos würden eben stetig wachsen. (Der Spiegel, 15.1.2023)
Dies steht im Widerspruch zu meiner (positiven) Vision der Mobilität der Zukunft: Abriss aller Autobahnen, Autobahnzubringer, Autobahnbrücken; Renaturierung der Flächen; Abschaffung des Individualverkehrs; regionale Organisation des Arbeits- und Alltagslebens; Umstieg aller Verkehrsteilnehmer auf Eisenbahn, Bus, Fahrrad, Fuß.]

Hier ein weiteres Meisterstück von Miss Grit, bürgerlich Margaret Sohn, aus plural-ihrer schlage ich für den Moment als Übersetzung des englischen their vor Impostor-EP, die vor einem Jahr erschienen ist.

I wish I was blonde
Walking back home I’ll sing along
Tracking their words from all their songs
I don’t hear how I sound wrong

I wish you were calm
You find your voice so fun
Can’t understand no one
When all you can do is talk on

I’ve got nothing to say
I’ve got nothing to say
I’ve got nothing to say
I’ve got nothing to say

I’ve got nothing to say
I’ve got nothing to say
I’ve got nothing to say
I’ve got nothing to say

♪ ♪ ♪ ♪ ♪
♪ ♪ ♪ ♪ ♪
♪ ♪ ♪ ♪ ♪
♪ ♪ ♪ ♪ ♪

Die zwei Strophen, die davon sprechen, dass das lyrische Ich nichts zu sagen habe – kontrastiert von der zunehmend lauter aufspielenden Band – werden im verlangsamten Schlussteil des Songs aufgenommen, aber ohne Worte, mit geschlossenem Mund; die Gesangsstimme ist so stark verfremdet, dass sie nur noch Sound ist. Das ist ein starkes gestalterisches Konzept.

Die nächste Woche wird voll: Buchhandlung, Übersetzer-Stammtisch, Ultraschall Berlin Festival, Arbeiten, Französisch (Skype), und im Kammermusiksaal ist auch was, Mittwoch. Und wollte ich nicht auch meine Kritik weiterschreiben? Wann soll ich das hinkriegen?

Oh, fast hätte ich vergessen, dass ich mich unlängst wie Bolle gefreut habe, als ein selbstgebasteltes Notizbuch der von mir geschätzten Saxophonistin, Komponistin, Dozentin, und was nicht alles, María Grand im Briefkasten lag. Muss ich mich noch bedanken.

mannigfaltig

Habe ich vielleicht erwähnt: Neulich (Dezember) wurde in der Presseschau von rbb24 inforadio das Wort mannigfaltig verwendet, was mich doch sehr gefreut hat. In unserer Epoche, in der Medienleute in Formulierungen wie „Kann Deutschland Zeitenwende?” schwelgen, tut es gut, ab und an mittelalterlich reden zu hören; es kommt kaum vor, das ist wahr, wäre aber jederzeit möglich.

Heute nur ein Musikvideo von Miss Grit, Follow the Cyborg. Für Glamour habe ich durchaus etwas übrig. Es gibt eine kurze Intro (25 Sekunden), dann Schnitt; wummernde, puckernde Party-Ausgeh-Stimmung, kontrastiert von Miss Grits unaufgeregter Stimme. Die fünf Minuten, die das Stück dauert, sind abwechslungsreich gestaltet und nicht zu lang. Prima!

Nachdem ich im vergangenen Jahr die Hälfte meines Milchkonsums durch dieses Ersatzgetränk von Vly ersetzt habe, überlege ich als Neuerung für dieses Jahr, keine Eier mehr zu kaufen. (Auf Honig könnte ich wahrscheinlich gleich mit verzichten, nur noch langsam das vorhandene Glas aufbrauchen. – Gut, um Arabischen Honigkuchen zu backen, würde ich schon noch Honig kaufen.) Werde mal meine veganen Arbeitskolleginnen und -kollegen fragen, was Eier ersetzen kann.

Ich bin da und mache was

Den treuen Leserinnen und Lesern meines Blogs ein gutes Neues Jahr! Ein frohes Neues Jahr wird es nicht werden, das ist klar (schließt individuelle glückliche Momente nicht aus!), aber … – einverstanden, auch gut wird es nicht werden. Also: Möge 2023 besser werden als es 2022 war! Das kann man sagen, wünschen und hoffen.

Sollte ich darum bitten, dass mein Name hier auch auftaucht? → https://morehotlist.com/about
Immerhin war ich es, der den – damals noch so genannten – Hotlistblog 2012 startete und weit über ein Jahr hinaus im Alleingang schrieb. Die Beiträge sind auch im Archiv noch abrufbar, allerdings ist mein Verfassername zu morehotlist kollektiviert und somit, da er sonst nirgendwo aufgeschlüsselt ist, zum Verschwinden gebracht worden. Ich greife zwei Beispiele heraus:
Das System steigt in den Ring: Ulf Stolterfoht, Verleger (31.5.2014)
Lesung Verlag Peter Engstler (8.2.2015)
Aber dann denke ich: Wer guckt sich alte Blogeinträge an? Niemand. Da hat Bob schon Recht. Und ich verlinke seinen Blog natürlich, damit ihr ihn finden könnt. Die geläufige Praxis des Wegboxens und Unterbutterns (siehe oben) ist nicht mein Ding und sollte grundsätzlich vermieden werden. (Kann sein, es ist nur Gedankenlosigkeit, arglos.)
Wahrscheinlich bin ich, auch wenn ich mich immer als Dickhäuter gesehen habe, zu dünnhäutig. – Auch anderswo komme ich nicht vor, hab aber doch was gemacht, zu Ann Cotten, Christoph Wenzel, Sonja vom Brocke.
Man sieht: Auch auf dem Eiland der Poesie und in den Pfützchen der Kritik wird Aufmerksamkeitsökonomie betrieben; manche kriegen Licht, manche nicht.
Aber ich will mir die Eitelkeit abgewöhnen und nicht auf mein gutes Recht pochen, denn alles ist eitel und das Recht egal.

Einige Bücher und Broschüren, die ich überlegt hatte wegzugeben, dürfen nun doch weiter hier wohnenbleiben: Der kommende Aufstand, Auf der Suche nach der vergeudeten Zeit, Das Recht auf Faulheit, Manifest gegen die Arbeit, Recht auf Faulheit. Zukunft der Nichtarbeit (Edition Freitag, 2001). Vielleicht lese ich sie sogar noch einmal.
„Zeit ist der Raum zu menschlicher Entwicklung. Ein Mensch, der nicht über freie Zeit verfügt, dessen ganze Lebenszeit – abgesehen von rein physischen Unterbrechungen durch Schlaf, Mahlzeiten usw. – von seiner Arbeit für den Kapitalisten verschlungen wird, ist weniger als ein Lasttier. Er ist eine bloße Maschine zur Produktion von fremdem Reichtum, körperlich gebrochen und geistig verroht.”
(Marx/Engels Werke, Bd. 16, S. 144 f., zitiert nach: Auf der Suche nach der vergeudeten Zeit, S. 25)

What else? Auch dies Jahr werde ich keine Kriminalfilme gucken. Als nächstes dieses:

Zu schön, um wahr zu sein, aber dennoch wahr (nur bei der Tonspur wurde sicher nachgeholfen).

„Wir / Müssen aufhören aufhören / Auf Nacken von andern zu knien / die nicht atmen können“. – Ann Cotten : Las ich neulich in einer schon etwas älteren, aber immer noch aktuellen, Kritik im Tagesspiegel.
Dass Michael Braun nicht mehr ist, will erst einmal verarbeitet sein – am besten lesenderweise. (Ich erwarte in Kürze den dritten Band Der gelbe Akrobat, der als einziger der Reihe noch lieferbar ist, den zweiten habe ich da, der erste ist unter Umständen antiquarisch zu bekommen.)

Weitere Konstanten (neben Krimiverzicht) dies Jahr: eine halbe Stunde Skype-Französisch pro Woche (vor einem Jahr fing’s an); Erwerbsarbeit: wie gehabt (seit 1/2014 für die Buchhandlung, seit 12/2016 für die Softwareschmiede); Kritiken – hoffentlich wieder mehr; Beschäftigung mit Hochkultur (Musik, Literatur vor allem); Bäume pflanzen; Wiederaufnahme der Kaffeerunden im Dickicht, die 2020 nur einmal stattfanden und danach nicht mehr.
Und es gibt immer noch Man Rays Porträt von Juliet Browner neben der Tür (im Internet keine Reproduktion), und die französische Radierung des CANAL DE ROTTERDAM überm Bett, und das Aquarell meines Vaters, das er an der Frischen Nehrung gemalt hat, war er da schon im Krieg? ARMELN 1940 steht am unteren linken Bildrand, abgeschnitten vom Passepartout. Narmeln vermutlich. Narmeln gibt’s nicht mehr. Überm Bett. Und die Lithographie einer Leserin, da kann ich mal ein schlechtes Foto nachreichen, wenn das Licht besser ist; jetzt ist Abend, sieht man nix.
Freitag Haareschneiden.
Heute und morgen frei.

Nachtrag 3.1.2023

Leserin aus früherer Zeit