Stolterfoht, Ames, Cotten, Genschel. Vier ‚Experimentelle‘

»I do not write experimental music. My experimenting is done before
I make the music. Afterwards, it is the listener who must experiment.«
– Edgar Varèse

Ulf Stolterfoht

Gibt es eine spezifisch schwäbische Sprachverliebtheit, und wenn ja, woran ließe sie sich festmachen? Eine lohnende philologische Fragestellung, für die hier leider nicht der Ort ist. Dennoch: Ulf Stolterfoht, der 1963 in Stuttgart geboren wurde und seit vielen Jahren in Berlin lebt, dürfte in einer solchen Untersuchung keineswegs fehlen. Nur bekäme ein Germanist dann Schwierigkeiten mit dem Adjektiv »spezifisch«, denn mindestens bei Stolterfoht kommt auch eine Sprachversessenheit ins Spiel, deren notorische Vertreter man eher weiter südlich suchen würde. Kein Wunder, dass er seinem – während eines Romaufenthalts entstandenen – Stuttgart-Buch holzrauch über heslach (2007) und dem für diesen Herbst angekündigten Berlin-Band neu-jerusalem ein Buch über Wien folgen lassen möchte.

›Österreichisch‹ ist vielleicht auch Stolterfohts prononcierte Sprachskepsis.

»Ich hab ja schon in der Alltagssprache große Probleme zu begreifen, was Referenz eigentlich sein soll, was eigentlich passiert, wenn einer »Apfel« sagt, was der damit meint […]«, formuliert Stolterfoht in einem Interview mit Guido Graf ein fundamentales »erkenntnistheoretisches Dilemma«, das über die Frage: »[W]arum sagt man überhaupt was, wenn es eigentlich nichts zu sagen gibt« geradewegs in die Schreibverweigerung führen könnte. Bei Stolterfoht, als studierter Linguist mit sprachwissenschaftlichen und sprachphilosophischen Problemen wohlvertraut, markiert es den Ausgangspunkt des Schreibens – und begründet dessen erklärtermaßen »antisemantische[n] Impuls«.

fachsprachen

Es scheint darum ein Widerspruch, wenn die Arbeit an den fachsprachen-Gedichten (1998/2002/2005/2009; der Zyklus ist auf neun Bände angelegt, vier davon sind erschienen, ein fünfter abgeschlossen) mit umfangreicher Lektüre von sozusagen hochsemantischer, nämlich eben fachsprachlicher Literatur verbunden ist; die Spanne reicht von psychologischer Fachliteratur und Büchern zu Radiotechnik und CB- Funk bis zu Wörterbüchern, Mitschriften von Vorträgen, Songtexten und Liner Notes.

Dabei dürfte die Tatsache, dass in der Terminologie vielleicht am ehesten der ideale Zustand erreicht ist, in dem ein bedeutendes Wort mit einem bedeuteten Ding übereinstimmt – aber was heißt das schon, wenn fraglich ist, was unter »Welt« zu verstehen ist –, eher nebensächlich sein, zumal sich Stolterfoht nicht für die semantische Klarheit, sondern für Uneindeutigkeiten und Unschärfen interessiert, z. B. für die Sinninterferenzen, die sich durch Homonymik mit alltagssprachlichen Ausdrücken ergeben (der Plural »Lichter« mag eindeutig sein – in der Sondersprache der Jäger steht er für »Augen«).

Der Rückgriff auf einen fachsprachlichen semantischen Block erleichtert ihm vielmehr die gewünschte De-Semantisierung seiner syntaktisch getakteten Gedichte. Der forcierte Bedeutungsextremismus mündet in das Nicht(mehr)bedeuten. Stolterfoht mischt gewissermaßen alle Farben zusammen, ›beschleunigt‹ sie – diese Technik der Sprachbeschleunigung verbindet ihn mit Thomas Kling – und erzielt auf diese Weise einen ›weißen‹ Text, d. h. einen Text aus Zeichen, die nicht (mehr) zeigend sind. Die Saussuresche Dichotomie zwischen Bezeichnendem (Wort) und Bezeichnetem (Sache) entfällt, es bleiben nur noch Wörter, von denen sich allenfalls sagen lässt:

»JEDES WORT IST EINE VERPACKUNG. aber: auch / verpackungen haben eine verpackung. einige sind unge- / hobelt. gebildet aus sperrigen lettern, spenstige, mit / diphtongierung, mit ablaut-mißbrauch, strukturen von / mißmut und passung. andere sind sanfter, von liebens- / werter anklangsgleiche, sie praktizieren den wohllaut / im guttakt reinster ausform: stäblich nämlich. es ist ein / klarer fall von meta-meta. in diesen instruktiven mor- / phen ventiliert ein quecksilber seinen verstörenden sang.« (traktat vom widergang, Nr. 27)

Wenn Stolterfoht einen noch unbearbeiteten Ursprungstext bereits wie einen Rotwelsch-Text wahrnimmt, bedarf es nur eines weiteren Drehens an der Schraube, um aus der Ballung von Konkreta ein Abstraktum zu schaffen (man denke an die »Anhäufung von Kannen« [1961] von Arman), das in dem Maße, wie man von vielleicht trotzdem Herauszulesendem, Verstandenem absieht, (be)greifbar wird als abstraktes formales Ereignis, als rein strukturales ›Schönes‹. Dies aber ist es, was sich Stolterfoht von der sprachskeptisch grundierten Dichtung erwartet, »dass die Struktur wieder mehr in den Blick gerät«. Die jeweils 81 Gedichte jedes Bandes der fachsprachen – paritätisch auf neun Kapitel verteilt – sind in die Zweidimensionalität gebannte Wortkonstrukte, ihre Ausbauchung in die bedeutende Dingwelt ist nur Schein: die Sprache ist das Ding.

In der Großform und in ihrer Ausführung im Detail sind die fachsprachen von einmaliger konzeptueller Strenge und Stringenz. Ihre (phänotypische) Realisierung ist, bei unvoreingenommener Lektüre, unmittelbar zugänglich, unterhaltend, ja lustig. Die aus Sicht des Laien absurdesten Inhalte (Anweisungen zur Schweinezucht für Volkseigene Betriebe in der DDR zum Beispiel) bringt Stolterfoht »mit pragmatischer syntax und einem schlacks«.

Ammengespräche

Eines der jüngsten Bücher Stolterfohts sind die in der Reihe roughbooks von Urs Engeler erschienenen Ammengespräche (2010). Die Amme ist eine von Peter Dittmer gebaute Maschine, eine »Text-, Metall-, Roboter- und Widerredeinstallation […] mit beiläufigen Milchverschüttungen vor Publikum«. Stolterfoht führte mehrere Dialoge mit ihr. Im poetologisch bedeutsamen Vorwort bringt er, in Auseinandersetzung mit der Textproduktion der Amme, seinen eigenen Schreibansatz auf den Punkt.

Er streicht als vorbildlich für einen für die Lyrik anzustrebenden Realismus zweiter Ordnung – in dem »die Wörter nicht mehr mit den Dingen identisch sind, sondern allein mit sich selbst, ohne dabei eines außerhalb liegenden Bezugssystems zu bedürfen« – besonders heraus, dass die Amme sich »nicht auf ein herkömmliches Lexikon, einen Tesaurus, stützt, sondern vielmehr auf ein Verzeichnis, das aus Sätzen oder Satzfragmenten besteht. […] [D]ie Äußerungen der Amme setzen sich nicht aus kleinen semantischen, also zwangsläufig referentiellen Einheiten zusammen, sondern bestehen aus einem gleichermaßen kompakten wie komplexen semantischen Block, und die Referenz dieses Blocks bekommt man schwerlich als »Ding« oder »Tatsache« zu fassen. […] Auf was die Satzsemantik der Amme verweist, ist eher etwas wie »rhetorische Haltung« oder »formales Äquivalent« – sie bezieht sich also nicht auf die Welt, oder – da ja auch die Wortsemantik im Satz befördert wird – nur noch rudimentär, in einer Schwundform, sondern vielmehr auf bereits geäußerte Sätze, auf überlieferte Strukturen, auf Gesten des Bedeutens. Die Form des Satzes ist seine Aussage, und nicht etwa das durch ihn Mitgeteilte.«

Der leibhaftige Dichter kann da nur bewundernd und neidend hin- gucken – ihm selbst wird es schwerlich möglich sein, der Bedeutungsfalle zu entgehen. »[D]ieses sich ausdrücken wollen um jeden Preis – so formalistisch kann ein Text gar nicht sein, das spielt immer eine Rolle[.]« (Erstes Gespräch)

Mit dem Ausdruckszwang auf der Produzentenseite korrespondiert auf der Rezipientenseite der dumme Wille, den Realismus erster Ordnung wiederherzustellen, die Welt wieder hineinzuholen: »[N]och das dunkelste Raunen, die sprödeste Versuchsanordnung [wird] unter den Vorzeichen des Interpretierens und Verstehens gelesen«.

Auch die Frage der Autorschaft bleibt virulent. Gegenüber Graf kann Stolterfoht über seinen fachsprachen-Zyklus sagen: »Da spricht nicht nur einer, da sprechen viele«, doch muss er wohl oder übel einräumen: »[M]eine Idealvorstellung wäre ein Gedicht, das sich selber schreibt, aber das ist natürlich Quatsch. Ich sitze natürlich immer da […].«

»Überbetonung des Zeichens auf Kosten des Bezeichneten, Flucht in pseudologische oder paradoxe Redemuster, sprunghaftes, oft klanggeleitetes Assoziieren, metasprachliche und hyperintentionale Tendenzen und vieles mehr, alles bei einem stark ausgeprägten Personalstil.«

Diese Charakterisierung gibt Stolterfoht für die Texte der Amme; sie ist übertragbar auf seine eigenen.

Stolterfoht ist sich dessen bewusst, dass seine Ausklammerung der Welt als Referenz die mit dem Realismus verknüpften grundsätzlichen Probleme nicht löst, sondern lediglich transponiert: »Für mich war im- mer der Experiment-Begriff die Rettung, aber mittlerweile kommt mir das vor wie ein Realismus zweiter Ordnung.« (Ammengespräche, Erstes Gespräch)

Denn auch die Welt der Sprache ist eine Welt. Da ist es also wieder, das zähe Gespenst des Realismus. Mag der Realismus zweiter Ordnung, den die Amme schon ›drauf‹ hat, in Relation zu dem, was die Lyrik bis jetzt bewerkstelligt hat, eine ungeheure Innovation bedeuten – die notwendige Revolution ist an dieser Stelle noch nicht zu Ende. Zudem ist es immer noch ein Ich, das spricht, und das, trotz allen Sträubens, verstanden werden will. Doch um einen Schritt weiter zu gehen, müsste der wahre experimentelle Dichter seinen Kopf abgeben bzw. künstlerische Entscheidungen nach John Cage-Manier ans Buch der Wandlungen (I Ging) oder einen anderen Deus ex machina abtreten – was nicht viel helfen würde, da es dazu wiederum einer Entscheidung bedürfte, deren Urheber niemand anderes als, in diesem Fall, Stolterfoht sein könnte.

traktat vom widergang

Auch in der Trilogie traktat vom widergang (2005), das nomentano- manifest (2009) und wider die wiesel (2013), die im Verlag von Peter Engstler erschienen ist, ist gut zu beobachten, wie Stolterfoht den sprachinhärenten konservativen Anteil, den er wohl oder übel immer mitschleppt, durch gegenläufige Maßnahmen auszutricksen, zu schleifen sich befleißigt. Bilden bei den fachsprachen die Problematiken der Referenz und Autorschaft das Ziel der Stolterfoht’schen Unordnungs- und Verschleierungsstrategien, ist es bei der Engstler-Reihe jene der Übersetzbarkeit. Die Versuchsanordnung ist komisch irregulär, das Ergebnis entsprechend von Schiefheit und Querständigkeit geprägt.

traktat vom widergang fußt auf einem Buch des argentinischen Schriftstellers Juan Filloy, einer Sammlung von Palindromen, der ein »tratado de palindromía« vorangestellt ist, das »licht in die verzwickte palindromitische sache« bringen möchte. Stolterfoht hat die 41 Ab- schnitte dieser Abhandlung ins Deutsche gebracht – in sein Deutsch – und zwar in Unkenntnis des Spanischen, und »weniger mit hilfe des wörterbuchs als der anklangsmaschinerie«, wie in einer Notiz am Schluss des Bändchens zu lesen ist, das Ergebnis schließlich »gemäß den regeln des häckselns bearbeitet«.

»die logik besiegen und die syntax verbiegen« – mit ansteckender Lust am regelrechten anarchischen Sprachspiel wirbt Stolterfoht-Filloy dafür, die Buchstaben aus ihrer »orthographische[n] geworfenheit« zu befreien, freut sich an »eigenartige[n] vorkommnisse[n] auf dem semantischen feld« und streift beiläufig die politische Implikation ›unnützer‹ Sprache: »in einer verbrauchenden welt, wo / jeder dachsaugen hat, keiner zwingend hinkt, bietet der kult des / widergangs reichlichen abweich. nur: was gewinnt man durch die / hingabe ans stückeln? nichts, das ist sicher!« Es sind aber nicht nur Palindrome, die sich der Verwertbarkeit widersetzen, es gilt dies ebenso für die Lyrik allgemein, die dem auf ökonomischen Nutzen eingeengten kapitalistischen Arbeitsbegriff jenen philosophischen der schöpferischen Auseinandersetzung mit der Welt entgegensetzt.

das nomentano-manifest

das nomentano-manifest, eine Sammlung von acht mal fünf Gedichten – benannt nach Nomentano – San Lorenzo, einem von neunzehn Munizipien Roms, in dessen Gebiet die Deutsche Akademie Villa Massimo liegt – kennt thematische Vorwürfe, indiziert sie auch teilweise in der Überschrift einzelner Abschnitte: Antonio Gramsci (»gramsci 1«, »gramsci 2«), die in der Writers Guild of America organisierten nordamerikanischen Drehbuchschreiber (»die gilde«), Jack Kerouac und On the road (»die rolle«), Terror (»die türme«) usw., doch spielt Stolterfoht sie in einer Nachbemerkung als »semantische[n] rattenschwanz« herunter (»schön, daß er noch ein bißchen wedelt«) und erklärt, dass es eigentlich um »dinge in frageform« gehen sollte.

Stolterfoht kaufte sich bei einem Romaufenthalt als Stipendiat der Villa Massimo regelmäßig die kommunistische Tageszeitung Il manifesto und las die Beiträge, so gut es seine Italienischkenntnisse zuließen; sie bilden das Ausgangsmaterial seines Buchs. Das Wittgenstein’sche Postulat: »Die Grenzen meiner Sprache sind die Grenzen meiner Welt« wird hier weniger im Sinne der Gleichung sagen = wissen einem Praxistest unterworfen; vielmehr geht es um die Weltwahrnehmung als Resultat eines bestimmten Sprachsystems und, damit zusammenhängend, um die Frage, ob der Transfer einer spezifischen (in diesem Fall der italienischen Kultur zugehörigen) Weltwahrnehmung in eine andere Sprache unter der Bedingung des Verstehens möglich sei.

wider die wiesel

wider die wiesel variiert das Tema der Übersetzbarkeit. Die wieder- um vierzig Gedichte (fünf mal acht) rücken Fragen der »Sagbarkeit« in den Mittelpunkt. »Wie [sic] kann es sein, daß sich in kaputter, in nicht oder kaum verständlicher sprache über dinge sprechen läßt, die in angemessener (höherer) sprache vom gedicht abgestoßen würden? daß sich so überhaupt von dingen sprechen läßt? daß fehlerhaftigkeit womöglich existenzbedingung darstellt?«

Anders als bei den Vorgängern traktat vom widergang und das nomentano-manifest hat Stolterfoht die Übersetzung des »wieselmaterials«, das dem Band zugrundeliegt, nicht selbst erstellt (das ist nur konsequent, da er der englischen Sprache mächtig ist), sondern ließ sie von der Google-Übersetzungsmaschine ausführen. Dabei kam ein Kauderwelsch heraus – deutsch-englisch gepantschte Sprache / deutsche Wörter, gepaart mit englischer Syntax, falsche Präpositionen, steife, extrem künstliche Dialoge usw. –, nicht unähnlich den schrägen Syntagmen in Monika Rincks begriffsstudio, das die (aus Sicht der Maschine: unfreiwillige) Verballhornung zum Prinzip erhebt. Im Nachwort zeigt sich Stolterfoht zufrieden: »… die erzielten ergebnisse [wirkten] so überzeugend daneben, daß sie nur noch schonend bearbeitet werden mußten.«

Die titelgebenden Wiesel beziehen sich einerseits natürlich auf die gleichnamige kleinste Art (Wiesel, Gattungsname Mustla) aus der Familie der Raubmarder (vgl. das Horazisch »disiecta membra mustelae« benannte erste Kapitel), sie stehen aber auch für die US-amerikanische Rockband »The Weasels« (deren Stil, so ist zu erfahren, mit Frank Zappas Mothers of Invention verglichen wird, die wiederum ein Album »Weasels Ripped My Flesh« herausgebracht haben), für »weasel« im Sinne von: »a deceitful or treacherous person« (eine falsche oder verräterische Person) … und man darf auch denken an die »Wieselwörter«, von denen einst der österreichische Ökonom Friedrich August von Hayek sprach: »a word that is intentionally ambiguous or misleading« (The Concise Oxford Dictionary). Hayek nannte als Beispiel: »soziale Marktwirtschaft«. Das Substantiv hält das Adjektiv wie ein Ei zwischen seinen Pfötchen und saugt es aus, ohne es zu zerbrechen, so wie die Google-Übersetzungsmaschine den englischen Originaltext aussaugt und ihn Stolterfoht (weitgehend) sinnleer hinterlässt.

Konstantin Ames

Stolterfoht, radikal in seinen theoretischen Voraussetzungen, erweist sich gleichwohl als formstrenger Dichter; die (variabel gehandhabte) Stolterfoht-Strophe ist auf den ersten Blick erkennbar. Sein jüngerer Kollege Konstantin Ames (Jahrgang 1979) pflegt hingegen einen wohlkalkulierten, keineswegs beliebigen, Zerfledderungsstil, der an literarisches Rowdytum grenzt. Strategisch eingesetzte Regelverstöße und ästhetische Schocks können aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch er ein Formalist ist, ja, sie sind Ausdruck dieses Formalismus’.

In einer poetologischen Selbstauskunft hat Ames die formale Seite seiner Gedichte mit den Worten »Dissonanz, Digression und Überraschung« umrissen. Als weitere Textstrategien kommen hinzu: »Anreicherung«, »forcierte Flapsigkeit«, »Fragmentierung« und »Vershohnepipelung (»Spass muss es machen, sonst macht es keinen Spaß!«)«. Diesem Programm folgt er sowohl in Alsohäute, seinem Debüt von 2010, als auch in dem 2012 erschienenen Band sTiL.e(ins) Art und Weltwaisen, für den er auf Vorschlag von Jan Peter Bremer mit dem Förderpreis zum Mörikepreis der Stadt Fellbach ausgezeichnet wurde. Ihm sollen zwei weitere Bände folgen, sTiL.e(zwi) Élégies trouvés und sTiL.e(dri) Saartiere (alle bei Urs Engeler).

Ames’ Gedichte setzen dem Leser Widerstand entgegen, provozieren im ersten Moment vielleicht sogar Abwehr. Ames weiß darum: »Viele Leser […] lassen sich von Buchstaben auf Papier in die Irre führen. Erwarten Rührung, Erbauung und sind dann enttäuscht, wenn der Text etwas anderes tut. Was er soll.«

Zugleich wiegelt er ab: »Verrätselt habe ich […]: nix, es steht alles da, auf dem Papier.«

Ames’ Gedichte schleppen allerhand Wortmüll mit, Trophäen des Blöden oder Banalen, aber auch viel Bildungsgut. Die Tonlagen wechseln, nicht selten auch innerhalb eines Gedichts. So enigmatische wie eingängige Verse wie:

»Gott und die Jazzer und ihre krise der / äuropeischen litteratur« stehen neben fein erdachten Albernheiten (»stiftung stiltest: urteil »nietzsche« vom 7/2011«), O-Ton-Zitaten (»Meine Damen und Herren! In Kürze erreichen wir Kaiserslautern«) und Schnappschüssen: »Möwen schubsen Krähen in den Sand. / Sonne erbricht sich auf den Strand.«

Seine Absage an das Naturgedicht gießt Ames in den Blankvers: »Was glotzt’ mich, grüne Masse, an, ich kann / nicht bei dir sein[.]«

Er nutzt klassische Verfahren wie Anapher, Parallelismus, Assonanz, unreinen Reim und greift auf überkommene Formen wie Ode, Ballade, Hymne, Sonettenkranz zurück, die für ihn freilich keine Reliquienknöchelchen darstellen, sondern Material.

Das Gedicht »;« aus Alsohäute steht für die Qualität seines Schreibens:

;heute am 08.10.2010 habe ich meinen Rotstift verloren dieser (ich habe mich vorher damit verschrieben) Rotstift war mein Herz also habe ich mein Also heute verloren

; heute, am achten Oktober 2010, habei ch meinen Rotstift verloren; dieser (ich habe mich vorher damit verschrieben) Rotstift war mein Herz; also habe ich mein Also heute verloren;

Da ich diesem Gedicht nicht den Titel Alsohäute gegeben habe, siehst Du, dass ich etwas von Poesie verstehe; das auch.

(= 4. politisches fürdicht«)

Die Farbe Rot, das Wort »Herz«, die Ansprache (»Du«) und die eigentümliche Gedichtbezeichnung (»politisches fürdicht«) scheinen auf eine gewisse Intimität oder Vertrautheit zwischen lyrischem Ich und Du hinzudeuten, um so mehr als »;« zu einer mehrteiligen Reihe gehört, eben jener der »fürdichte«. Die Partizipien »verschrieben« und »verloren«, elegisch ›besetzt‹, stehen nicht nur für Verlust, sondern auch für Hingabe (sich jemandem, einer Sache verschreiben; sein Herz an jemanden, etwas verlieren); das dritte Partizip, »gegeben«, vor allem aber der insgesamt behutsam-schwebende, zärtliche Ton, verstärken den Eindruck eines ›freundlichen‹ Gedichts. Der nach oben verschobene Strichpunkt des Anfangs, als Überschrift, verweist auf den eigentlichen Gedicht-Gegenstand, nämlich seine subtile rhythmische Gestaltung, die, neben der Versifizierung, eben von den Satzzeichen bestimmt ist. Der Wechsel in der Schreibung des Datums ›bedeutet‹ mindestens optisch eine Veränderung des Tempos – ob beschleunigend oder verlangsamend, bleibe dahingestellt; die Verschreibung (Verschleifung) im ersten Vers der zweiten Strophe – »habei ch« – ist vielleicht als Rubato zu lesen. Worte und Interpunktion der beiden ersten Strophen sind beinahe identisch, und doch: kein Vers gleicht dem andern.

Ann Cotten

Als Ann Cotten (Jahrgang 1982) mit dem fulminanten Band Fremdwörterbuchsonette (2007) debütierte, wurde sie vom Literaturbetrieb, dem großen Vampir, rasch zum »Shootingstar« ausgerufen – ein Titel, der perfiderweise stets mit dem Beiwort »neu« vergeben wird, der die Vergänglichkeit des Ruhms besiegelt. Damit tut man Ann Cotten unrecht. – Sie verstand und versteht es übrigens, sich dem Druck des Betriebs zu entziehen. So hat sie ihr Werk auf abwechslungsreiche Weise, immer überraschend, und mit Klasse, vorangetrieben, sei es mit ihrer Text-Bild-Arbeit Glossarattrappen (2008), ihrer Elegie Das Pferd (2009) oder mit ihrem formübergreifenden – die Herausgeberfiktion noch einmal durchspielenden – Band Florida-Räume (2010). Nach der Welt. Die Listen der konkreten Poesie und ihre Folgen (2008), das in der englischsprachigen Broken Dimanche Press erschienene Bändchen I, Coleoptile (zusammen mit der Künstlerin Kerstin Cmelka) (2010) und die poetologische Schrift Helm aus Phlox. Zur Teorie des schlechten Werkzeugs (mit Daniel Falb, Hendrik Jackson, Steffen Popp und Monika Rinck) (2011) vervollständigen ihr Werk. Mit jedem neuen Buch wird es unabgeschlossener.

Fremdwörterbuchsonette

Der Ton der 78 spiegelbildlich angeordneten Doppelsonette (diese Variante des Sonetts nimmt die Spiegelachse des Buchs ins einzelne Gedicht), mit denen Cotten die (buch)literarische Welt betrat – Auftritte bei Poetry Slams und Lesebühnen gab es schon vorher – ist liedhaft-romantisch und scheint Wilhelm Müller näher zu stehen als z. B. Reinhard Priessnitz. »Es gibt keine Prozesse, nur eins und eins / und null[.]«, heißt es aber ernüchternd in »Kontingenz und ich und das Lied«. – Vor allem sind es die Fremdwörter selbst, um die die Sonette gebaut sind, die die sanglichen Verse zuverlässig aufs Nagelbett der Wissenschaft ziehen. Dennoch bleibt ein anheimelnder Firnis analytisch getönter Nostalgie; vielleicht darf man auch an die 78 Umdrehungen alter Schellackplatten denken. Die Fremdwörterbuchsonette sind ein Wurf.

Das Pferd

Das Wort »Pferd« kommt in der Elegie Das Pferd, die immerhin rund 350 Verse umfasst, nur zweimal vor, dreimal, wenn man das Cover mitzählt. Dennoch offenbart der Titel seinen Sinn, wenn es im vierten Vers heißt: »[A]lso bauen wir auf Pferde, die uns alles erklären sollen.« Gerade dies jedoch kann und will die Dichterin nicht leisten, nicht von ungefähr reimt sie »kapiert« auf »kupiert«. Sie gibt aber den Hinweis auf den Science Fiction-Autor William Gibson, Verfasser der Neuromancer-Trilogie, bei dem ein ›Pferd‹ vorkomme, das »so etwas wie ein Datenhighway ist, ein Trip, eine virtuelle Identität, ein Wind im Cyberspace.« Hilft das aber weiter?

Wenngleich es also nicht einfach ist zu sagen, worum es in Das Pferd geht – es scheint sich eine poetologische Position damit zu verbinden. Diese wird mit Streitlust vorgebracht, wie sie bereits in Cottens Essay »Etwas mehr« aufblitzte.

Die Kritik richtet sich gegen »die erschlafften Buntschriftsteller« (welcher Typus sich auch immer dahinter verbergen mag) und die »grauen, verhärmten / eines Erfolges harrenden, oder auf Erklärung von oben spekulierenden / Betriebsheinis«.

Dies Austeilen könnte eine Pose sein, ein Knurren, um die Falschen abzuschrecken. Gewichtiger als autopoetische Aussage ist da schon eine Passage wie:

»[…] Alles, was unausweichlich erscheint, / erschießen. Alles, was uns bemüht, behutsam / unterwandern, wollen es nicht verraten müssen, nie. / Diesen Gegenstand unserer Treue aber sezieren, / liebevoll also zu einsichtigen, landstrichartigen Scheiben / […] zu- sammenfügen […].« Das heißt, Gedichte nicht für unmittelbare Tagebuchnotate miss- brauchen, sondern im Gegenteil das, was ausgesprochen zu werden sich aufdrängt, weglassen, krasse Unmittelbarkeit vermeiden. Abgekühlt, seziert, transformiert lässt sich etwas mit dem »Gegenstand unserer Treue« anfangen.

Die Sentenz, die das vierte Kapitel einleitet, weist in dieselbe Richtung: »Ist dir die Schulter kalt? Zieh dich doch vollständig aus. / Diese Kälte ist mehr, und du bist eine faule Grenze.« Faule Gans, klingt da durch, Bequemlichkeit und Dummheit gleichermaßen schmähend.

Das Pferd ist (nicht nur, aber auch) die Prüfung auf Tauglichkeit einer alten Gedichtgattung. Cotten macht sich ohne Scheu an diese Aufgabe, befragt die Form – »Kann man etwa vielleicht nur Fragen stellen in Elegien?« – und befragt die Leser: »Glaubt ihr, was ich da sage? Kann man euch jeden / letzten Scheiß in diesem angedeuteten Metrum einidrucken?«

Sie beweist, dass auch im 21. Jahrhundert die Elegie noch eine dichterische Option sein kann. Anders als bei Brecht (Buckower Elegien) oder Goethe (Marienbader Elegien) ist Cottens Elegie kein »Alterswerk« – die Autorin war in ihren Zwanzigern, als Das Pferd erschien. Auch birgt sie kein »Altersweh«, wie es in einem schönen Parallelismus heißt, »sondern ein Tangieren / dessen, was uns schmerzen wird und auf eine Weise schon schmerzt. […] Und die Zeilen ragen / raus wie kobaltblaue Fäden aus etwas längst Geheiltem.«

I, Coleoptile

I, Coleoptile nimmt eine Sonderstellung in Cottens Werk ein, weil es – einem Wunsch des irischen Verlegers John Holten folgend – auf Englisch verfasst ist. Weit weniger bekannt als die Fremdwörterbuchsonette, und auch entlegener publiziert als diese, enthält es doch einige der besten Gedichte Cottens.

Der belgische Kritiker Jan Pollet hat I, Coleoptile eine ausführliche Analyse gewidmet (wie überhaupt die eifrige Rezeption Cottens im niederländischen Sprachraum auffällt) und umreißt dessen Bandbreite: »vom Philosophisch-Symbolischen und Mystischen bis hin zur heutigen Realität von Internet und Popmusik.«

Wer den Versuch unternimmt, den Texten mittels Übersetzung auf die Spur zu kommen, gerät schnell ins Schlingern. Angesichts von Fügungen wie: »everything becomes difficult (es bekommt Schwierigkeiten) / and the difficulties become me not« (»Enzo goes around«) ist das auch kein Wunder.

Ein Beispiel mag anschaulich machen, welchen Problemen sich gegenüber sähe, wer eine Übersetzung von I, Coleoptile nicht als provisorische Krücke für die private Lektüre, sondern als Nachdichtung konzipieren wollte.

Der Vers »a working miss / and lack is whole / and paint is strong« aus »Where is the cause« kann heißen: »ein funktionierender Reinfall / und Mangel ist ganz / und Farbe ist kräftig«, doch bedeutet »working miss« auch: »eine berufstätige junge Frau«. Welcher Bedeutung ist der Vorzug zu geben? »[M]iss« und »lack« scheinen zusammenzugehören, andererseits könnte »paint« auch mit »Lack« wiedergegeben werden, und dann ist die Frage, ob das (vermeintlich) englische »lack« vielleicht (auch) ein deutsches »Lack« sein könnte? Oder gar ein »Leck«? – »[U]nd das Leck ist ganz« würde zum »funktionierende[n] Reinfall« passen, sofern nicht doch die berufstätige junge Frau gemeint sein sollte.

Eine Nachfrage bei der Autorin bestätigte die Vermutung, dass mit dem Englisch in I, Coleoptile etwas nicht stimmt (und es gerade darum, dichterisch, passt):

»Du liegst allerdings richtig, wenn du siehst, dass du mit der Übersetzung auf kein Resultat kommen wirst, das mehr ist als eine Merkhilfe für Vokabelbedeutungen. […] Warum, glaubst du, verwende ich diese Sprache, zwischen Englisch und Deutsch, Altenglisch, Mittelhochdeutsch und Shakespearenachahmung, eine Sprache jedenfalls, die es nicht in der Welt gibt, also kein Soziotop hat und keinen Native-Speaker? Eben zum Beispiel, damit das Wort lack bedeutungsmäßig anders betont wird als üblich, nämlich so wie ichs hier brauche. Für mich ist das ein so essentielles Verfahren wie die Dampfbiegung für die Thonet-Stuhl-Produktion.«

Im bereits zitierten Essay »Etwas mehr«, ihrer scharf-kritischen Auseinandersetzung mit der »Konstatierungslyrik« vieler ihrer (nicht nur) Berliner Kollegen, propagiert Ann Cotten das »Sprachspiel mit allen Mitteln«, empfiehlt »verschlagenere Vorgehensweisen« und fordert, »auf den assoziativen Bereich ganz genau zu achten«, denn der »Assoziationsdschungel« sei »widerstandsfähig, unberechenbar, kräftig und vor allem groß genug, jede zu einfach gedachte Klassifizierung zu befuddeln […].« Ihre Idee von einem Gedicht ist die eines Inkommensurablen, es soll ein unauflösbarer Rest bleiben, für jeden ein anderer.

Spiel, Swing, Humor – diese Qualitäten bestimmen mit die Komplexität der Texte Ann Cottens. Im Lesen und in der Wissensvergessenheit können sie begriffen werden.

Mara Genschel

Einen wieder anderen Weg schlägt Mara Genschel ein. 1982 in Bonn geboren, heute in Berlin lebend, debütierte sie 2008 mit dem exzellenten Band Tonbrand Schlaf. 2009 erschienen ihre Glossolalieninterpretationen (zusammen mit Valeri Scherstjanoi)

Vom Nachtalpenweg als bibliophile Buch + CD-Produktion. 2012 kam das erste Heft ihres Buchprojekts Referenzfläche heraus.

Mara Genschels Lyrik ist sperrig und wenig konziliant – radikal nicht aus einem Gestus des épater le bourgeois heraus (auch wenn ein Leser sich düpiert fühlen mag, wie Harald Hartungs verständnislose Rezension von Tonbrand Schlaf in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung belegt), sondern wörtlich verstanden als Besinnung auf die Wurzeln lyrischer Rede: Klang, Geräusch, Rhythmus, Stille. Das Prozessuale der sprachlichen Äußerung ist in Genschels Gedichten vollkommen emanzipiert; Atem, Artikulation, Lautung sind ein durchgängiges Tema, wovon sie sonst im einzelnen auch handeln mögen.

Exemplarisch hierfür kann das Gedicht »Alb (Schrift und Ton)/Album« gelten, eine Paraphrase auf das Märchen »Brüderchen und Schwesterchen« der Brüder Grimm, eine Art ausgedünnter, skelettierter Ballade, ein Drama der artikulatorischen Phonetik. Die vielen Apostrophs, das An- oder Abgerissene, die Begriffe (»Glottis«, »Syrinx«, »Luftröhrenast«, »Zunge«, »Lunge«, »kehlt« usw.) lassen an die Klangforschung eines Helmut Lachenmann denken, oder an die pausendurchsetzte, leise, hinlauschende Musik des späten Luigi Nono, in dem Sinne: die Worte sind nicht einfach da, fix und glatt, sondern sie müssen einen Weg zurücklegen, Widerstände überwinden, Energie aufbringen, eigenes Aggressionspotential erspüren, und dann (vielleicht) kommen sie heraus, mit allen Spuren der Mühe, in einem Häutchen aus Stille. Die gearbeitete Sprache legt die Arbeit der Sprache bloß.

Als einen »Versuch einer klanglichen Gestaltung, eines Timings, der Kenntlichmachung von beidem« beschreibt Genschel selbst »Alb«, und führt weiter aus: »ein ordentliches Notationsproblem, für dessen Lösung ich mich auch in Partituren, speziell auch von Vokalmusik (zu der Zeit war für mich zB Adriana Hölszky sehr interessant) umgesehen und mit jüngeren Komponisten ausgetauscht habe.«

Die Gedichte in Tonbrand Schlaf sind charakterisiert durch Feinnervigkeit, Klangsensitivität, rhythmische Durcharbeitung, genaueste Artikulation. Wie in der letzten Strophe von »Ich in«, einer Studie über den Laut [i]/[i:] – »zier in licht / in lid / di stile / ziehst mich / in grafit / gerillte / stirn / in stilles / sprachbett« – das Vokal-i der betonten Silben mit dem Vokal-e der Auslautsilben ausbalanciert wird, um im Schlussvers in den betonten Vokalen a und e beruhigt und abgetönt zu werden (vorbereitet vom korrespondierenden »grafit« im fünften Vers), ist ein Kunststück.

Genschels Dichtung kennt auch robustere, ironische Töne, so in den drei ›Rezeptgedichten‹ »79 FLEISCH einfach«, »134 WILD tiefkühlgeeignet«, »349 DESSERTS klassisch«. Ein Gemäldegedicht (»Odilon«), ein exquisites Epitaph auf Thomas Kling (»Radiophoneme«), ein keck-frivoles »Lied der portugiesischen Wäscherin« gehören zu ihrem Formenrepertoir ebenso wie die schlicht-perfekten Verse auf eine Kuh, »Holy cow heart.«, und eine Hommage an Max Ernst, die den Band würdig beschließt.

Einen neuen Weg schlägt Genschel mit ihrer konzeptuellen Arbeit Referenzfläche ein, die kein abgeschlossener Gedichtband ist, sondern fortlaufend in Faszikeln erscheint. Sie erläutert:

»Ich bringe in diesem Konzept meine Vorstellung von Nachbereitung und Übergriff auf vermeintlich stabilen Text unter. […] In kleinsten Auflagen (20–50) stelle ich Textsammlungen zusammen, lasse sie drucken und greife dann nach meinen Vorstellungen handschriftlich ein. Jedes Heft ist somit ein Unikat. […] Ich entwickle die Referenzfläche laufend weiter. Das betrifft sowohl die Produktion weiterer Rohtexte, als auch die Erprobung weiterer Eingriffe.« [Hervorhebungen von der Autorin.]

»Eine Bezugs- oder Referenzfläche ist eine gedachte Fläche, auf die sich Berechnungen oder Messungen beziehen[.]«, definiert die Wikipedia. Das heißt, es gibt eine Substanz (Referenzfläche), und es gibt verschiedene Modi dieser Substanz: das konkrete Heft, z. B. das Exemplar 32/50; die zugehörige Internetseite; die Arbeit an neuen »Rohtexten«; die Arbeit an neuen Schwärzungen, Überklebungen, Überschreibungen, Inskriptionen; auch das eventuelle Nichtzustandekommen oder das Verwerfen von Gedichten bilden mit die Referenzfläche.

Der vorbehaltliche Eingriff in die Gedichte ist Teil des Konzepts, so weit so gut. Die Frage ist, inwiefern es sich um vorbedachte Modifikationen handelt, d. h. die Absicht, später in die Texte einzugreifen, schon für das Schreiben selbst relevant ist.

Ein Gedicht (»wurd nachts die Leiche / keine Ahnung«) ist dreimal enthalten. Alle drei Male ist es nachbearbeitet. Im ersten Fall hat Genschel einzelne zusammenhängende Wörter mit (offensichtlich per Hand zugeschnittenen) Papierstreifen überklebt – die für die Eingriffe verwendeten Materialien sind, wie man es aus der Bildenden Kunst kennt, auf der »Referenzfläche«-Website angegeben (Tesafilm, Edding, Bleistift). Durch die Aussparungen ergibt sich ein Leseeindruck, ähnlich einem belauschten Getuschel im Treppenhaus. Den 34 Wörtern dieser ersten Version stehen in der vernebelten zweiten nur mehr zwanzig gegenüber – es sind eben die, die zuvor abgeklebt waren. Ihre Position entspricht der der ersten Fassung (dort nur als Durchschüsse ›sichtbar‹). Ausgeschnitten, und auf eine leere Seite geklebt, wirken sie wie eine ephemere, kontingente Erscheinung.

Im dritten Fall sind alle Wörter einzeln durchgestrichen, nur die Interpunktionszeichen, die Atemzeichen gewissermaßen, bleiben vom Schwarzstift verschont, und, vielsagenderweise, der Verweis »(s. o.)«.

Auch bei dem Gedicht »Kirschkuchen ist aus« ergibt das nachträgliche Durchixen (mit dreizehn Kreuzen in dem dieser Besprechung zugrundeliegenden Exemplar) Sinn. Die scheinbare Textnegation funktioniert in diesem Fall wie eine Affirmation, insofern als sie den Text nicht wegnimmt, sondern ihm etwas Wesentliches hinzufügt, ihn eigentlich erst vervollständigt. Die Xe, mit denen die Strophen durchgestrichen sind, können dabei wahlweise mit dem Gitter auf einem Obstkuchen oder mit den im Text mehrfach, in Wort und Symbol, vorkommenden Kreuzen assoziiert werden, und natürlich mit der durchkreuzten Schrift auf einer Angebots-Tafel, wie man sie aus der Gastronomie kennt. (Auch die Heftzählung verwendet ein Kreuz: »1#«.)

Kirschkuchen ist aus. Apfelkuchen ist auch aus. Apfelstreusel war da.

Schokotorte war auch da. Schokokuchen ist auch aus. Apfelstreusel ist Apfel-

streusel ist auch aus jetzt. Schokotorte ist auch aus jetzt, auch Kirschtorte

ist aus. Quark: gab’s nie! Gibt nur noch was hier steht.

Man sieht geradezu, wie sich die Bedienung bei den Worten »Apfelstreusel ist« fragend in Richtung Kuchentheke dreht, um sich dann wieder dem Konsumenten zuzuwenden: »Apfel- / streusel ist auch aus jetzt.«Die Destabilisierung des Textes, die Mara Genschel in Referenzfläche betreibt, transzendiert ihn auch. – Ein Überschreiten der Textgrenzen bzw. deren Weitung und Öffnung hin zum Visuellen und Akustischen bekunden auch die seit 2008 entstandenen Audio- und Textfilmproduktionen auf ihrem Blog »Höhere Vasen« [http://hoeherevasen.wordpress.com] wie auch die Lautdichtungen und Geigen- kompositionen des Künstlerbuchs Vom Nachtalpenweg.

Ulf Stolterfoht, Konstantin Ames, Ann Cotten und Mara Genschel – vier hervorragende Stimmen der ›experimentellen‹ Lyrik mit je unterschiedlichem, immer aber weit gefasstem Konzept. Vier Stimmen auch, die sich den Freiraum geschaffen haben, nicht – gemäß den Gesetzen des Marktes – produzieren zu müssen (»publish or perish«), und darum unbeirrt und auf höchstem Niveau ihr Ding weitermachen können. Glücklich die Leser! [2013]