Das sind Sie nicht

(Eine Verkäuferin zu meiner Mitbewohnerin, als sie Wintermäntel anprobierte.)

„Trotz des Tötens und trotz des Zerstörens sind wir heute in keiner besseren Lage als vor einem Jahr, und unsere Lage wird in einem Jahr nicht im mindesten besser sein”: schreibt er, und Verhandlungen mit den Viet Cong empfiehlt er überdies. Die Regierung will aber von versäumten Verhandlungen nichts wissen.
Uwe Johnson, Jahrestage, S. 292 [14. November 1967, Dienstag]

Wer hat’s gesagt? Auflösung → hier

Gestern in Zehlendorf. Zwei Schüler im 115er unterhalten sich über ihre Aktien. Läuft über Daddy. Allianz musst du kaufen! Kostet? Zweihundert. Also: eine.

Die frischen Triebe eines Übersetzungsvorhabens, das ich auf der Leipziger Buchmesse einigen Verlagen unterbreiten wollte, wurden abgesengt, weil sich Verlegerin und Autorin überworfen haben und die erstere nicht willens scheint, die Übersetzungsrechte zu verkaufen.
„Die Erfolgsaussichten bei diesem Vorgehen (Kaltakquise) sind äußerst bescheiden. Aber der Zufall spielt ja manchmal gut mit”, hatte mir ein befreundeter Kollege geschrieben, bevor der Ballon geplatzt ist.
Jetzt suche ich was Neues.

Das Pressebüro Prenzlauer Berg sandte mir diesen Artikel aus der österreichischen Zeitung Der Standard:

Verkehrsplaner Hermann Knoflacher: „Das ist eine Folge des Autovirus”

STANDARD: Unter welchen Umständen würden Sie sich für den Bau einer neuen Straße aussprechen?

Knoflacher: Die Frage stellt sich bei uns nicht, weil wir schon seit Jahrzehnten zu viele Straßen gebaut haben.

Der Standard, 22. Jänner 2024

Rimbauds Illuminations habe ich für’s erste aus.
Als leichte Lektüre habe ich mir bei Shakespeare Das Café ohne Namen (Lese-Ex) mitgenommen. Seit seiner Lesung in meiner gewesenen Buchhandlung bewahre ich Robert Seethaler eine Sympathie.
Er kann erzählen, klarer Fall. Ich frage mich nur, ob er sich beim Schreiben nicht stärker herausfordern müsste. Jazzer spielen in immer neuen Besetzungen und Formationen, setzen sich künstlerischen Risiken aus, bewahren sich so vor Routinen.
Was machen Schriftsteller?
Nun lässt sich einwenden, dass ich auch keine Risiken eingehe. Allerdings schreibe ich ja hier nur dumm rum. Meine fünfundvierzig Abonnents + paar freien Leser erwarten nicht wunders was von mir, die über Suchmaschinen Hereinschneienden schmelzen eh, ich werde nicht von Marbach archiviert, ich plane kein Buch, also was soll’s.

„Je vous souhaite des rêves à n’en plus finir et l’envie furieuse d’en réaliser quelques uns.
Je vous souhaite d’aimer ce qu’il faut aimer et d’oublier ce qu’il faut oublier.
Je vous souhaite des passions, je vous souhaite des silences.
Je vous souhaite des chants d’oiseaux au réveil et des rires d’enfants.
Je vous souhaite de respecter les différences des autres, parce que le mérite et la valeur de chacun sont souvent à découvrir.
Je vous souhaite de résister à l’enlisement, à l’indifférence et aux vertus négatives de notre époque.
Je vous souhaite enfin de ne jamais renoncer à la recherche, à l’aventure, à la vie, à l’amour, car la vie est une magnifique aventure et nul de raisonnable ne doit y renoncer sans livrer une rude bataille.
Je vous souhaite surtout d’être vous, fier de l’être et heureux, car le bonheur est notre destin véritable.”

Schickte heute jemand vom Stammtisch herum. – Für unbekannte Wörter siehe de.pons.com oder DeepL.

Jacques Brel, 1.1.1968

Intelligenzsiedlungen

Am 31.8. um 13.00 Uhr hat meine griechische Arbeitskollegin ausnahmsweise kein Lunch-GIF gepostet, sondern ein Lunch-Meme.
Die Bildunterschrift lautete: just made me some synonym rolls. (Lies: cinnamon rolls.)
Darunter der schlagfertige Kommentar eines Internauten: just like grammar used to make.
Ich gebe zu, ich brauchte eine Weile.
Meine englischen Arbeitskollegen habe ich gefragt, wie denn der gesetzliche Feiertag (bank holiday) geheißen habe, den sie Montag hatten. Der Name war: Summer Bank Holiday. In England, Wales und Nordengland am letzten Montag im August, in Schottland am ersten Montag im August.
Übermorgen haben die USA einen amtlichen freien Tag, Labor Day.

Von den Filmen, die ich zuletzt geguckt habe, fand ich Laura Poitras‘ Dokumentarfilm über Nan Goldin herausragend (All the Beauty and the Bloodshed), Celine Songs Past Lives und Greta Gerwigs Barbie sehenswert, doch doch, und die Fernsehserie Arcadia, die gerade in der ARD Mediathek zu sehen ist, sehr gut.
Die Geschichte spielt in einer nahen Zukunft, irgendeine Katastrophe oder ein Verbrechen hat sich ereignet, die Gesellschaft organisiert sich unter dem Namen Arcadia neu. Für die gechipte Bevölkerung gibt es Verhaltensnoten, nach denen sich der jeweilige Lebensstandard richtet (medizinische Versorgung, Wohnen, Auto, Arbeit, Ernährung: Milch aus dem Automaten ist das absolute Luxusgetränk). Wer unter das Punkteminimum fällt, wird aus der Gesellschaft ausgestoßen und in einer lebensfeindlichen Wildnis dem eigenen Schicksal überlassen.
Ein Kader hat den einschlägigen Algorithmus manipuliert, um seine Familie zu schützen.
Bei einem Scan fliegt er auf, verliert Rechte und Privilegien, wird deportiert, seine Familie herabgestuft, abgehört, beschattet, irgendeinen Fehler werden sie schon machen.
Keine gemütliche Zukunftsvision … Bemerkenswert, dass man sie dem Regisseur ohne weiteres abkauft.
Lynn Van Royen spielt eine der Hauptrollen, von Beau Séjour (Zimmer 108) noch in guter Erinnerung.
Ich freue mich auf die zweite Staffel.

Róisín Murphy, modisch wie immer auf dem neuesten Stand, war dies Jahr in ihrer Heimatstadt Arklow und hat den ganzen Ort närrisch gemacht. Die Volkstümlichkeit von Pop-Musik kennt man ja sonst eher von den Beatles.

Brachte der 1. September 1967 ein Wiedersehen mit D. E., dem Freund von Gesine Cresspahl (Jahrestage. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl) – „D. E. arbeitet in der Rüstung. D. E. sagt: Ich arbeite für die Verteidigung.” -, so ist der 2. September dem feinen Porträt der Mrs. Ferwalter gewidmet, das, wie der Kommentar erwähnt, auf eine persönliche Begegnung zurückgeht:
„Der sechste Tag im August war ein Sonnabend. Nach dem Fruehstueck ging ich auf den Spielplatz unserm Haus gegenueber, um endlich die Kinder kennen zu lernen, mit denen unser Kind eine permanente Verabredung hat, und deren Muetter. Die Muetter sind aus Belgien, aus Komotau und aus Karlsbad davongekommen, eine mit der KZnummer am Arm. Eines der Kinder spricht hebraeisch, das andere amerikanisch mit unserm, beide verstehen ihr Deutsch. Fuer die Muetter sehe ich irgend wem zu aehnlich.” (Uwe Johnson, Brief an Fritz J. Raddatz)
Ein deutlich herausgearbeitetes Motiv in diesem Porträt: „Danach können wir sie nicht fragen” – denn im Gegensatz zur Klatschtante Raddatz war Johnson ein taktvoller und diskreter Zeitgenosse, als der er sich später auch im Gedenkbuch über Ingeborg Bachmann bewähren sollte.
Ob ich jetzt bis nächsten Sommer das Buch weiter und fertig lese … mal sehen. Vorläufig bleibe ich dabei, es ist ja nicht die schlechteste Lektüre, und beim dritten Mal ist es auch einfacher.

Das Wort aus der Überschrift ist mir bei meiner buchhändlerischen Arbeit begegnet. Soll ich mehr verraten?

Track 10

In ihrem jüngsten New York Times subscriber-only newsletter, der Dienstag an die Abonnenten verschickt wurde, hat Popmusik-Kritikerin Lindsay Zoladz unter der Überschrift

9 Songs From Pop’s ‘Middle Class’ That Deserve to Be Hits. Hear songs by Carly Rae Jepsen, Charli XCX, Troye Sivan and more

Stücke von Musikern ausgewählt, die zwar Popstars sind, jedoch nicht an den Ruhm und Reichtum einer Beyoncé oder Taylor Swift oder Madonna heranreichen. In dieser Liste vertreten ist auch – siehe oben – Charli XCX mit einem Stück, das den funktionalen Titel Track 10 trägt, das zehnte und letzte Lied (kann man das sagen?) ihres 2017 veröffentlichten Albums Pop 2 (hier die Kritik von Alexis Petridis im Guardian). Sie war damals fünfundzwanzig Jahre alt.
Ich dachte, Charli XCX hätte in Track 10 ihren geradeausen (LZ schreibt: radiotauglichen) Song Blame It On Your Love zerlegt und schräg wieder zusammengebaut, aber es war umgekehrt: erst gab es Track 10.
Für die futuristisch klingende Produktion – die Kritikerin denkt in dem Zusammenhang an einen verrückt spielenden Laserdrucker – ist A. G. Cook zuständig, der technische Konterpart von Charli XCX, die bürgerlich übrigens Charlotte Emma Aitchison heißt.
Mir gefällt sowohl die klangliche Kühnheit von Track 10 als auch der Aufbau des Songs über die Dauer von fünf Minuten (nicht radiofreundlich!), die durchgehend Spannung und Überraschung halten.

Montag ist der Bloomsday für Johnson-Leser.
„21. August, 1967 Montag” ist der erste Eintrag der Jahrestage datiert, der wie folgt einsetzt: „Aufklarendes Wetter in Nordvietnam erlaubte der Luftwaffe Angriffe nördlich von Hanoi.”
Dies Kapitel ist leicht zu lesen.
Der vorgeschaltete, undatierte, Prolog ist komplizierter, weil darin unterschiedliche Zeitebenen zusammenmontiert sind. Es bedarf zudem – weitere Schwierigkeit – einer gewissen geistigen Anstrengung, um Bilder zu den Sätzen zu entwickeln; vor allem die ersten beiden fand ich schwierig, in denen der Wellengang an einem Strandbad südlich von New York beschrieben wird.
An das Johnsonsch kann man sich gewöhnen. Bekannt ist das Beispiel der Ansichtskarte, die bei ihm stets eine Ansichtenkarte ist. Und wo unsereins Straße sagen würde, sagt Johnson Damm. Okay. Es gibt Schlimmeres.
Ich werde weiter darüber nachdenken, ob Johnson eher ein Erzähler, oder Fotograf und Miniaturenmaler ist.

Zum Kehraus ein sensationelles Taylor Swift-Cover von Charli XCX mit Band. Sie fügt dem Original eine wichtige Eigenschaft hinzu: Lebendigkeit.

Wunsch nach Bilokation

Zwei Freundinnen haben mir unabhängig voneinander davon abgeraten, noch einmal die Jahrestage zu lesen. Die eine meinte, ich solle mich doch einmal auf Schriftstellerinnen besinnen. Die andere fand wenigstens den Zeitpunkt für eine Wiederlektüre nicht gut: das Lesen abzuschließen und dann sofort wieder aufzunehmen, sei sektiererisch. Ich musste darüber lachen, aber stimmen tut es vielleicht. Jetzt habe ich vor, wenigstens den ersten Teil bis zum Ende zu lesen, und dann mal weitersehen.
Der Einwand meiner feministischen Freundin (nicht Freundin-Freundin): als wäre ich gegenüber der Brillanz von Künstlerinnen blind. Aber das Buch, das sie mir neulich empfohlen hat, Speculum von Luce Irigaray, ist lange vergriffen (Suhrkamp braucht das Geld für Krimis). Und Hélène Cixous soll ich auch lesen, Die unendliche Zirkulation des Begehrens, das ist ebenfalls vergriffen.
Ich bin nicht sicher, ob mein Geist diese akademischen Sachen aufnehmen kann.

Hier ein Blick voraus auf meine November-Platte (CD), Angelika Niesciers New York Trio featuring Jonathan Finlayson. Looking forward to it! – Leider verpasse ich ihren (und Julia Kadels) Auftritt in der Akademie der Künste dies Wochenende, aber es werden sich andere Gelegenheiten bieten. Allerdings muss ich erst mal zum Konzertgeher werden. – Nächste Woche kann ich üben, dann spielt Greg Cohen im DaBangg in Friedenau.

Als ich neulich auf dem Nachhauseweg im S-Bahnhof Schöneberg eine Brezel kaufte – ich lasse sie mir immer auf die Hand geben – tat die Verkäuferin eine zweite Brezel in eine Papiertüte, schob sie mir hin und sagte: „Ich schenke dir das auch!”

Jahrestage Nachbetrachtung (3)

Ich hatte Verfremdungstechniken erwähnt. Johnson nimmt englische idiomatische Ausdrücke und übersetzt sie wortwörtlich ins Deutsche. Auch der englische Satzbau wird bei Bedarf übernommen. Weiter ist Gesine eine sehr ergebene Leserin der New York Times; Nachrichten werden in den Roman eingebaut und nicht selten im Wortlaut (aber auf Deutsch) zitiert. Diese obsessive Zeitungslektüre ist ein strukturierendes Element der Jahrestage; überhaupt spielen Medien eine große Rolle. Wenn Gesine Marie von Mecklenburg erzählt, dann nicht einfach so von Angesicht zu Angesicht – nein, in der Cresspahl’schen Wohnung steht ein Tonbandgerät, das die Erzählungen aufzeichnet. Gelegentlich werden Telefongespräche protokolliert, Photographien beschrieben. Telegramme, Ansichtspostkarten (in Johnson’scher Diktion: Ansichtenpostkarten), Briefe werden versandt, zu seltenen Gelegenheiten wird fernsehen gestattet, eine Platte aufgelegt (The Beatles, Revolver), Radiosendungen kommen ins Haus, werden auf Wunsch aufgenommen. Die Büromaschinen und Kommunikationsformen (z.B. Memos) innerhalb der Bank kommen hinzu, was auf das Gebiet der Textsorten führt: Die Jahrestage bieten alles, von Trinkspruch und Predigt bis zu Spitzelreport, Schulaufsatz, Gutachten, Werbeslogan, Wandkritzelei, Liste und Testament. Neben viel Mecklenburger Platt wird Russisch, Tschechisch, Dänisch, Englisch gesprochen, unter anderem. Manches kann man sich zusammenreimen, ansonsten ist der online gestellte Jahrestage-Kommentar eine Hilfestellung in allen Belangen.

Es ist sinnlos, diese Lese-Anmerkungen fortzuführen. Alles ist schon gesagt worden, ich verweise stellvertretend auf Damion Searls, der Jahrestage unter dem Titel Anniversaries ins Englische übersetzt, und in The Paris Review über das Buch und seine Arbeit berichtet hat, s. hier. Nehme ich mir also zu Herzen, was ich heute in der U-Bahn las (Berliner Fenster): „Gepriesen sei derjenige, der nichts zu sagen hat und davon absieht, es zu beweisen.”

Jahrestage Nachbetrachtung (2)

Ich weiß nicht, ob es sich heute immer noch so verhält, aber als die ersten Lieferungen der Jahrestage Anfang der 70er Jahre erschienen, urteilten einige Kritiker (Helmut Heißenbüttel zum Beispiel), der neue Roman bedeute gegenüber Mutmassungen über Jakob (1959) und Das dritte Buch über Achim (1961) einen künstlerischen Rückschritt (dazwischen gab es aber noch Zwei Ansichten, nicht zu vergessen, 1965). Das ist verständlich, denn mutwillige Modernismen – die ich in den Mutmassungen und im Achim-Buch mochte – fallen zunächst einmal nicht auf. Das macht die Jahrestage aber darum nicht zu einem konventionellen Roman, den man so schmökermäßig runterlesen kann, wie Johnsons jovialer Lektor Raimund Fellinger im Gespräch mit dem soignierten Johnson-Forscher Holger Helbig zu verstehen gab.
Die Jahrestage sind mit Verfremdungen und Irritationen gespickt, das beginnt schon mit ihrer äußerst artifiziellen, schematischen, geradezu zwanghaften Anlage. Ein Jahr aufzuschreiben, das war der Plan. Auf das undatierte Anfangskapitel, das vielleicht die Tage des 19. und 20.8.1967 festhält, beginnen die Jahrestage regulär mit „21. August, 1967 Montag”. Dies Prinzip hält Johnson konsequent für den ganzen Roman bei: ein Kapitel, ein Tag.
Der erste Teil endet mit dem Tageskapitel für den „19. Dezember, 1967 Dienstag”, worauf mit unschlagbarer Trockenheit die Ankündigung folgt: „Der nächste Teil dieses Buches beginnt mit dem Kapitel für den 20. Dezember 1967.” Da haben wir aber schon knapp 480 Seiten gelesen. Man erahnt, welch brutales Schreibprogramm sich Johnson aufgebürdet hat.
Es gibt zwei große Erzählstränge: zum einen das Leben der aus Mecklenburg stammenden 35-jährigen Bankangestellten (Fremdsprachensekretärin) Gesine Cresspahl und ihrer ungefähr 10-jährigen Tochter Marie in New York 1967/68 („Aus dem Leben von Gesine Cresspahl” ist der Untertitel des Romans); zum anderen das Leben in Mecklenburg von den 20er Jahren an. Das erzählt Gesine ihrer Tochter, die will es wissen.
Beides wechselt einander ab, auf ein New York-Kapitel folgt ein Mecklenburg-Kapitel (da gibt es auch eine – fiktive – Stadt, Jerichow). Dies aber ist nur das grundsätzliche Bauprinzip; bereits auf den allerersten Seiten wird es gebrochen, indem die Beschreibung eines idyllischen Ferientages am (amerikanischen) Strand mit Erinnerungen an die Vorkriegszeit und blitzartigen Bildschnipseln aus dem Krieg überblendet wird (wie im Film). Manche Kapitel schneiden beide Welten hart gegeneinander, zum Beispiel das für den 3. September 1967, das von der Brautwerbung Heinrich Cresspahls erzählt, und gleichzeitig von Ilse Koch, der „Bestie von Buchenwald”. Andere Kapitel fangen mit 1968 an und gehen mit 1951 weiter und umgekehrt.

Foto: Bernward Reul

Heute nachmittag gibt es hier wieder ein Kaffeetrinken, das erste seit Anfang Juni. Schon zu Kölner Studienzeiten habe ich regelmäßig zu Kaffee und Kuchen eingeladen. Für dieses Mal haben sechs Gäste abgesagt, weil sie nicht da sind oder schon anderes vorhaben, drei haben sich nicht gemeldet, fünf wissen noch nicht, ob sie kommen können, drei haben verbindlich zugesagt und freuen sich, darunter eine Arbeitskollegin, die zum ersten Mal in ein deutsches Haus eingeladen wurde (klingt komisch). Jetzt kann ich mir überlegen, ob ich für vier oder für vierzehn Leute Schrippen kaufe. Hm.

Jahrestage Nachbetrachtung (1)

Es ist schon auch Arbeit, das Buch zu lesen, das Johnson in vier Lieferungen veröffentlichte, unterbrochen von einem fast zehnjährigen writer’s block (in welcher Zeit er weiter geschrieben und veröffentlicht hat, aber der Roman ruhte), und doch ist der erste Impuls, wenn man nach Seite 1891 – dem berühmten Schluss: „Beim Gehen an der See gerieten wir ins Wasser. Rasselnde Kiesel um die Knöchel. Wir hielten einander an den Händen: ein Kind; ein Mann unterwegs an den Ort wo die Toten sind; und sie, das Kind das ich war[.]” – das Buch zugeklappt hat, es auf Seite 7 wieder aufzuschlagen: „Lange Wellen treiben schräg gegen den Strand, wölben Buckel mit Muskelsträngen, heben zitternde Kämme, die im grünsten Stand kippen[.]” – und es noch einmal ganz zu lesen.
Johnsons Treue zu seinen Personen ist bekannt. In den Jahrestagen kommen sie alle zusammen: Heinrich Cresspahl, Jahrgang 1888, Vater von Gesine (geb. 1933), Großvater von Marie (geb. 1957), der Eisenbahner Jakob Abs – Maries Vater -, Ingrid Babendererde, der Journalist Karsch, Jakobs Kollege Jöche, und andere mehr. Aber auch im Jahrestage-Kosmos selbst wird keiner vergessen. Zu nennen wären Mrs. Ferwalter, Gesines Nachbarin am Riverside Drive, der die Erzählstimme ziemlich am Anfang ein eindringliches Porträt widmet, der Hausmeister Mr. Robinson („Adlerauge”), der Freund der Familie D.E. alias Dietrich Erichson, eine junge Frau namens Marjorie: New Yorker Zufallsbekanntschaft, der Anwalt Avenarius Kollmorgen, Gesines Jugendfreundin Anita (die zur Erzählzeit des Romans, 1967/68, in Berlin als Fluchthelferin arbeitet), die Gräfin Seydlitz, der anonyme Zeitungsverkäufer auf dem Broadway, Barbesitzer, der Bankier de Rosny, Maries Klassenkameradin Francine (aus schwierigen Verhältnissen kommend), Gesines alter Englischlehrer Dr. Julius Kliefoth … Dutzende Personen, alle bedacht, alle behütet von einem Erzähler, der alles weiß, über alles erhoben ist, ohne überheblich zu sein. Ein genauer Chronist und Archivar. Ein Menschenfreund.

Eric Dolphy als Klarinettist: hat man auch nicht so oft. Aber hier, 1961

Wiederbelebung am toten Blog

Der brillante Dr. B, den ich einmal in der Woche sehe – und wenn nicht, mache ich mir Sorgen, denn er lebt nicht gesund und ist auch nun in einem Alter, in dem man sterben kann (gut, wer ist das nicht? Aber ich meine: sterben – und man würde sagen: zu früh, sicher, aber -), der zitierte neulich einen mir nicht bekannten großen Mann mit den Worten, hier nur sinngemäß: Es gibt Autoren, bei denen weiß man, man wird alles von ihnen lesen; und Autoren, und so weiter.
Er hätte das auch so sagen können, ohne Zitat, und ich hätte ihm Recht gegeben.
Obwohl – werde ich alles von Uwe Johnson lesen? Mal sehen. Jedenfalls kam vor einigen Tagen der zweite Band der Jahrestage zu mir zurück, den ich letztes Jahr dabei gehabt hatte, als ich einen Monat lang in einer schummerig kühlen Halbkellerwohnung vor der römischen Hitze floh; aber da hatte ich nur den ersten Band geschafft, und der zweite war liegengeblieben, das Gepäck war schwer genug. Jetzt ist er also wieder da, und wie das so ist, wenn was Johnsonsches auf dem Tisch liegt: man fängt an zu lesen, das ist unumgänglich.
Dass sich dieser Tage die erzählte New Yorker Zeit des Romans zum fünfzigsten Mal jährt – nach einem Prolog geht’s mit dem 21.8.1967 los – daran hatte ich gar nicht gedacht.

Die Jahrestage mit ihren ungefähr 1900 Seiten sind eine Zumutung auch in dem freundlichen Sinne, dass sie dem Leser Mut unterstellen, wo er vielleicht nur kalte Füße hat. Sie sind leserfreundlich eingerichtet, geradezu entgegenkommend. Man könnte das Buch über ein Jahr gestreckt hin lesen und käme mit fünf bis sechs Seiten am Tag aus. Oder man liest Romantag für Romantag. Da müsste man, legte man es auf Parallelität an, zu Anfang allerdings ein bisschen fudeln und die ersten sieben Jahrestage-Tage auf einen Lesetag zusammenlegen. Wenn man heute anfängt. Wer länger trödelt, muss nachsitzen.

Ich meine, der Verlag hätte dem Buch Gutes getan, wenn er sich zu einem großzügigeren Schriftbild durchgerungen hätte, so wie es sich Johnson, glaube ich mich zu erinnern, gewünscht hatte. Aber die Suhrkampschen haben gegeizt, und so gibt’s nun eben diese Bleiwüste, die gleich nach Arbeit aussieht. Man sollte sich davon nicht abschrecken lassen. Überhaupt denke ich: Johnson hat knapp zwanzig Jahre an dem Buch gearbeitet, da kann ich schön gemächlich vorgehen.