„wie geschnitten Pink“. Neue Sprachkunst von Charlotte Warsen

Vorbemerkung: Von wegen das Internet vergisst nicht – meine am 19.2.2020 bei Fixpoetry erschienene Kritik zum Band Plage ist – zusammen mit Fixpoetry – aus dem www verschwunden. Hier zum Nachlesen.

Charlotte Warsen gibt selbst einen Hinweis darauf, wie Plage zu lesen ist: „Ein Mobile – das ist ein kleines, örtlich begrenztes Fest, ein nur durch seine Bewegung bestimmter Gegenstand […]“. So zitiert sie aus Jean-Paul Sartres Schriften zur bildenden Kunst.

Nicht nur das Zitat selbst ist ein Wink, auch der Titel, dem es entnommen ist: Die Suche nach dem Absoluten. In der Tat führt Charlotte Warsen ihr kühnes, 2014 mit dem Gedichtband Vom Speerwurf zu Pferde [wer diesem Link folgt: das Eingangszitat ist nicht – wie angegeben – von Ch. W. sondern von Linus Westheuser] begonnenes Programm fort, nämlich mit konkretem Stoff: Wörtern, Satzzeichen (sehr wenige nur) und deren Bildhintergrund, abstrakte Sprachkunst zu machen. Es ist aber eine durchaus bodenständige Abstraktion, die des sinnlichen Reizes nicht entbehrt, wenn zum Beispiel zu lesen ist: „von innen her bläulich leise wummernd“.

Dennoch, mögen die Wörter für sich genommen („Singsang“, „Bammel“, „Butterlöffel“), oder in syntagmatischer Fügung („alle fandens schad“, „die / Polizei auf Twitter“), bedeutsam sein – in eine Aussage laufen sie nicht zusammen. Sie bleiben suspendiert, werden nicht festgemacht an einem interpretierbaren Motiv. – Von der Last der Deutung befreit, hat der Leser eine leichte Lektüre vor sich. Einen Bleistift bereitzuhalten, kann trotzdem nicht schaden, sowenig wie mehrmaliges Lesen: Dann wird sichtbar, wie genau Charlotte Warsen das Buch gearbeitet hat, das aufgrund des pludrig wolkenhaften Layouts der meisten Gedichte doch auch etwas Verwischtes, in Verwandlung Befindliches, Ungreifbares abbildet – man kann es, wie Nico Bleutge in seiner Besprechung in der SZ, „jazzig“ nennen.

Plage ist klar aufgebaut: zwei Hauptteile – „Seufzergruppen“ und „Jauchzergruppen“ überschrieben –, dazu ein Prolog, ein ‚Scharnier‘-Gedicht und ein Epilog, neunundfünfzig Gedichte insgesamt, deren Titel den jeweiligen Gedichtanfängen folgen.

Man würde bei Charlotte Warsen, die Malerei studiert und im vergangenen Jahr einen Band Kulturtechnik Malen. Die Welt aus Farbe erschaffen, mitherausgegeben hat, vermuten, dass es sich bei dem genannten Begriffspaar um kunstgeschichtliche Fachtermini handelt. Man könnte sich Altarbilder vorstellen, wo die Sünder in der Hölle verschwinden, oben auf dem Rasen von Seufzergruppen beklagt, die Heiligmäßigen aber gen Himmel auffahren, Jauchzergruppen ihnen nachsehend. Doch Kompendien und Lexika geben nichts her. Eine Nachfrage bei der Dichterin ergab: „[…] soweit ich weiß, handelt es sich bei Seufzer-und Jauchzergruppen um zwei Spezialbegriffe, die ich selbst erfunden habe. Plage begann als eine Art Klagegesang, dessen Strophen keine Strophen sondern gruppierte Seufzer waren. Dann sollte eine fröhliche B-Seite mit den entsprechenden Jauchzergruppen entstehen.“

Wir haben es also mit einer Art Diptychon zu tun, nur dass dessen ursprünglicher Charakter als Devotionsobjekt wegfällt, will man nicht den Gegenstand der Verehrung in der titelgebenden Plage selbst sehen. Der Titel muss aber auch nicht überbetont werden: „Ich glaube, […], dass Titel nur so tun, als würden sie sich auf etwas, auf ein Werk, beziehen. In Wahrheit sind Titel natürlich sprachliche Gegenstände und verweisen auf überhaupt nichts.“ (Ulf Stolterfoht) – Eine Schallplatte also, gut. Allerdings scheinen A- und B-Seite stimmungsmäßig nicht auffällig verschieden, A und A‘ würde vielleicht eher passen. So wird die Formulierung „mich hat dieses Erlebnis // beunruhigt zurückgelassen“, die relativ zu Anfang in den „Seufzergruppen“ erscheint, im letzten Gedicht der „Jauchzergruppen“ kaum verändert wiederaufgenommen: „so hat mich das Erlebnis / ganz im Ungewissen liegen lassen“ – (fast) gleich, und doch anders, denn die – entfernt voneinander positionierten – Gedichte als solche sind verschieden, außerdem haben die Worte die Fließschicht all der anderen Worte durchquert, die zwischen diesen Seiten 20 und 94 liegen, und sind durch die Lasuren dieser Textstrecke getrübt, oder anders getönt.

Plage ist in einer undefiniert wabernden ‚Kugelzeit‘ (im Sinne Bernd Alois Zimmermanns) angesiedelt, in der jedes Sprachzeichen im gleichen Abstand zum gedachten Mittelpunkt steht, der aber eben nicht gedacht werden kann, so wenig wie „Gott“ gedacht werden kann (auch wenn Charlotte Warsen ihm am Schluss des Buchs einen wundervollen Auftritt verschafft). Mit dieser Feststellung selbst aber implodiert die ganze schöne Referenz-Sphäre, und es bleibt ein absolutes, weltabgelöstes, planes Sprachkunstwerk übrig, ein „nur durch seine Bewegung bestimmter Gegenstand“. – Charlotte Warsen gibt nun gar keine Gelegenheit, den Weltverlust zu beklagen – und war die Welt nicht überhaupt schon immer verloren, wenn es zur Sprache ging? –, weil auf der anderen Seite eine Sprachexplosion steht, die diese unwiderrufliche Auflösung der Weltanbindung vergessen macht. Mit unerschöpflicher Imagination erschafft Charlotte Warsen einen frischen eigenen expandierenden Kosmos, der auf dem Papier – und nur das interessiert uns – ebensoviel taugt wie der alte, und vermutlich auch verlässlicher ist.

Es gibt ein Gemäldegedicht zu Tizians Porträt des Don Fernando Álvarez de Toledo, Spuren von Jahreszeitengedichten (in den „erster Reigen“ und „zweiter Reigen“ genannten Zyklen), sogar die Form des mittelalterlichen Tagelieds wird zitiert, allerdings aufgerauht und ins Ironische gewendet. Geht es im Tagelied klassischerweise um den frühmorgendlichen Abschied zweier Liebender nach gemeinsam verbrachter Nacht, liest man bei Charlotte Warsen: „seit Anbruch des Tages schon / konzentrierte Arbeit an einer / Theorie des Zerwürfnisses als Prinzip der Freundschaft“. Und das – das Gedicht steht in den „Jauchzergruppen“ – ist schon lustig. Ein bisschen grimmig vielleicht, wie auch die mindestens sechsmal wörtlich oder abgewandelt wiederkehrende Wendung „was sonst noch / zum Tod führt“ nicht freundlich klingt – im genannten Tagelied ebenfalls präsent.

Zitate bekannter und unbekannter Persönlichkeiten dienen als Samples, strukturieren die Textfelder, geben ihnen zwischen den einzelnen Kapiteln (zwölf an der Zahl) einen neuen Dreh. Ein Textschnipsel aus einem naturkundlichen Traktat des 19. Jahrhunderts wird durchgereicht; auch der Begriff „Borwelt“ weist in diese Epoche, wenn man ihn sich in Fraktur geschrieben vorstellt, mit dem B als falsch gelesenes V. – Falsch gelesen von wem? Von Google Books vermutlich. Der Techgigant kommt selbst nicht ausdrücklich vor, dafür ein allbekanntes Signum der Smartphonewelt, das Selfie („restlos fotogen nur sich selbst zugeneigt“). Desgleichen haben ihren Auftritt: die „Mailbox“, das „Darknet“, „Twitter“ (s.o.) und die „NSA“ – Gegenwartspartikel, die indes keine größere Präsenz oder Wertigkeit auszeichnet als zum Beispiel „Ophelia“, das „Urpferd“, der sagenhafte „Hagen“ oder die „Witwe von Zarpat“.

Charlotte Warsen knüpft in Plage an ihre bewegliche, fluktuierende Schreibweise, wie sie schon die Gedichte in Vom Speerwurf zu Pferde gekennzeichnet hatten, an. Bei durchgehend  hohem Abstraktionsgrad, hat der Leser doch keinen Moment lang die Empfindung, außen vor zu bleiben. Die Sprache schimmert in fremder, anziehender Farbigkeit, „dillgrün-indigo-spektral“, auf jeder Seite begegnen Wörter oder Wortgruppen, die – im besten Sinne – merkwürdig sind („als ob Apostellöffel zögernd fragend auf flambierte Zuckerhauben schlagen“) und durch ihre Bildstärke und Stringenz beeindrucken. Neben den ausgreifenden, ausscherenden Gedichten, die den Hauptteil des Bandes ausmachen, gibt es auch formal knapp gefasste, typographisch stärker gezäunte Formen, die eine andere Facette von Charlotte Warsens Schreiben zeigen. Zu diesen gehört das untenstehende Gedicht, das sich wie ein apokryphes Gedicht zur Menschheitsdämmerung liest, Kurt Pinthus‘ vor hundert Jahren erschienener Sammlung expressionistischer Dichtung. Dadaeske Trauer in der Art Jakob van Hoddis‘: auch die gibt es in Plage.

Ein in jeder Hinsicht phantastisches Buch. – Meinolf Reul

längs der Schläfen
wo sie wehrlos werden

geht die traberkranke Herde
ranken klamme Abkehrfransen

und der hohe kerzengerade Schlaf
schwenkt in der Takelage und liebt keinen

Ein- und Ausschleichen der Mahner
ohne Elan unter Schweinen

Charlotte Warsen, Plage. Gedichte. 104 Seiten, gebunden. kookbooks, Berlin 2019. 19,90 Euro (= Reihe Lyrik Bd. 68)

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Woran bemisst sich der Erfolg beim Bloggen? Wahrscheinlich an den Klicks. – Ich glaube, dass seit Februar 2013 kein Tag vergangen ist, an dem die Seite nicht wenigstens ein-zweimal angeklickt worden wäre. – Der meistbesuchte Beitrag war [geschwärzt]. Diesen Erfolg möchte ich nicht wiederholen, denn die Aufrufe verdankten sich einem Troll, der dann gottlob nicht weiter in Erscheinung getreten ist. Er hat mich sehr geärgert.
Wer genau hier vorbeikommt, weiß ich nur in wenigen Fällen. Von meinen Geschwistern sind es zwei, die verfolgen, was ich mache. Acht Ignoranten, im Umkehrschluss, ich werde das im Testament berücksichtigen.
Ich habe immer mal wieder mit dem Bloggen gehadert, es gab eine einjährige Pause und mehrfache Unterbrechungen. Inzwischen bin ich ganz zufrieden. Ich nehme das Tempo langsam. Ich weiß, dass wenig zurückkommt.
Ich werde das Ding hier fortsetzen, so lange ich Lust dazu habe.
Danke für’s Folgen (für’s wirkliche, tätige Folgen)!

Übrigens ist gestern unter dem Titel „wie geschnitten Pink”. Neue Sprachkunst von Charlotte Warsen meine Kritik zu ihrem Gedichtband Plage veröffentlicht worden, nachzulesen

hier.

Weil es doch zuletzt viel Text gab – und zur Feier des Jubiläums – ein flottes Stück von Cate Le Bon, die ich in diesem Blog ja schon mehrmals habe hochleben lassen. Da Duke auch ein super Song ist, poste ich den auch, und – aller guten Dinge sind drei – Heat Rises von Nilüfer Yanya. Nilüfer Yanyas Musik hat Pop Appeal, geht aber nicht ganz darin auf.

Bleibt abschließend zu erwähnen, dass ich meine Aufnahmeanträge für den VdÜ (Verband deutschsprachiger Übersetzer/innen literarischer und wissenschaftlicher Werke e.V.) und die Bundessparte Übersetzer im Verband deutscher Schriftsteller (VS) in ver.di abgeschickt habe und mich auf Abbuchungen einstelle. Das ist okay.
Außerdem habe ich die Absicht, mich bei der VG Wort (Verwertungsgesellschaft Wort) anzumelden, auf dass die brotlose Kunst des Kritikenschreibens zum Jahresende doch noch etwas einbringe. Auch wenn ich mir dann nur einen Bratapfel kaufen kann, ist ja egal. Nicht egal ist aber, in einer Gesellschaft, in der alles auf Geld hin orientiert ist, darauf zu pochen, dass eine geldwerte Leistung entlohnt wird, und zwar mit Geld. Das ist mehr so eine grundsätzliche Haltung. Denn meine Miete verdiene ich ja als Buchhändler und Dateneingabefuzzi.

An der Fassade des Ringcenters Frankfurter Allee waren das G und das C ausgefallen, so dass zwei Versionen von „Hereinspaziert!” übrigblieben, nämlich RIN und ENTER. Nur falls sich einer wundert.

In der Zwischenzeit

Während eine Kritik zum zweiten Gedichtband von Charlotte Warsen – Plage – in Arbeit ist, hier meine Besprechung ihres Erstlings.

Vom Speerwurf zu Pferde

„es ging los mit dem abstrakten da war ich acht“
Linus Westheuser, zitiert von Charlotte Warsen

Wer sagt denn, dass der Sinn eines Gedichtes in den Worten liegt? Vielleicht liegt er in der Form? Vom Speerwurf zu Pferde ist das Debüt von Charlotte Warsen. Bei seiner Veröffentlichung 2014 fand es wenig Aufmerksamkeit – Jan Kuhlbrodts Kritik im Signaturen Magazin und Fabian Thomas‘ Kritik bei Fixpoetry waren Ausnahmen (beide online). Darum mag es vertretbar sein, obgleich mit Verspätung, nun noch eine dritte Besprechung nachzuliefern, zumal ein zweiter Gedichtband angekündigt wird.

Ein Zyklus, „flu flu fieder“, so fluffig und fluid wie sein Name, steht am Anfang: zwölf zeichenartige Gedichte von zwischen fünfzehn und fünfunddreißig Wörtern Umfang, auf je drei Verse verteilt, kurz – lang – kurz. Einrückungen, Kursivierungen, Leerstellen und ein weitgehender Verzicht auf Satzzeichen – übrigens wiederkehrende Charakteristika der Gedichte in Vom Speerwurf – ergeben eine hohe formale Variabilität, Beweglichkeit und Vieldeutigkeit. Teilweise kehrt sich die Leserichtung um oder sie wird suspendiert. Die Sprache rückt selbst als Gegenstand ins Bild. Sie wahrt größtmögliche Abstraktheit, lässt Raum für Assoziationen, z.B. wenn in der Fügung „meine mode ist ganz hautig“ nicht nur ein Mit-der-Mode-Gehen aufgerufen wird (heutig), sondern auch Material (Leder) und Zuschnitt (skinny fit), und natürlich die Haute Couture.

In den nächsten Kapiteln weitet und verdichtet sich die Textur. „Für die Gedichte in ͵die tellerʹ habe ich die Sprüche meiner Oma gesampelt“, sagte Charlotte Warsen bei einer Lesung. Doch bis auf eine regional gefärbte Wendung – „macht schwach auf die beine“ – ist davon kaum eine Spur zu finden. Bilder und Begriffe, die an einen Krankenhausaufenthalt denken lassen, kontrastieren mit sparsam gesetzten Reminiszenzen an die Natur. Aber das ist eine verkürzte und verfälschende Lesart, denn Warsens Gedichte erzählen nichts. Ein „gefetteter lockruf“, „souffleusen“ und „mayaforscher“, die wie selbstverständlich auftauchen, sollten nicht als pittoreskes Detail missverstanden werden; sie stehen für einen Farbwert und (vielleicht) -auftrag, der in Relation zu den Wertigkeiten der anderen Wörter steht, diese bestimmt und von ihnen bestimmt wird.

Der, rein formal-technisch, malerische Bezugspunkt der Gedichte ist auch in der Zwischenüberschrift „farbe und funktion“ angezeigt. „Chardin noch musste – wie wir von Diderot wissen – verzweifelt auf einen Hasen warten, der seine Ansprüche auf die geforderte Farbigkeit erfüllte“ – das Epigraph des Kunsthistorikers Max Imdahl gibt den Ton an für die nun folgenden zehn Gedichte (Naturgedichte vielleicht), die ein ganzes phantastisches Farbspektrum auffächern, um z.B. einen Sonnenuntergang zu schildern, mit Farbbezeichnungen, wie sie so im Farbsystem Pantones (das Warsen zitiert) nicht vorkommen: „schleppbeige“, „devotes rot“, „zwiepink“, „mitterschwarz“, „blattschwarz“, „nassschwarz“. Eingefügt „ein leichtes / gelb am horizont […] rollt eins zwei ballen blau“, und starke, assoziationsreiche Ausdrücke: „frotteesonne“. Darin klingt eine bestimmte Stofflichkeit des Lichts an, aber auch die künstlerische Technik der Frottage, wie sie aus dem Werk ihres Erfinders Max Ernst bekannt ist.

Wie ein Intermezzo dagegen die von verspielter Rasanz, Begeisterung und Übermut geprägten Gedichte in „vom speerwurf zu pferde“, deren Leichtsinn und greller Jux im Titelgedicht und im Gedicht „himmel“ in einen zurückgenommenen, versonnenen Duktus überführt und abgeblendet werden.

Die Texttafeln in „die karelischen grenzen“ – ein weiterer Höhepunkt des Bandes – feiern die Welt als Lautverkettung und Klangdickicht, berühren aber zugleich die Sphäre der bildenden Kunst, sind somit, wie es der Klappentext formuliert, „synästhetische Gedichte“ auf „die Freundschaft von Wort und Farbe“, wobei Wort eben auch als Wort-Laut zu verstehen ist. Mit ihrem jeweils seitenfüllenden Blocksatz können sie als quasi-monochrome Gemäldegedichte oder als Gedichtgemälde auf den Spuren Ad Reinhardts gelten; bei genauerem Hinsehen erkennt man eine starke Binnenbewegung und Riffelung. „die stadt“, „der wald“, „schwappen“ sind durch Wiederholung und Variation besonders herausgehoben.

Das (augenscheinlich) Monolithische wird dann wieder zurückgenommen zugunsten knapperer und/oder mehr aussparender Formen, die als erweiterte Reprise der „flu flu fieder“-und der „farbe und funktion“-Gedichte gesehen werden können. Sie leiten zum letzten, lapidaren, Kapitel über, „türme“.

i am radio

1
hetz
1über
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metallischer
balladen

i am
radio

„i am radio“ kann als Notation eines Sendersuchlaufs gelesen werden. Das Ausnutzen der typographischen Ähnlichkeit von 1, t, l und i, ergänzt durch den Stamm der Buchstaben h, b und d, erzeugt gleichzeitig formale Geschlossenheit und Mobilität. Die Schriftzeichen ‚kippeln‘, passend zum Zappen durch das Programm: „1/hetz[en]“. Auffällig der zweimalig auftretende Doppelkonsonant „ll“ am Ende der ersten Strophe, der, zusammen mit der Dynamik einer tendenziell zunehmenden Zeichenzahl je Vers (1, 4, 5, 7, 2, 4, 5, 8, 5, 12, 8), einen Schwerpunkt zu bezeichnen scheint.
Die „metallische[n] / balladen“ verweisen auf das Radioprogramm, je nach Lesart auf ein schepperndes Klangbild oder auf das Genre der Metalballade (bekanntes Beispiel: Metallicas „Nothing else matters“).
Der Text durchkreuzt die Aufgabe des Empfängers (Lesers), die darin bestünde, den gewünschten Sender von den nicht gewünschten Sendern zu trennen. Er interessiert sich für die Übergänge zwischen den einzelnen Frequenzen, für die Störgeräusche („ätsch“). Das durch Leerzeilen – Stille – isolierte „i am / radio“ ist sozusagen die Moral zu der kurzatmigen Reihung abgerissener Sprachfetzen. Es ist auch eine Selbstbehauptung, die Signatur eines Ichs, das für sich in Anspruch nimmt, noch das scheinbar Ungefügte schöpferisch zu durchdringen, in jeden Vers auszustrahlen (lat. radius „Strahl“).
Ebenso ist „i am“ als Zeitangabe lesbar: 1 Uhr nachts.*


* Ich verdanke diesen Hinweis Norbert Lange, der außerdem zu bedenken gibt, ob das „türme“-Kapitel nicht als Textband aufgefasst werden könnte statt als Aufeinanderfolge einzelner Texte.


„wir haben jetzt ein gehöft“ ließe sich wie eine Komposition analysieren. Tatsächlich gibt es die Vortragsangabe: „[singend:]“. „das geht nicht mehr raus“ lautet das in Wiederholungen und Abwandlungen wiederkehrende Hauptmotiv. Dann kommt ein „über-“ hinzu. Wie das Wort weitergeht, erfährt der Leser nicht sofort, ein zweites und drittes Mal heißt es „über-“ bzw. „über-“, erst dann folgt, etwas darunter, „raschen“, das in „rascheln“ und „rasches“ aufgenommen und variiert wird. Am Anfang, in der Mitte und am Ende des Gedichts steht: „im haus“ – die wörtliche Übersetzung der aus der DJ Culture stammenden Floskel „in the house“ –: hineingescratchter Hinweis auf Warsens Samplingtechnik. Bei ihr klingt es aber nicht nach Party, sondern nach Aktenvermerk – ein Beispiel für ihren trockenen Humor.

Vom Speerwurf zu Pferde ist eine verschwenderische Sprachschöpfung aus dem Geist der Malerei und der Musik. Hochkomplex und schwierig, sind die Texte dennoch, über Duktus und rhythmische und klangliche Gestalt, zugänglich, überraschen immer wieder, inmitten rasanter Beschleunigungen und Überstürzungen, mit prägnanten Sprachbildern: „das meer hängt an häkchen über dem meer“ heißt es z.B. über die kabbelige See; ein Himmelsgedicht dekliniert subtil die Wolkenphasen, ist ganz zarte, behutsame Empfindung des Fließens und Vergehens, von Farbverläufen und Volumina. Trotz dieser Spuren der wirklichen Welt (Karl Mays Schut kommt auch vor) dürfte ein Verständnis der Gedichte auf der Deutungsebene ins Leere führen; vielversprechender scheint es, sich dem Sog der Abstraktion anzuvertrauen.

„es ging los mit dem abstrakten da war ich acht.“ Dies Buch ist ein erstes sichtbares literarisches Zeichen für den von Charlotte Warsen – auch als Malerin und Zeichnerin – beharrlich verfolgten Weg. Wir freuen uns auf das nächste.

[2018]

Charlotte Warsen, Vom Speerwurf zu Pferde

es ging los mit dem abstrakten da war ich acht
Linus Westheuser, zitiert von Charlotte Warsen

Wer sagt denn, dass der Sinn eines Gedichtes in den Worten liegt? Vielleicht liegt er in der Form?

Umschlagbild: Renata Akrapović

Vom Speerwurf zu Pferde ist das Debüt von Charlotte Warsen. Bei seiner Veröffentlichung 2014 fand es wenig Aufmerksamkeit – Jan Kuhlbrodts Kritik im Signaturen Magazin und Fabian Thomas‘ Kritik bei Fixpoetry waren Ausnahmen (beide online). Darum mag es vertretbar sein, obgleich mit Verspätung, nun noch eine dritte Besprechung nachzuliefern, zumal ein zweiter Gedichtband angekündigt wird.

Ein Zyklus, „flu flu fieder“, so fluffig und fluid wie sein Name, steht am Anfang: zwölf zeichenartige Gedichte von zwischen fünfzehn und fünfunddreißig Wörtern Umfang, auf je drei Verse verteilt, kurz – lang – kurz. Einrückungen, Kursivierungen, Leerstellen und ein weitgehender Verzicht auf Satzzeichen – übrigens wiederkehrende Charakteristika der Gedichte in Vom Speerwurf – ergeben eine hohe formale Variabilität, Beweglichkeit und Vieldeutigkeit. Teilweise kehrt sich die Leserichtung um oder sie wird suspendiert. Die Sprache rückt selbst als Gegenstand ins Bild. Sie wahrt größtmögliche Abstraktheit, lässt Raum für Assoziationen, z.B. wenn in der Fügung „meine mode ist ganz hautig“ nicht nur ein Mit-der-Mode-Gehen aufgerufen wird (heutig), sondern auch Material (Leder) und Zuschnitt (skinny fit), und natürlich die Haute Couture.

[…]

Nach langer Pause habe ich wieder eine Kritik geschrieben, die in Kürze bei satt.org/literatur erscheinen wird. Die Schreibzeit von gut einem Jahr ist meiner 40-Stunden-Woche geschuldet, sorry for that.

Link zur vollständigen Kritik: http://www.satt.org/literatur/18_02_warsen.html
Auch bei textem: http://www.textem.de/index.php?id=2876

  • Charlotte Warsen, Vom Speerwurf zu Pferde. Gedichte. 78 Seiten, Klappenbroschur. luxbooks, Wiesbaden 2014. 19,80 Euro