Sonja vom Brocke Ohne Tiere

Als letzte der drei Kritiken aus den Jahren 2012 und 2015 zu Ann Cotten, Sonja vom Brocke und Christoph Wenzel veröffentliche ich heute die Kritik zu S.v.B. (2015) – wie auch die anderen unverändert, bis auf eine Stelle kurz vor Schluss, an der ich das Wort „Bezeichnetes” durch „Bezeichnendes” ersetzt habe.
Die Texte sind nach wie vor auch bei lyrikkritik.de nachzulesen – man muss ein bisschen suchen -, die betreffenden Archive sind hier (2004-2012) und hier (2014-2017) verlinkt.

Sonja vom Brocke, Ohne Tiere

Mit ihrem Gedichtbuch Venice singt (2015) wurde Sonja vom Brocke einem breiteren Lyrik-Lesepublikum bekannt. Ihr Debüt war 2010 das bemerkenswerte (doch bei seiner Veröffentlichung weitgehend unbemerkt gebliebene) Bändchen Ohne Tiere, das Texte von abstrahierender Reduktion und kieselhartem Gestus enthält, wie sie einem in Venice singt wiederbegegnen („Kameen“) – hermetisch verschlossene Sprachobjekte mit realen Einschlüssen: Vögel; Mieterhöhungsschreiben; Fotos; Lichter; die Glör, die durch Hagen fließt.
Von Ohne Tiere soll hier die Rede sein.

Am Titel bleibt man schon hängen, denn in welchem Kontext könnte jemand sagen: „Ohne Tiere”? Die für sich genommen harmlosen Wörter haben in der Kombination etwas Verunsicherndes, vage Bedrohliches.
Es ließe sich ein apokalyptisches Szenario denken (eine Welt ohne Tiere), Ernährungszusammenhänge, Kindheitserinnerungen (ohne Tiere aufwachsen).
Möglicherweise schlägt Sonja vom Brocke mit der Fügung „Ohne Tiere” aber auch nur einen listigen Haken, denn würde man nicht eher erwarten: Ohne Titel, wie man es v. a. von moderner Kunst kennt? Das würde ganz gut passen, wie das 2011 von ihr gemeinsam mit Christina Kramer herausgegebene Künstlerbuch thoughts fall / ins Fell und das Kapitel „Gemäldegalerie“ in Venice singt, in dem sie die schöne und lebendige Tradition des Gemäldegedichts fortsetzt, beweisen.

Ohne Tiere ist eine Folge von 18 verschieden langen, miteinander zusammenhängenden Texten, die formal als Zwischending zwischen Gedicht, Kurzprosa und Notiz beschrieben werden können. Die (drei) kürzesten bestehen aus je einem Vers und zählen sechs bzw. sieben Wörter, der längste umfasst 21 Verse (170 Wörter).
Ein Thema ist schwer zu bestimmen. Bei wiederholter Lektüre stellt sich der Eindruck eines Epitaphs zu Lebzeiten ein. Körperlichkeit wird benannt, anatomisch („Ohrhöhlen“, „Hirn“, „Knochen“, „Mark“, „Rippen“) oder diagnostisch („sie kommt nicht hinterher mit den Fingern“, „das holprige Klopfen vom Herzen“), Shakespeare zitiert – das 146. Sonett, ein Gedicht über Vergänglichkeit und Tod („Poor soul, the centre of my sinful earth“) – auch ein Vers aus Rimbauds „Das trunkene Schiff“, das den Menschen als Gescheiterten, als Ausgesetzten, als Wrack zeichnet („geworfen vom Orkan in vogellosen Raum“). In einem der Texte, dem siebenten, der ein Dutzend amtlicher Belege aufzählt, vom „Gehaltsnachweis“ bis zur „Energieabschlagsrechnung“, heißt es dreimal: „der letzten 3 Monate“. Verweist dies stumpfe Insistieren auf eine bestimmte Frist, die doch etwas Akzidentielles ist, auf das existentielle Faktum einer nur noch kurzen Lebensspanne?
Es ist die Frage, wie sich der vergleichsweise geheimnislose Duktus dieses Gedichts in die im übrigen ganz und gar verschwiegene, alle Deutlichkeit meidende Erzählung von Siechtum, die Ohne Tiere vielleicht ist, einfügt. Hat es zu tun mit dem Spruch, den der Rezensent früher seinen Vater sagen hörte: „Formulare, Formulare, von der Wiege bis zur Bahre“?

„Alles vollgesogen von Tod[.]“, heißt es im unmittelbar nachfolgenden Gedicht. Darin und an anderer Stelle gibt es Hinweise auf Bettlägerigkeit und den damit verbundenen eingeschränkten Bewegungs- und Aktionsradius: „Gestern Lichter gefilmt, so lange es ging, aus dem Bett durch / das dreckige Fensterglas […].“ – „Verschiebungen stellen sich ein, auch wenn sie im Bett / liegen bleibt.“ – Doch letzten Endes bleibt Ohne Tiere schwer zu deuten, zumal nicht auf eindeutige Weise. Immerhin lässt sich sagen, dass es Texte am Krisenpunkt sind. „Eine Leere hat sich ergeben[.]“, „Entwürfe habe sie nicht, sagte sie[.]“, „Transparente Hüllen verschwinden wie eine Illusion“, „[D]as Wildern für heute vorbei“, „Hier ist Exit“: Es sind dies alles Formulierungen des Aufhörens, des Nichts oder des Nichtlänger – und wenn dann doch einmal ein Lächeln vorkommt, dann ist es eines, „von / dem man sich nichts mehr versprechen kann // nichts“.

Im folgenden sollen drei Texte näher betrachtet werden.
Das humorvolle und auch anrührende Dialogstück „PAR CŒUR“ beginnt mit einem szenischen Hinweis: „Hagen, durchgesessenes Sofa. 90 und 89, aus Ulmumgebung verzogen, beim Anschauen von alten Photographien“. Die Stadt Hagen ist also Ort des Geschehens: Zwei uralte Leute sitzen auf einem durchgesessenen Sofa und blättern in einem Photoalbum und erinnern sich an früher. Das Erinnern wird jeweils durch den Staunlaut „oO“ eingeleitet. Jeder der zwölf Verse beginnt so und vermittelt auf diese Weise, dass die alten Leute das Gesehene identifizieren und in gewisser Weise begrüßen, ihm neu begegnen, es in ihrer Erinnerung erneuern, ihm auch – wo Auslassungspunkte folgen – schweigend nachsinnen.

oO(Desch is der Hirschwirt g’we’en, Karl)
oO(den hen i au no‘ gut g’kennt)
oO(…)
oO(…)

Der Großbuchstabe wäre normalerweise an erster Stelle zu erwarten; indem er an zweiter Stelle steht, wird „oO“ als Notierung kenntlich – zumindest ist anzunehmen, dass das große O lauter artikuliert wird als das kleine, und beide O’s miteinander verschliffen werden.
Wer die beiden sind, die sich da gemeinsam erinnern, bleibt offen. Vielleicht sind es Eheleute (dann wäre Karl der Name des Ehemanns, und nicht der Name des Hirschwirts), vielleicht Geschwister oder Nachbarn – sicher ist nur, dass sie Erinnerungen an früher teilen.
Nur am Rande sei erwähnt, dass Doppel-O in der Schreibung o.O. auch für „ohne Ort“ steht und in bibliographischen Angaben verwendet wird. Es ist außerdem die Abkürzung für „ohne Obligo“: ohne Haftung, ohne Gewähr. Beides spielt aber für das Gedicht keine Rolle, auch nicht als versteckter Hinweis darauf, dass das Erinnern der beiden Alten unter Umständen Irrtümer einschließt.
„Par cœur“ heißt wörtlich „mit dem Herzen“. Im Deutschen wird es mit „auswendig“ wiedergegeben; treffender wäre „inwendig“.
„Connaître quelque chose par cœur“ (im Titel auf die beiden letzten Wörter reduziert) wäre so einerseits „etwas auswendig kennen“, andererseits „etwas im Herzen tragen“, „etwas verinnerlicht haben“ – da hätte es einer photographischen Erinnerungsstütze wohl gar nicht bedurft.
Die Ulmer Photographien treten zum Ende des Textes dann auch ganz in den Hintergrund, zugunsten der Hagener Gegenwart, in der das gemeinsam Erlebte und gemeinsam Bestandene aufgehoben ist und eine alte Liebe speist. In dieser vermischt sich das „PAR CŒUR“ mit dem lautlich naheliegenden, wenn auch nicht ausdrücklich erwähnten, Parcours, der – wörtlich übersetzt – „durchlaufenen Strecke“.

oO(i bin nimmer viel wert.)
oO(Hauptsach‘, du bischt noch da.)

oO(…)

Ist in diesem Dialektgedicht die Situation einigermaßen deutlich, so stellt sie sich im folgenden lapidaren, ‚einsilbigen‘ Text als unergründlich dar. Jeder erzählerische Ansatz ist getilgt:

[hier kann der Text nicht geheilt werden]

Eckige Klammern werden in der Regel für ergänzende, erläuternde Einfügungen gesetzt. Die Worte scheinen sich also auf einen anderen – realen oder fingierten – Text/Kontext zu beziehen. Möglicherweise ist der Bezug der letzte Vers des vorherigen Gedichts: „Und schon splittert’s.“
Oder sind pauschal die anderen Texte aus Ohne Tiere die Referenz? Oder heißt „hier“: in der Schrift?
Noch interessanter ist die Frage, was das Verb „heilen“ zu bedeuten hat.
Ist der Text der Kranke, oder ist er die Krankheit (die Wunde)?
Anders gefragt: Geht es darum, den Text ‚gesund‘ zu machen, oder ihn zum Verschwinden zu bringen, oder ihn von etwas Schädlichem zu befreien?
Vielleicht spielt bei „[hier […]]“ das hinein, was Jan Kuhlbrodt in seiner Besprechung von Venice singt als das Dilemma einer Dichtung festhält, die auf „die Vielfalt semantischer Möglichkeiten am Rande der Sprache“ abzielt:
„Sprache wird niemals zum reinen Geräusch, andernfalls hört sie auf, Sprache zu sein. Die Semantik hängt ihr an […].“
In dieser Lesart wäre das Schädliche der Wortinhalt, den die Wortform immer mit sich trägt – wie abgerockt auch immer.
Das (auch gemäß der Anordnung im Buch) folgende Gedicht scheint direkt hierauf zu antworten, denn es beginnt mit dem Terminus „Therapie“. – Die Heilbehandlung für den an seiner semantischen Last krankenden Text sieht vor, gar nicht mehr zu schreiben, und stattdessen zu zeichnen, ohne dass dies ausdrücklich benannt wäre; aber auch das nicht gesagte, geschriebene, Wort ist Teil der Aussage, wenn die tatsächlich geäußerten Worte – und der sie liest oder hört – dies wollen.

Therapie

erst Linien, dann Kreise, dann Häuser, dann Wolken
dass nichts

uneindeutiger        sein kann

Beuys‘ Diktum „Auch wenn ich meinen Namen schreibe, zeichne ich“ gilt ebenso in der Umkehrung: Das Zeichnen ist wieder ein Schreiben und Aussagen, weil auch das Gezeichnete etwas bezeichnet (Linien, Kreise, Häuser, Wolken) und ein Bezeichnendes im Schlepptau führt.

Abschließend ein Wort zur Buchgestalt. Die Anmutung des Bändchens ist harsch. Der weiße, glänzend-glatte Einband vermerkt nur den Namen der Autorin, Titel und Verlag / Verlagsort. Innen kommt der Copyrighthinweis hinzu, und der Vermerk: „Printed in Gemany“ – keine Genrebezeichnung, keine Textnumerierung, keine Seitenzahlen, keine biographische Notiz, kein Bild. – Es ist aber gerade diese auffällige und unüblich gewordene Abwesenheit von Paratext (ausgenommen Titelei und Impressum), die die Textpräparate voll zur Geltung kommen lässt und ihnen alle nötige Aufmerksamkeit sichert. –

Meinolf Reul

Sonja vom Brocke, Ohne Tiere. Gedichte. [Ohne Paginierung, 40 Seiten]. Broschur. 20,5 x 13 cm. Verlag Heckler und Koch, Berlin 2010. 7,00 Euro

Christoph Wenzel weg vom fenster

Mit freundlicher Genehmigung von Hendrik Jackson veröffentliche ich an dieser Stelle drei Kritiken aus den Jahren 2012 und 2015 zu Ann Cotten, Sonja vom Brocke und Christoph Wenzel. Diese sind nach wie vor auch bei lyrikkritik.de nachzulesen – man muss ein bisschen suchen -, die betreffenden Archive sind hier (2004-2012) und hier (2014-2017) verlinkt.
Nach A.C. gestern, geht es heute weiter mit C.W. (2012).

Lange belichtet, guter Abzug. weg vom fenster, Christoph Wenzels dritter Lyrikband

31 Gedichte versammelt weg vom fenster, Christoph Wenzels, nach zeit aus der karte (2005) und tagebrüche (2010), dritter Lyrikband. Der Titel kündigt es schon an: Wenzel wirft einen Blick auf Westfalen und Münsterland als ehemalige Bergbauregionen. Die Alten, die nach Abschluss ihrer Berufslaufbahn mit Staublunge am Fenster saßen, um ihre Atemnot zu lindern – und eines Tages gestorben, „weg vom Fenster“ waren: sie sind die proletarischen Penaten, die über die meisten dieser Texte wachen, in denen sich soziologische und poetische Genauigkeit verbinden.
Der Band beginnt mit einer Erinnerung an einen Sommer – Sex, Aufräumen der Festplatte, Fensterputzen; eine leichte Intro. Die letzten Verse sprechen von „den farbverläufen / dem aufgehobenen fraktionszwang eines sonnenuntergangs“ und leiten über zu den „deklinationen der sonne“ des nachfolgenden „fièvre marrakechien“. Marrakesch markiert den topographisch fernsten Ort, der in weg vom fenster beschworen wird. Das titelgebende Fieber äußert sich in Empfindungen von Kälte und Hitze; „schnee“ und „feuer“ treffen sich auf der Haut des Kranken, von draußen schallen Hahnenschrei, das Flötenspiel eines Schlangenbeschwörers und der Ruf des Muezzin herein bis an sein Lager: ein Fieberbild, wie geträumt.
Von Marrakesch geht es nach Amsterdam und an die Nordsee: „lenkdrachen drehen an der sichtbarkeit / des windes – ihr motorengeräusch und / der klang alter scharniere mit dem die vögel / […] rufen“. Schafe auf dem Deich, Seesalz, das in der Luft liegt und, „lungengängig“, vielleicht den Husten lindert, der in den Bronchien überwintert hat: So schön ist ein Tag am Meer, und man bekommt Lust, hinzufahren.

Zentral der zehnteilige Zyklus „das schwarzbuch die farbfotos“, für den Wenzel beim diesjährigen Lyrikpreis Meran ausgezeichnet wurde. Ein Album in Worten, in dem in dokumentarischer Präzision eine kleine Welt fortlebt, die über Jahrhunderte für die Region zwischen Ruhr, Lippe und Emscher prägend war.
Gute Gedichte sind – nicht prinzipiell, aber oft – auch Wortaufbewahrungsstellen, und so finden sich im „schwarzbuch“ spezialsprachliche Begriffe wie „kaue“, „sauberjunge“, „strecke“ (waagerechter Grubenbau, der von einem anderen Grubenbau ausgeht), „grubensocken“ (auch als Pütt-Socken bekannt), die, untermischt mit Regiolekt („lorenz“ für „Mond“, „jaust“ für „Bengel“, „klümmchen“ für „Bonbon“) und Soziolekt („vadda“, „pulle“), eine Quasi-O-Ton-Qualität und -Funktion haben. Die erwähnte soziologische Genauigkeit kommt auch und vor allem da zum Tragen, wo die Texte vom Alltagsleben und von den Hobbies der Bergarbeiter handeln, dem Brieftaubensport zum Beispiel (Wenzel hat dessen Sprache recherchiert und u. a. für das IX. Gedicht des Zyklus‘ („BERGAUF“) fruchtbar gemacht.) Kein Wunder eigentlich, dass die Männer, die ihr Arbeitsleben unter Tage verbringen („schwarze ringe / um die augen um die nase eine blässe glänzend“), in ihrer Freizeit „kröpper“ und „duwen“ in den Himmel werfen, dessen „dürre lichtausbeute“ 1961 Thema einer Wahlkampfrede Willy Brandts war: „Der Himmel über dem Ruhrgebiet muss wieder blau werden.“ (Hinweis und Zitat finden sich in einem Glossar am Ende des Büchleins.)
Typisch auch der „pitter“ (Schrott- bzw. Lumpensammler) (VIII), und natürlich der Bolzplatz (VI): eine „abstiegsgefahr“ bestand schließlich nicht nur in Bezug auf den Bergbau; da aber besonders: „manch guten kameraden deckt / schon längst der grüne rasen“, zitiert Wenzel einen einschlägigen Vers.

Zwei thematisch verwandte Gedichte, die mit vier weiteren aus dem vorherigen Band, tagebrüche, übernommen wurden, „GLÜCK AUF“ und „NEUE HEIMAT“, leiten über zu Texten, in denen sich Wenzel seiner westfälischen Heimat in Erinnerungsbildern nähert. Sie weiten den Blick in die Landschaft und in die neue Zeit, in der die Industriekultur der Kulturindustrie Platz machte; Wenzel bringt den Strukturwandel in der Fügung „das ausgestellte förderrad“ bündig zum Ausdruck. Dem Leser kommen hier vielleicht die Becher-Photographien von Industriedenkmälern in den Sinn, oder die, zeitlich früher liegenden, Reportageaufnahmen eines Alfred Renger-Patzsch oder Heinrich Hauser. Photo-, auch filmkünstlerische Bezugspunkte sind in der Bauart der Gedichte selbst auszumachen. Überblendungen und Doppelbelichtungen verdichten und entwickeln die Worte und Bilder zu komplexen Sprachgebilden, die sich aber immer im Rahmen einer Linearität bewegen, nicht die Fragmentierung, sondern gewissermaßen eine ‚Sämigkeit‘ suchen. Die Bilder/Worte werden beim Lesen eins nach dem andern ‚angeschlagen‘, hallen nach, überdecken sich in einem Bildcluster.
„EIN INSEKTENSTICH“ mit seinen semantischen und syntaktischen Überlappungen ist hierfür ein gutes Beispiel.

Selten erliegt Wenzel der Versuchung einer Pointe – so am Schluss von „IM NICHTS HAUSEN“, das von einem Vers Ernst Meisters ausgeht. Pointiert sind Wenzels Beobachtungen ohnehin. Worte wie „trinkhalle“, „kühlturm“, „spannungsmasten“, „silos“, „kühe“ lassen im Kopf des Lesers Stadträume und Landschaften erstehen – Landschaften, von denen es an einer Stelle heißt, sie seien „wie kopfschmerzen“.

Eins der schönsten Gedichte des Bandes ist „spielplatz, abends, am kamp“. Die Jungs „ziehen hektisch an den zichten“, aus dem Sand „wachsen kippen, scherben“, „kronkorken“ blitzen im Abendlicht auf. Der öde Ort bietet Raum für „lachen“, „wut“, „harte debatten“, „ärger“. Die Kleineren gehen auf die Geräte. Vom Schaukeln bleibt ein „schwankend herz“, vom Karussellfahren „ein drehwurm, der noch anhält bis nach haus / zum abendbrot mit mutters dick mit / spätem licht bestrichnen kniften“.

// Meinolf Reul

Christoph Wenzel, weg vom fenster. Gedichte. 32 Seiten, Klappenbroschur. vorsatz verlag, Dortmund 2012 (roterfadenlyrik / Edition Haus Nottbeck, Oelde). 5,00 Euro

Ann Cotten Das Pferd. Eine Elegie

Mit freundlicher Genehmigung von Hendrik Jackson veröffentliche ich an dieser Stelle heute und an den folgenden Tagen Kritiken aus den Jahren 2012 und 2015 zu Ann Cotten, Sonja vom Brocke und Christoph Wenzel. Diese sind nach wie vor auch bei lyrikkritik.de nachzulesen – man muss ein bisschen suchen -, die betreffenden Archive sind hier (2004-2012) und hier (2014-2017) verlinkt.
Den Anfang macht heute der Text zu A.C. (2012).

Ich sah, ich lag richtig, allen im Weg

Die rund 350 Verse der Elegie Das Pferd haben mit einem Pferd so viel zu tun wie das Theaterstück Die kahle Sängerin von Eugène Ionesco mit einer kahlen Sängerin: „Übrigens, was macht die kahle Sängerin?“ – „Sie trägt immer noch dieselbe Frisur[.]“ – über diese Replik hinaus wird die Titelfigur weder erwähnt noch tritt sie gar selbst in Erscheinung.
Ähnlich hier: Zweimal kommt „Pferd“ vor, dreimal, wenn man das Cover mitzählt. Dennoch offenbart der Titel seinen Sinn, wenn es im vierten Vers heißt (mit dem das Tier dann vielsagend aus dem Buch verschwindet): „[A]lso bauen wir auf Pferde, die uns alles erklären sollen.“ Gerade dies jedoch kann und will die Dichterin nicht leisten – „erklärt wird nicht“ –, nicht von ungefähr reimt sie „kapiert“ auf „kupiert“.
Sie gibt aber den Hinweis auf den Science Fiction-Autor William Gibson, Verfasser der Neuromancer-Trilogie, bei dem ein ‚Pferd’ vorkomme, das „so etwas wie ein Datenhighway ist, ein Trip, eine virtuelle Identität, ein Wind im Cyberspace.“
Cottens Idee von einem Gedicht ist die eines Inkommensurablen, es soll ein unauflösbarer Rest bleiben, für jeden Leser ein anderer. Passend dazu ziert dann auch kein Pferd, sondern ein Rabenvogel, eine Dohle vermutlich, den Umschlag des Hefts (Zeichnung: Ann Cotten).

Warum überhaupt eine Elegie? „[W]as wollen wir von Elegien, außer sie näher / kennenlernen, ihren Kajal umkurven, voller Empathie“, fragt (ohne Fragezeichen) das lyrische Wir, das an wenigen Stellen von einem lyrischen Ich abgelöst wird, das aber ungreifbar bleibt: „Ich, weißt du wer das ist?“

Es scheint Cotten zunächst einmal darum zu gehen, die Tauglichkeit der Form zu prüfen. Rilke, Brecht haben im vergangenen Jahrhundert Elegien geschrieben, vielleicht lässt sich mit der alten Tante ja was anfangen. Cotten wählt einen guten Ansatz, um dem klassischen Modell Leben einzuhauchen: Sie nähert sich ihm ohne Scheu, respektlos, ein bisschen rotzig, sie befragt es, und sie befragt uns, die wir es lesen:
„Glaubt ihr, was ich da sage? Kann man euch jeden / letzten Scheiß in diesem angedeuteten Metrum einidrucken?“ (Wobei das österreichische „eini“ für „hinein“ und „drucken“ für „drücken“ steht, der Ausdruck also als „reindrücken“ zu lesen ist.)
Einige Verse darunter eine weitere Frage, die einen schrecklichen klaustrophobischen Verdacht formuliert:
„Kann man etwa vielleicht nur Fragen stellen in Elegien?“
Wenn die Form so eng ist, muss sie weiter gemacht werden. „Flegeln in Elegien“ wird als Losung ausgegeben.

Ein Charakteristikum der Elegie wird am Schluss des ersten Kapitels benannt: Sie sei „[b]estechend in ihrer Geschwätzigkeit, die sich aus einer Trauer / heraushebt.“
Das Motiv wird im dritten Kapitel aufgegriffen: „Sind wir geschwätzig? Dann lass die Geschwätzigkeit nützen! / Druckerpatrone, sei wie Ambrosia! […].“ Nun ist Das Pferd nicht gerade ein trauriges Büchlein, es hat Witz (nicht schenkelklopfend, nur unmerklich die Lippen verziehend), und es hat Grips, beiläufig, wie zum Spaß, oder wie um den Spaß nicht zu verderben.
Doch legt man Schillers „Das Distichon“ zu Grunde – „Im Hexameter steigt des Springquells flüssige Säule, / Im Pentameter drauf fällt sie melodisch herab“ – dann scheint doch eher die herabfallende Bewegung vorzuherrschen, eben das ‚Elegische’.

„IDIOTEN. DISTICHEN“ steht in Versalien über dem allerersten Kapitel (fünf sind es insgesamt) und scheint den Buchtitel abzulösen. Es kommt hierin eine gewisse unwirsche Aggression zum Ausdruck, die immer wieder in den Versen auftaucht und die Trauer in Schach hält. Eine Aggression, die, mag sein, kurz davor ist, sich in Lachen aufzulösen, aber das Lachen kommt nicht, nur vielleicht ein angedeutetes Lächeln, fein genug, um noch das Trotzgesicht darin zu wahren.

Wenngleich es nicht einfach ist zu sagen, worum es in dieser Elegie geht – es scheint sich eine poetologische Position damit zu verbinden. Diese wird mit Streitlust vorgebracht, wie sie bereits in Cottens Essay „Etwas mehr“ aufblitzte. Die Kritik richtet sich gegen „die erschlafften Buntschriftsteller“ (welcher Typus sich auch immer dahinter verbergen mag) und die „grauen, verhärmten / eines Erfolges harrenden, oder auf Erklärung von oben spekulierenden / Betriebsheinis“.
Dies Austeilen könnte eine Pose sein, ein Knurren, um die Falschen abzuschrecken. Gewichtiger als autopoetische Aussage ist da schon eine Passage wie: „[…] Alles, was unausweichlich erscheint, / erschießen. Alles, was uns bemüht, behutsam / unterwandern, wollen es nicht verraten müssen, nie. / Diesen Gegenstand unserer Treue aber sezieren, / liebevoll also zu einsichtigen, landstrichartigen Scheiben / […] zusammenfügen […].“ Das heißt – könnte heißen –, Gedichte nicht für unmittelbare Tagebuchnotate missbrauchen, sondern im Gegenteil das, was ausgesprochen zu werden sich aufdrängt, weglassen, krasse Unmittelbarkeit vermeiden. Abgekühlt, seziert, transformiert lässt sich etwas mit dem „Gegenstand unserer Treue“ anfangen.
„In der Kunst sollte es keine Aufgeregtheit geben. Wahre Kunst ist kalt“, Schönberg dixit. Oder Schwitters („Banalitäten aus dem Chinesischen“): „Nicht alles, was man Expressionismus nennt, ist Ausdruckskunst.“
Die Sentenz, die das vierte Kapitel einleitet, weist in dieselbe Richtung: „Ist dir die Schulter kalt? Zieh dich doch vollständig aus. / Diese Kälte ist mehr, und du bist eine faule Grenze.“ ‚Faule Gans’, klingt da durch, Bequemlichkeit und Dummheit gleichermaßen schmähend, und wirklich: Eine Einladung zu Lauheit ist dies nicht. In „gemächlichen Zimmern“ sitzen, „Verse verbiegen, zu veristischen Posen“, „einsichtig, schön und zugedeckt gerne von leichterem Greinen“ – das sind doch halbe Sachen! Mörikes („Gebet“) „Doch in der Mitten / liegt holdes Bescheiden[.]“ würde Cotten jedenfalls nicht unterschreiben.

Hingegen spricht aus manchen Versen der Geist der Revolte. So überlegt das lyrische Wir, „was […] auf die Feuermauern geschrieben gehörte.“ Die Gattungsbezeichnung „Elegie“ wird bald verworfen und durch „Kampfschrift“ ersetzt, das Wort „Revolution“ blitzt auf, „ne heiße Botschaft von Marianne“ wird imaginiert – Marianne, die Freiheitsgestalt, Personifikation der französischen Republik (die berühmteste Darstellung jene von Delacroix, „La liberté guidant le peuple“, 1830 [Die Freiheit führt das Volk an]). Auch die „Locken“ scheinen ihre aufmüpfige Bedeutung zu haben.

Reminiszenzen ans Kino (Der dritte Mann), an eine Kindheit in den USA – eine wunderschöne Passage, mit einem ironischen Schlenker zum Schluss: „Die Cowboys / werden sentimental und hören / tiefe Balladen von Greenhorns und schluchzen total.“ Es kommt dann ein schön und liebst genannter Genosse ins Spiel, „der ihn immer wacker hinhält für die hochfahrenden Frauen“, und der damit leben kann, dass „wir lieber provisorisch, / […] und immer schlechte Liebhaber sind.“
Heine zitierend, reimt Cotten „gebissen“ auf „Küssen“ – bei ihr kommt noch ein „gerissen“ hinzu, das dem Genossen zugeschrieben wird („dem mit der Fahne, mit dem gerissenen Witz“). Die subtile Emotionalität, die in diesen Versen enthalten ist, würde dem Zeitalter der Empfindsamkeit zur Ehre gereichen, doch wird dieser Kontextrahmen auch gebrochen, etwa durch die beiläufige Einfügung des Worts „wichsen“.

Überhaupt, die Wörter – nicht alle sind sie elegiabel (oder doch?): „Arschlöcher“, „Flittchen“, „Furzkissen“, „Problemstellencoach“… „[G]elernte Prinzessin“ klingt beleidigend, immerhin. Dies Feuer tut der überkommenen Gedichtform gut.
„Kunst braucht mehr Zähne“, hat der Rezensent an anderer Stelle proklamiert. Nein, die Elegie ist nicht tot, dies beweist Ann Cotten mit Das Pferd aufs schönste, auch wenn es kaum in ihrer Absicht gelegen haben düfte, irgend jemandem irgend etwas zu beweisen, es sei denn sich selbst. Keck ließe sich behaupten: Das Werk ist die Lebendmaske der Konzeption.
So frisch liest es sich.
Es ist natürlich auch kein „Alterswerk“ wie bei Brecht (Buckower Elegien) oder Goethe (Marienbader Elegien) – die Autorin war in ihren Zwanzigern, als Das Pferd erschien. Auch birgt es kein „Altersweh“, wie es in einem schönen Parallelismus heißt, „sondern ein Tangieren / dessen, was uns schmerzen wird und auf eine Weise schon schmerzt. […] Und die Zeilen ragen / raus wie kobaltblaue Fäden aus etwas längst Geheiltem.“
Sehr gut gesagt, und schön.

Am Anfang der Elegie heißt es: „Gott, wie bräuchten wir andere Vokabel […].“ Das macht stutzig, es müsste doch da stehen: „andere Vokabeln“!? Ein Druckfehler vielleicht? Doch bei der Sorgfalt, die der SuKuLTuR Verlag in seine Heftchenreihe „Schöner Lesen“ und in seine übrigen Publikationen legt, ist das wenig wahrscheinlich. Also, wer von einer déformation professionelle betroffen ist, kringelt sich das ein und fährt mit Lesen fort – um am Ende auf die Verse zu stoßen:
„[…] und ich scheute mich nicht mehr vor dem Vokabel / dieser gescheiterten Maße, ich sah, ich lag richtig, / allen im Weg.“
Und nun wird auch klar, wie das (!) „Vokabel“, das „allen im Weg“ liegt, zu lesen ist, nämlich als Verschmelzung aus „Vokabel“ und „Kabel“, als Kontamination.

Das ergibt Sinn: Elektrisierte Wörter, elektrisierend. Leichtes Krisseln, Knistern, der Geist auf Empfang.

// Meinolf Reul

Ann Cotten, Das Pferd. Elegie. 20 Seiten, geheftet. Mit einer [Umschlag-]Zeichnung der Autorin. SuKuLTuR Verlag, Berlin 2009. 1,00 Euro (Reihe „Schöner Lesen“, Nr. 84). Der Band ist zum Preis von 0,99 Euro auch als E-Book erhältlich.

radio satt #6 – Veronika Reichl

Seit heute ist die neue Folge von radio satt online, siehe hier:

http://www.satt.org/literatur/20_11_radiosatt-06.html

radio satt bringt Lesungen und Gespräche zur Literatur. Zu Gast in der Folge #6 ist Veronika Reichl, die für sich eine besondere, schwer zu kategorisierende Form des Schreibens gefunden hat: Ihre Geschichten handeln von realen, vorab in Interviews mitgeteilten, Lektüreerfahrungen von Philosophinnen und Philosophen mit – hier vor allem – Hegel. „Hegel zu lesen ist anstrengend, manchmal zermürbend“, weiß Veronika Reichl.
Im Schaum dieser Sprache. Hegel lesen erzählt von jenen, die die Herausforderung angenommen haben – und in den Lesepausen vielleicht „House of Cards“ weitergucken. Doch auch dort finden sich Hegelsche Denkfiguren.
Eine mit feiner Ironie versetzte Hommage an Hegel, die in dieser Ambivalenz, aus feministischem und postkolonialem Blickwinkel, auch im Gespräch mit Lilian Peter aufgegriffen wird.

Siehe auch Patrick Eiden-Offe, „Der ewig Unzeitgemäße. Zum 250. Geburtstag von Hegel“ (die tageszeitung):

„Wir werden hier mit Lektüren konfrontiert, die bisher Gedachtes erschüttern und Ungedachtes aufbrechen lassen; Lektüren, in denen Hegels Denken weitaus plastischer vor uns ersteht als in allen Biografien und Aktualisierungen.”

Veronika Reichl lebt als Illustratorin, Dozentin und Autorin in Berlin.
Sie studierte Kommunikationsdesign und European Media an der Merz Akademie in Stuttgart. Promotion im Fach Art, Design and Media bei Diedrich Diederichsen und Paul Newland über die Visualisierbarkeit philosophischer Texte an der University of Portsmouth.
2008 erschien bei Merz & Solitude das Buch Sprachkino: Zur Schnittstelle zwischen abstrakter Sprache und Bildlichkeit, eine zeichentheoretische Untersuchung mit einer Serie experimenteller Animationsfilme.
Forschungsaufenthalt in Oslo. 2003 Preisträgerin des 11. open mike. Veröffentlichungen u.a. in Circumference, Bella Triste, Idiome, Mantis, LIT, RealPoetics. Literarische Vortrags-Performances und Installationen, u.a. bei European Media Art Festival 2017, Am Nerv der Demokratie, Performance-Philosophie Festival 2019, Eröffnung der Ausstellung Hegel und seine Freunde in Marbach 2019 etc.
Website: https://veronikareichl.com/

Lilian Peter lebt in Berlin. Sie studierte zunächst als Jungstudentin Klavier (RSK/Musikhochschule München), anschließend Philosophie, Altgriechisch und Musikwissenschaften in Wien, Tübingen und Heidelberg, später noch Literatur am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. Studienaufenthalte in Prag, Paris und New York. Verdient ihr Brot hauptsächlich als Übersetzerin, Radioautorin, Klavierlehrerin, stellt derzeit den literarischen Essayband Mutter geht aus fertig, daneben Arbeit an verschiedenen anderen Prosaformen. Seit Januar 2020 schreibt sie die auf ein Jahr begrenzte monatliche Kolumne How To Cook A Phallus für fixpoetry.com. Derzeit läuft zudem ein Briefwechsel mit der japanischen Schriftstellerin Yui Tanizaki, kuratiert vom Goethe-Institut Kyoto/Osaka (die Texte erscheinen fortlaufend online auf den Seiten des Goethe-Instituts und werden von Literaturübersetzerinnen in die jeweils andere Sprache übersetzt). Für ihren Essay „Diebinnen im Paradies“ erhielt sie 2017 den Edit Essaypreis. 2019 war sie Stipendiatin der Villa Kamogawa in Kyoto, 2020 erhielt sie ein Arbeitsstipendium des Berliner Senats, 2021 ein Arbeitsstipendium im Künstlerhaus Edenkoben. Ihre Texte erschienen bisher u.a. in Lettre International, Still Magazine, Edit, BELLA triste und bei Matthes & Seitz Berlin.
Sie betreibt das Blog peterslilie.

Veronika Reichl, Im Schaum dieser Sprache. Hegel lesen. Texte und Zeichnungen. Herausgegeben und mit einem Vorwort von Sandra Potsch. Begleitband zur Ausstellung „Idealismusschmiede in der Philosophen-WG. Hegel, Hölderlin und ihre Tübinger Studienjahre“. 104 Seiten mit zahlreichen farbigen Illustrationen, Klappenbroschur. Museum Hölderlinturm Tübingen, Tübingen 2020. 12,50 Euro
ISBN 978-3-941818-43-9

Beziehbar über das Museum (Bestell-Nr. 0189).

In der Zwischenzeit

Während eine Kritik zum zweiten Gedichtband von Charlotte Warsen – Plage – in Arbeit ist, hier meine Besprechung ihres Erstlings.

Vom Speerwurf zu Pferde

„es ging los mit dem abstrakten da war ich acht“
Linus Westheuser, zitiert von Charlotte Warsen

Wer sagt denn, dass der Sinn eines Gedichtes in den Worten liegt? Vielleicht liegt er in der Form? Vom Speerwurf zu Pferde ist das Debüt von Charlotte Warsen. Bei seiner Veröffentlichung 2014 fand es wenig Aufmerksamkeit – Jan Kuhlbrodts Kritik im Signaturen Magazin und Fabian Thomas‘ Kritik bei Fixpoetry waren Ausnahmen (beide online). Darum mag es vertretbar sein, obgleich mit Verspätung, nun noch eine dritte Besprechung nachzuliefern, zumal ein zweiter Gedichtband angekündigt wird.

Ein Zyklus, „flu flu fieder“, so fluffig und fluid wie sein Name, steht am Anfang: zwölf zeichenartige Gedichte von zwischen fünfzehn und fünfunddreißig Wörtern Umfang, auf je drei Verse verteilt, kurz – lang – kurz. Einrückungen, Kursivierungen, Leerstellen und ein weitgehender Verzicht auf Satzzeichen – übrigens wiederkehrende Charakteristika der Gedichte in Vom Speerwurf – ergeben eine hohe formale Variabilität, Beweglichkeit und Vieldeutigkeit. Teilweise kehrt sich die Leserichtung um oder sie wird suspendiert. Die Sprache rückt selbst als Gegenstand ins Bild. Sie wahrt größtmögliche Abstraktheit, lässt Raum für Assoziationen, z.B. wenn in der Fügung „meine mode ist ganz hautig“ nicht nur ein Mit-der-Mode-Gehen aufgerufen wird (heutig), sondern auch Material (Leder) und Zuschnitt (skinny fit), und natürlich die Haute Couture.

In den nächsten Kapiteln weitet und verdichtet sich die Textur. „Für die Gedichte in ͵die tellerʹ habe ich die Sprüche meiner Oma gesampelt“, sagte Charlotte Warsen bei einer Lesung. Doch bis auf eine regional gefärbte Wendung – „macht schwach auf die beine“ – ist davon kaum eine Spur zu finden. Bilder und Begriffe, die an einen Krankenhausaufenthalt denken lassen, kontrastieren mit sparsam gesetzten Reminiszenzen an die Natur. Aber das ist eine verkürzte und verfälschende Lesart, denn Warsens Gedichte erzählen nichts. Ein „gefetteter lockruf“, „souffleusen“ und „mayaforscher“, die wie selbstverständlich auftauchen, sollten nicht als pittoreskes Detail missverstanden werden; sie stehen für einen Farbwert und (vielleicht) -auftrag, der in Relation zu den Wertigkeiten der anderen Wörter steht, diese bestimmt und von ihnen bestimmt wird.

Der, rein formal-technisch, malerische Bezugspunkt der Gedichte ist auch in der Zwischenüberschrift „farbe und funktion“ angezeigt. „Chardin noch musste – wie wir von Diderot wissen – verzweifelt auf einen Hasen warten, der seine Ansprüche auf die geforderte Farbigkeit erfüllte“ – das Epigraph des Kunsthistorikers Max Imdahl gibt den Ton an für die nun folgenden zehn Gedichte (Naturgedichte vielleicht), die ein ganzes phantastisches Farbspektrum auffächern, um z.B. einen Sonnenuntergang zu schildern, mit Farbbezeichnungen, wie sie so im Farbsystem Pantones (das Warsen zitiert) nicht vorkommen: „schleppbeige“, „devotes rot“, „zwiepink“, „mitterschwarz“, „blattschwarz“, „nassschwarz“. Eingefügt „ein leichtes / gelb am horizont […] rollt eins zwei ballen blau“, und starke, assoziationsreiche Ausdrücke: „frotteesonne“. Darin klingt eine bestimmte Stofflichkeit des Lichts an, aber auch die künstlerische Technik der Frottage, wie sie aus dem Werk ihres Erfinders Max Ernst bekannt ist.

Wie ein Intermezzo dagegen die von verspielter Rasanz, Begeisterung und Übermut geprägten Gedichte in „vom speerwurf zu pferde“, deren Leichtsinn und greller Jux im Titelgedicht und im Gedicht „himmel“ in einen zurückgenommenen, versonnenen Duktus überführt und abgeblendet werden.

Die Texttafeln in „die karelischen grenzen“ – ein weiterer Höhepunkt des Bandes – feiern die Welt als Lautverkettung und Klangdickicht, berühren aber zugleich die Sphäre der bildenden Kunst, sind somit, wie es der Klappentext formuliert, „synästhetische Gedichte“ auf „die Freundschaft von Wort und Farbe“, wobei Wort eben auch als Wort-Laut zu verstehen ist. Mit ihrem jeweils seitenfüllenden Blocksatz können sie als quasi-monochrome Gemäldegedichte oder als Gedichtgemälde auf den Spuren Ad Reinhardts gelten; bei genauerem Hinsehen erkennt man eine starke Binnenbewegung und Riffelung. „die stadt“, „der wald“, „schwappen“ sind durch Wiederholung und Variation besonders herausgehoben.

Das (augenscheinlich) Monolithische wird dann wieder zurückgenommen zugunsten knapperer und/oder mehr aussparender Formen, die als erweiterte Reprise der „flu flu fieder“-und der „farbe und funktion“-Gedichte gesehen werden können. Sie leiten zum letzten, lapidaren, Kapitel über, „türme“.

i am radio

1
hetz
1über
abseits
ab
1arg
ins um
liegende
ätsch
metallischer
balladen

i am
radio

„i am radio“ kann als Notation eines Sendersuchlaufs gelesen werden. Das Ausnutzen der typographischen Ähnlichkeit von 1, t, l und i, ergänzt durch den Stamm der Buchstaben h, b und d, erzeugt gleichzeitig formale Geschlossenheit und Mobilität. Die Schriftzeichen ‚kippeln‘, passend zum Zappen durch das Programm: „1/hetz[en]“. Auffällig der zweimalig auftretende Doppelkonsonant „ll“ am Ende der ersten Strophe, der, zusammen mit der Dynamik einer tendenziell zunehmenden Zeichenzahl je Vers (1, 4, 5, 7, 2, 4, 5, 8, 5, 12, 8), einen Schwerpunkt zu bezeichnen scheint.
Die „metallische[n] / balladen“ verweisen auf das Radioprogramm, je nach Lesart auf ein schepperndes Klangbild oder auf das Genre der Metalballade (bekanntes Beispiel: Metallicas „Nothing else matters“).
Der Text durchkreuzt die Aufgabe des Empfängers (Lesers), die darin bestünde, den gewünschten Sender von den nicht gewünschten Sendern zu trennen. Er interessiert sich für die Übergänge zwischen den einzelnen Frequenzen, für die Störgeräusche („ätsch“). Das durch Leerzeilen – Stille – isolierte „i am / radio“ ist sozusagen die Moral zu der kurzatmigen Reihung abgerissener Sprachfetzen. Es ist auch eine Selbstbehauptung, die Signatur eines Ichs, das für sich in Anspruch nimmt, noch das scheinbar Ungefügte schöpferisch zu durchdringen, in jeden Vers auszustrahlen (lat. radius „Strahl“).
Ebenso ist „i am“ als Zeitangabe lesbar: 1 Uhr nachts.*


* Ich verdanke diesen Hinweis Norbert Lange, der außerdem zu bedenken gibt, ob das „türme“-Kapitel nicht als Textband aufgefasst werden könnte statt als Aufeinanderfolge einzelner Texte.


„wir haben jetzt ein gehöft“ ließe sich wie eine Komposition analysieren. Tatsächlich gibt es die Vortragsangabe: „[singend:]“. „das geht nicht mehr raus“ lautet das in Wiederholungen und Abwandlungen wiederkehrende Hauptmotiv. Dann kommt ein „über-“ hinzu. Wie das Wort weitergeht, erfährt der Leser nicht sofort, ein zweites und drittes Mal heißt es „über-“ bzw. „über-“, erst dann folgt, etwas darunter, „raschen“, das in „rascheln“ und „rasches“ aufgenommen und variiert wird. Am Anfang, in der Mitte und am Ende des Gedichts steht: „im haus“ – die wörtliche Übersetzung der aus der DJ Culture stammenden Floskel „in the house“ –: hineingescratchter Hinweis auf Warsens Samplingtechnik. Bei ihr klingt es aber nicht nach Party, sondern nach Aktenvermerk – ein Beispiel für ihren trockenen Humor.

Vom Speerwurf zu Pferde ist eine verschwenderische Sprachschöpfung aus dem Geist der Malerei und der Musik. Hochkomplex und schwierig, sind die Texte dennoch, über Duktus und rhythmische und klangliche Gestalt, zugänglich, überraschen immer wieder, inmitten rasanter Beschleunigungen und Überstürzungen, mit prägnanten Sprachbildern: „das meer hängt an häkchen über dem meer“ heißt es z.B. über die kabbelige See; ein Himmelsgedicht dekliniert subtil die Wolkenphasen, ist ganz zarte, behutsame Empfindung des Fließens und Vergehens, von Farbverläufen und Volumina. Trotz dieser Spuren der wirklichen Welt (Karl Mays Schut kommt auch vor) dürfte ein Verständnis der Gedichte auf der Deutungsebene ins Leere führen; vielversprechender scheint es, sich dem Sog der Abstraktion anzuvertrauen.

„es ging los mit dem abstrakten da war ich acht.“ Dies Buch ist ein erstes sichtbares literarisches Zeichen für den von Charlotte Warsen – auch als Malerin und Zeichnerin – beharrlich verfolgten Weg. Wir freuen uns auf das nächste.

[2018]

Das Dickicht nach fünf Jahren

Mit großer Verspätung habe ich gerade Dickicht mit Reden und Augen (2013) gelesen, den dritten Gedichtband von Steffen Popp. Es scheint mir im Vergleich zu Wie Alpen (2004) und Kolonie Zur Sonne (2008) ein eher schwaches Buch, jedenfalls verließ mich der Verdacht nicht, hier werde zur Hälfte geblufft – Bluff im Sinne einer Produktion, die nicht ernsthaft gerechtfertigt ist. Die lobenswerte Ausnahme bildet der dreizehnteilige Zyklus über eine Kindheit und Jugend in der DDR, „Narrativ” überschrieben (worüber man streiten kann: Wäre „Beton”, auch in der Abfolge von „Vom Meer”, „Wälder”, „Von Zinnen” – die Überschriften der vorhergehenden Kapitel -, nicht besser geeignet gewesen?) In diesen eindringlichen Gedichten ist Steffen Popp auf der Höhe der Kunst, hier ist er nicht der leichtsinnige Spieler, der sich mit kombinatorischen Tricks selbst in die Parade fährt, und für sie hat er den Peter Huchel-Preis tatsächlich verdient.
Jetzt freue ich mich, seine zuletzt erschienenen Gedichte zu lesen, 118 (2017).

Steffen Popp, Dickicht mit Reden und Augen. Gedichte. 88 Seiten, broschiert. kookbooks, Berlin 2013.
Steffen Popp, 118. Gedichte. 144 Seiten, broschiert. kookbooks, Berlin 2017.

Zu Kolonie Zur Sonne siehe auch hier.

W. Shorter A. Cotten Y. Bonnefoy

„Alles, was die Kulturentwicklung fördert, arbeitet auch gegen den Krieg.”
(Sigmund Freud an Albert Einstein)
Daran halte ich mich.
In dem Punkt bin ich gewissermaßen meine Eltern in Personalunion, die mit dem Argument „Das ist für die Bildung” immer großzügig waren mit allem, was uns weiterbringen konnte.
Also bevorrate ich mich (immer maßvoll!) mit Musik und Büchern, erwerbe zudem hin und wieder eine Berliner Zeitung, das macht mir gute Laune.
Zuletzt habe ich mir eine 5-CD-Box von Wayne Shorter gekauft, mit Aufnahmen, die er zwischen 1964 und 1967 für Blue Note eingespielt hat und die, teilweise erst Jahre nach ihrer Entstehung, auf den Alben Night Dreamer, The Soothsayer, Et cetera, Adam’s Apple und Schizophrenia erschienen sind.
„Weird like Wayne” war in den 60ern unter den jungen Jazzfreunden New Yorks eine Redewendung, habe ich irgendwo gelesen, aber vielleicht waren sie auch nur ein einziger Mensch namens LeRoi Jones, nachmals Amiri Baraka. Egal.
Übrigens hat Wayne Shorter einen Trompete spielenden Bruder namens Alan, den man zum Beispiel auf Archie Shepps Four For Trane hören kann. Eine musikalische Familie.
Am Ende landen die Leute beim Jazz, wie mein Freund Walter ganz zutreffend sagte.

Die neuest hinzugekommenen Bücher sind von Ann Cotten und Yves Bonnefoy, denen ich beiden eine Treue bewahre. Anders als hier in der Abbildung zu sehen, weist mein Exemplar von Was geht allerdings kein Fragezeichen auf.

Die Wiener Dichterin widmet sich in ihren Vorlesungen unter dem Vorzeichen des Spazierengehens Fragen der Poetik. „Silly Walks” kommen vor, „Verzerrung”, „Vertrauen”, „Kommunismus als Werkphase” und vieles andere mehr, alles schön flott dargeboten, so dass niemand in Versuchung kommt, einzuschlafen.
Aber das schreibe ich hier nur superpauschal, denn viel lesen können habe ich noch nicht.
„Flaneusen sind (und natürlich Flaneure) ein großes Ärgernis, nicht nur für die Putztrupps, denen sie in die frisch gewischten Strandpromenaden tappen, sondern vor allem auch für die anderen Flaneursen.”
So launig geht es los, und AC mutet dem wohlgemuten Leser hier schon zu, was auf der nächsten Seite als „Polnisches Gendern” namhaft und wie folgt beschrieben wird: „alle für alle Geschlechter notwendigen Buchstaben in beliebiger Reihenfolge ans Wortende.”
Hoffentlich macht es nicht Schule.
AC schreibt: „Mündlich ein bisschen schwieriger als schriftlich, aber es wird sich schon nach und nach durchsetzen, beim Automobil haben sie auch gesagt, so ein Schwachsinn.”

Der rote Schal ist das letzte Buch von Yves Bonnefoy. Elisabeth Edl und Wolfgang Matz haben es übersetzt. Ich war überrascht, dass es überhaupt ein letztes Bonnefoy-Buch gab – eines nach Die lange Ankerkette -, aber als ich neulich Montag meine einwöchige Vertretung in der Wilmersdorfer Buchhandlung antrat, in der ich seit bald fünf Jahren arbeite, lag es auf dem Neuheitentisch, mit diesem prächtigen Max-Ernst-Buchumschlag.
Der alte Dichter, am Ende seines Lebensweges angekommen, erzählt darin von einem liegengebliebenen Gedichtfragment, das seinerzeit wie unter Diktat entstanden war, und an das er später nicht mehr anknüpfen konnte.
„Tatsächlich wollte ich mich nicht damit abfinden, dass ‚Der rote Schal’ unvollendet, und genauso wenig, dass dieses Rätsel der plötzlich versiegten Eingebung unlösbar blieb.”
Bonnefoy wird also Detektiv in eigener Sache, und davon handelt das Buch – ein Buch über ein Gedicht, aber als Erzählung.
NB. Wer die rauhe Haptik der Edition Akzente schätzt, sollte – bei Interesse – ein Exemplar der ersten Auflage kaufen. Die nächste Auflage wird als Print on Demand erscheinen, pottenhässlich, aber zum gleichen Preis. 😦

Es war mir nicht bewusst, dass ich eine besondere Sehnsucht nach poetologischen Fragen habe, aber wie sonst soll ich mir erklären, dass die genannten Bücher eben solche über das Dichten sind und die nächsten zwei ebenso: Poetisch denken von Christian Metz und Aus Mangel an Beweisen von Michael Braun und Hans Thill? – Aller guten Dinge sind drei: Auch Dickicht mit Reden und Augen von Steffen Popp steht bei Shakespeare and Company für mich bereit.
Dieser Tage muss man kookbooks nach Kräften unterstützen. Das eifrige Finanzamt hat dem 2003 gegründeten Verlag eine Forderung ins Haus geschickt, die ihn in seiner Existenz bedroht.

  • Wayne Shorter, 5 Original Albums with full original artwork. Blue Note Records, New York, New York, 2016. ca. 18,00 Euro
  • Ann Cotten, Was geht. Salzburger Stefan Zweig Poetikvorlesung. 180 Seiten, broschiert. Sonderzahl Verlag, Wien 2018. 18,00 Euro
  • Yves Bonnefoy, Der rote Schal. Deutsch von Elisabeth Edl und Wolfgang Matz. 224 Seiten, Klappenbroschur. Hanser Verlag, München 2018. 24,00 Euro

Konzeptliteratur. „Gablenberger Tagblatt“ von Mara Genschel

Bei einem Mara Genschel gewidmeten und von ihr arrangierten Abend in der Berliner Raucherkneipe Rumbalotte trat ein Mann in weißer Malocherkluft vor, maulte: nicht mal in Ruhe sein Bier trinken könne man! Er sei vom Abriss, und Genschel rede Grütze.

‚Im Abriss‘ arbeitet aber auch Mara Genschel. War ihr Debüt Tonbrand Schlaf (2008) noch ein vergleichsweise konventioneller, wenn auch formal avancierter, Gedichtband, so kann die seit 2012 im Eigenverlag erscheinende Referenzfläche als Prototyp Genschelscher Demolierungskunst gelten. Die reduktionistischen Texte der Referenzfläche weisen diverse Eingriffe auf – handschriftliche Ergänzungen / Kommentare, Überschreibungen, Überklebungen, Durchstreichungen –, die ihr Textsein resolut in Frage stellen, es aber auch fixieren. Alles, was dasteht, könnte vielleicht auch nicht dastehen, und doch: die gestrichenen und geixten Wörter sind auf dem Papier, beharrlich. Die Negation ist positiv vorhanden, das Ausradierte hat eine Kerbung hinterlassen, das Kaputte zeigt sich intakt.
Die Begegnung der Texte mit ihrer Verneinung hat sie auch zäh gemacht und hat sie Witz gelehrt. Der sprachliche und formale Extremismus Mara Genschels zählt zum Lustigsten, was die deutsche Literatur zu bieten hat.

In Genschels Werk – aber den Werkbegriff würde sie ablehnen, also lieber: Im Kontext ihres Machens und Tuns ist die Bedeutung der Referenzfläche, in der alles aufs Spiel gesetzt wird, was Lyrik ausmacht, kaum zu überschätzen, weil hier zum ersten Mal jene Ästhetik des sich behauptenden Zweifels entfaltet ist, die alle ihre künstlerischen Äußerungen seither prägt, gleichviel ob es sich um die im engeren Sinn literarischen Arbeiten oder um ihre Lesungen und Performances handelt.

Gablenberger Tagblatt, Genschels jüngstes Buch, ist eine konsequente Weiterentwicklung und Transponierung in ein größeres Format des mit der Referenzfläche Begonnenen; dieselbe schöpferisch-ironische Bezweiflungsenergie ist am Werk, schafft und zerschafft den Text. […]

Beginn meiner gerade fertiggestellten Kritik zu Gablenberger Tagblatt, die demnächst bei satt.org erscheinen wird. Wer vorab lesen möchte, kann mir mailen. Sonst bis nächste Woche warten.

Streuselschnecke

Chronik ist ursprünglich keine Einzelveröffentlichung von Roland Barthes, im dritten Band seiner Oeuvres complètes nimmt sie gerade einmal fünfundzwanzig Seiten ein, genau gesagt: die Seiten 969 bis 993. Ich habe das nicht nachgeprüft.
Zwischen Dezember 1978 und März 1979 hatte Barthes (1915-1980) einmal in der Woche für Le Nouvel Observateur aufgeschrieben, was ihn bewegte, sich dabei einer minderen literarischen Form bedienend – minder, nicht minderwertig -, überdies die von ihm festgehaltenen Beobachtungen als „‚schwache’ Ereignisse” charakterisierend, im Gegensatz zu den landläufig medial aufbereiteten ‚echten’ Ereignissen.
Seine kleine Prosa werde „von der Überspanntheit der uns umgebenden Schreibstile erdrückt und fast ausradiert”, klagt Barthes dann auch – nicht überraschend — die Worte verraten gekränkte Eitelkeit – doch hält er ihr aus strategischen, letztlich politischen Gründen die Treue:
„[…] und wenn wir allmählich, geduldig dafür sorgten, dass sich die Skala der Intensitäten ändert? […] Müssen wir heute nicht der größt möglichen Zahl von ‚kleinen Welten’ Gehör verschaffen? Die ‚große Welt der Herden’ durch die unaufhörliche Teilung der Partikularitäten angreifen?”
Ich finde, das ist ein nobles Programm.
Die Chronik liest sich leicht, und anregend ist sie sowieso, steckt auch voller Anekdoten wie die von der alten Frau, die nicht mit der Einführung des neuen Franc zurechtkommt (diese erfolgte 1960, hundert alte Franc waren gleich einem neuen Franc) und buchstäblich nicht versteht, dass der Topf Primeln 30 Franc kosten soll, aber dann sagt jemand: Die Primeln kosten 3000 Franc, und da lacht sie und zückt ihren Geldbeutel. Ein anderes Mal berichtet der Autor, eine Werbeagentur habe ihm einen Button geschickt: „Kümmern Sie sich nicht um mich”, und der Musikfreund Barthes hält auch dies fest: „Ich werde Swjatoslaw Richter stets übel nehmen, dass er ein bestimmtes Menuett einer Sonate von Beethoven viel zu langsam gespielt hat”.

Hatte ich erwähnt, dass ich jede Woche rund fünfzehn Stunden S- und U-Bahn fahre, und zwar nicht zum Vergnügen?
In der zwischen Wannsee und Oranienburg verkehrenden Stadtbahn 1 fiel neulich in einem Gespräch das Wort „Streuselschnecke”.

Gestern habe ich einen Zwetschgenkuchen gebacken. Auch „Zwetschge” sagt man nicht oft – wenn, dann im September. Zwetschge. Zwetschge.
Man hätte Hagelzucker gebraucht.