Musik zum Advent

Montag. In der Nacht hat es geschneit, nicht doll viel, aber genug, dass heute Schneelicht ist. Die Lautstärke der Autos heruntergedreht, auch recht. Ich specke ein bisschen an. Mit dem Tee hinterher, 9 als nächstes, Zitrone Ingwer. Dank je wel!

Es ist selbstverständlich (wer mich kennt) keine adventliche Musik. Weihnachten heißt für mich das Zimmer aufzuräumen, Staub zu saugen und Ruhe zu haben. Ich bin ein erz-nüchterner Weihnachtsbegeher.
Allein, dass ich die folgenden Darbietungen in dieser Zeit des Jahres zusammenstelle, qualifiziert sie für besagtes Attribut.
Bestimmt würfele ich noch ein bisschen herum, füge etwas hinzu, nehme etwas weg, ihr kennt das ja.
PS. Nichts von den unten gelisteten Musikstücken habe ich je im (deutschen) Radio gehört (Ausnahme Robin Holcomb, die Karl Lippegaus mal aufgelegt hat). Welche Verschwendung!

Ohne Zusammenhang: Nancy Hünger weist in ihrem „Aber ohne Ergebnis” überschriebenen Beitrag zum Günter Eich-Sammelband darauf hin, dass die tschechische Trickfilmfigur Der kleine Maufwurf und Günter Eichs Maulwürfe-Prosa im selben Jahr das Licht der Welt erblickten, 1968. Welche Utopien wurden da aufgeworfen, welche begraben?

Captain Beefheart The Dust Blows Forward ‘N the Dust Blows Back Captain Beefheart alias Don Van Vliet (15.1.1941 – 17.12.2010). Das zweite Stück aus dem von seinem einstigen Klassenkameraden Frank Zappa produzierten Album Trout Mask Replica (1969). *****

Rosalía Bizcochito Rosalía steht mit Motomami (2022) verdientermaßen auf den vordersten Rängen aller Jahres-Bestenlisten. Meine niederrheinischen Freunde verstehen nicht, was ich an Rosalía finde, aber ich lasse mich nicht beirren. *****
Robin Holcomb When I Stop Crying Montag, 21.00 Uhr. Vor zwanzig Minuten von der Arbeit nach Hause gekommen. Die Straße so glitzernd, lieber mal langsam laufen. – Hab ich 9 gesagt? Tee 8 war’s, aber Ginger Lemon, wie gehabt. – Der Song ist von Holcombs Rockabye-Album, das 1992 herauskam, vermutlich habe ich’s um die Zeit auch gehört. ***** The Angelica Sanchez Trio (w/ Michael Formanek & Billy Hart) Generational Bonds Angelica Sanchez ist mir bei Bandcamp begegnet, sie taucht aber auch in Giovanni Russonellos Auswahl der (10) New York Times Best Jazz Albums of 2022 auf. Das Stück lädt ein zu überprüfen, was das Blatt, und wahrscheinlich abermals Mr Russonello als dessen Jazz-Kritiker, über Angelica Sanchez geschrieben hat: „In her piano playing as well as her compositions Angelica Sanchez seeks out the lyrical heartbeat within any avant-garde storm…”  ***** Dua Lipa Golden Slumbers Das Beatles-Cover stammt aus der Live Acoustic EP (2017). Gute Stimme, ich möchte sie nicht missen! *****

21.00 Uhr, vor gut einer Stunde nach Hause gekommen. Jetzt 9 („Grüne Neune. Bio Kräuter-Früchtetee”). Ich specke weiter an, die Musik ist noch nicht zu Ende. – Es ist sicher kein Zufall, dass der beste anhörbare Jazz hispanische Verbandelungen hat, und ich überlege, ob ich anhörbar oder Jazz kursiv setzen soll. Bei Angelica Sanchez, in Phoenix, Arizona, geboren, vermute ich es; bei Marta Sánchez und Patricia Brennan weiß ich es; Adam O’Farrill nicht zu vergessen. [Text gestrichen] These (1): Literatur ohne Witz ist gipsern, wird vornehmlich von Gipsköpfen goutiert und ad infinitum in Gips gegossen. These (2): Literatur kann nicht zum Erstarren gebracht werden. Wenn sie starr ist: schlecht für sie.) María Grand/Rashaan Carter/Jeremy Dutton Magdalena ***** Ich bin abgeschweift. Sizigia (Syzygy), vorletztes Stück aus dem im November bei Kris Davis‘ Label Pyroclastic Records erschienenen More Touch. – Magdalena aus dem gleichnamigen Album (2018) der Tenorsaxophonistin María Grand.

O Gott, die Ziehzeit ist jetzt aber auch drüber!

MF DOOM (1971-2020) ist im aktuellen Song Belize von Danger Mouse und Black Thought als Stimme und Schatten dabei. DOOMs Tod am 31.10.2020 wurde erst am 31.12.2020 bekanntgegeben und überschattete den Jahreswechsel. Präsident Biden nahm einen Song von ihm in seine Inaugurations-Playlist auf, die Regierung Obama hatte ihm die Wiedereinreise in die USA verweigert (Wikipedia).

Zwei Abende verwendet man darauf, Text zu ergänzen, einen, um ihn wieder wegzunehmen – nicht alles, das ist wahr. – Sudan Archives stammt aus Cincinatti, Ohio, ich habe erst kürzlich angefangen, sie zu hören. Paid ist der erste Track ihrer sehr zu empfehlenden selbstbetitelten EP (2018), das Video zeigt sie mit Anfang/Mitte 20. Ihre Präsenz ist hypnotisch und rahmensprengend (die Kamera unverschämt draufhaltend, aber sie weiß es zu handeln). Auch Home Maker ist ein Opener – diesmal ihres zweiten Longplayers: Natural Brown Prom Queen (September 2022). Das oben verlinkte Golden City ist wiederum aus der Sudan Archives EP. „I’m not average”, singt Sudan Archives auf ihrer aktuellen Veröffentlichung. Das kann man wohl sagen!

Vulture Prince von Arooj Aftab, die in Brooklyn, New York, lebt, ist eine herausragende Veröffentlichung des vergangenen Jahres (2021). Arooj Aftabs Stimme bündelt alles abgrundtief Traurige der Welt. Der Sender KEXP aus Seattle hat sie eingeladen, ihre Musik zu spielen. Mach das in Deutschland, dann bleiben die Werbekunden weg!

Rosalía Granaína (Gitarre: Marc López) *****

… und ein ‚Rausschmeißer‘:

Dauernebel

Zeitschriften sind geheftete oder gelumbeckte Periodika, die man am Kiosk, im Bahnhof, in der Tanke, wenn man schon kein Auto fährt, oder beim Rewe kauft, oder vielleicht sogar abonniert hat, und die dann meist ungelesen herumliegen oder aus einem Regalfach herauslappen. Das ist ja auch nicht weiter schlimm.

Betrunkene mit verrutschen Masken und quarkfetten Stimmen wankten mir am U-Bahnhof Spichernstraße entgegen, wo ich in die 3 stieg, die mich getreulich Oskar-Helene-Heim absetzte. Dort in den 115er, Neuruppiner. Feierabend.
Wenn ich wach genug bin, lese ich im Novemberheft der MusikTexte, das einen Schwerpunkt zum Thema Akustische Ökologie hat (von der ich vorher noch nie gehört hatte, aber ich kenne mich auch nicht aus). In seinem frei zugänglichen Beitrag Der wohltemperierte Regenwurm. Zur Naturbeziehung digitaler Musik erklärt Bernhard König mit Bezug auf den Schweizer Klangforscher Markus Maeder, was das zum Beispiel heißen kann: „den Trockenstress verdurstender Bäume oder die Fruchtbarkeit von Böden hörbar [machen]”.

Freude hatte ich auch an dem – Adornos Das Altern der Neuen Musik (1954) (das höre ich mir jetzt aber nicht an …) aufgreifenden – Essay „Vom Neuern der alten Musik” von Christoph Haffter, der auf anregende Weise das Phänomen der breiten Präsenz der Musik vergangener Zeiten im Musikleben der Gegenwart beleuchtet. Der Autor wendet die Frage: Ist das noch Musik?, mit der neue Musik häufig konfrontiert ist, gegen die alte Musik, denn:
„Kunsterfahrung ist das Gegenteil von Bescheidwissen.”
Wenn man aber nach einem Takt schon weiß, wie es weitergeht, dann ist wohl eher Trivialität als Kunst im Spiel.
Ist alte Musik also tot? – Nicht unbedingt, beruhigt der Verfasser, und rekapituliert einige neuere Klassikinterpretationen (Vivaldi, Tschaikowsky), die etwas vom Schock (Choc, hätte Adorno snobistisch geschrieben) erfahrbar machen, die die betreffenden Kompositionen einmal ausgelöst haben müssen. Allerdings gibt er zu bedenken, dass die Deutung der Alten als Zeitgenossen (aus) der Vergangenheit möglicherweise nicht statthaft ist.
„Eine echte Erneuerung der alten Musik müsste die Musik nicht neu, sondern alt erscheinen lassen.”

Das oben verlinkte Stück von Adam O’Ferrill und seines Stranger Days genannten Quartetts hatte die New York Times neulich vorgestellt. Unter den versammelten fünfzehn Tracks aus Pop und Jazz von Taylor Swift bis Moor Mother gefiel mir Ducks am besten.
Und weil ich in DJ-Laune bin, hier noch zwei Videos aus Great Britain, einmal die aberwitzig fingerflinke Band von Squarepusher, Shobaleader One, mit einem längeren Live-Set, und Dua Lipa (wie kann man hier Herzchen einfügen?) mit – na, ihr seht’s ja.

Leisheit, Klang, Verklingen, Stille

„The only one who can speak of boredom is the one who isn’t really paying attention to what’s happening.” – John Cage

Neulich entdeckte ich, dass die Radiogespräche, die John Cage und Morton Feldman in den 60er Jahren geführt haben, im Internet als Audiodateien verfügbar sind. (Ich sah sie erst bei YouTube, aber UbuWeb hat sie auch.) Die zweisprachige Buchausgabe in der Kölner Edition MusikTexte (1993), die ich mir damals gekauft hatte, Radio Happenings, hätte ich wahrscheinlich nie komplett gelesen, aber jetzt habe ich mir vorgenommen, mir die Interviews anzuhören und mitzulesen. – In der Transkription tauchen regelmäßig die Kommentare auf: „(laughs)” und „(both laugh)”. Gehören Humor und Geist zusammen? Ich würde es unbedingt bejahen, aber vermutlich gibt es Gegenbeispiele.
Morton Feldman, der als 18-jähriger in die Firma seines Vaters eintrat, eines Herstellers von Kindermänteln, und daneben auch in der Trockenreinigung seines Onkels arbeitete, erzählte, wie sein Mentor Stefan Wolpe, der aus Nazi-Deutschland emigriert war, in einer Kompositionsstunde an das Fenster seiner Wohnung in Greenwich Village trat, nach draußen wies und von seinem Schüler forderte, er müsse für den Mann auf der Straße komponieren – worauf Feldman auch nach draußen guckte und Jackson Pollock vorbeigehen sah, den Maler des Abstrakten Expressionismus, und, na, für diesen Mann auf der Straße wollte er den Rat wohl beherzigen. (Dies lese ich bei Alex Ross, The Rest is Noise. Listening to the Twentieth Century.)
Feldmans zweiter Mentor war Edgard Varèse. Der hatte ebenfalls einen Rat für seinen Schüler: Musik als Anordnung von Objekten im Raum zu begreifen. Damit konnte „Morty” (wie er wohl allgemein genannt wurde) etwas anfangen.
So kam es, dass ausgerechnet Varèse, dessen Werke reichlich Schlagzeug und oft auch Sirenengeheul verwenden und durch eine enorme Schallhärte charakterisiert sind, Varèse, der als einer der ersten für Schlagzeug solo komponierte (nur Schostakowitsch war schneller), zu einer wichtigen Inspiration für einen Komponisten wurde, dessen Werke selten über den Piano-Pianissimo-Bereich hinausgehen.
Im persönlichen Umgang muss Feldman übrigens ganz anders gewesen sein als sein introvertiertes Klanguniversum es vermuten lässt. Ich zitiere Alex Ross:
„As a conversationalist, he was verbose, egoistical, domineering, insulting, playful, flirtatious, and richly poetic – one of the great talkers in the modern history of New York City.”
In den Radiogesprächen zeigen sich, beinahe spielerisch, die unterschiedlichen künstlerischen Auffassungen Cages und Feldmans. Cage sagt zum Beispiel, Feldman möge sich vorstellen, irgendwo würde seine Musik aufgeführt, und eine Tür zu einem Nebenraum stünde offen, und von dort wäre ein Radio zu hören:
„Let’s imagine, just to make the conversation consistent, that the concert is in a room, and that one door from that room is open, and in the room upon which it opens, radio music is audible. Now, must that door be closed or may it be left open?”
„I would like the door to be left open, but without the radio (burst of laughter from Cage). You see, I want to leave the door open, but of course …”
Während Cage an den Strand fährt, die Leute haben ihre plärrenden Transitorradios dabei, und er denkt: Hey, die spielen meine Musik!

Gut, das scheint mir also ein schönes Kulturprogramm für die Weihnachtszeit.
Und wieder schätze ich mich glücklich, dass ich den Computer einschalten und Rothko Chapel hören kann, oder Dua Lipas Tiny Desk (Home) Concert, oder irgendetwas anderes, das mir gerade einfällt. Vielfalt und Kontrast sind immer belebend.
(Ich würde mich nicht als Fan von Dua Lipa bezeichnen, habe aber Respekt vor ihrer Pop-Startum-Schwerarbeit, freue mich, dass sie gut mit ihren Leuten umgeht und bin ihr dankbar, dass sie viele Menschen, nicht zuletzt in den USA und in England, für eine Weile ihre Misere vergessen ließ und lässt. – Erst gestern las ich in der taz, dass zum Jahreswechsel „bis zu 30 Millionen Menschen” in den USA der Wohnungsverlust droht – ist das zu glauben?!)

Gebt mir mehr Zeit, schreib ich auch mehr.

Wer neugierig geworden ist:
John Cage bei Mode Records, New York
Morton Feldman bei Mode Records, New York
Alex Ross The Rest is Noise (Summary)
John Cage / Morton Feldman Radio Happenings (MusikTexte, mit den Originalaufnahmen)
UbuWeb Sound – Morton Feldman
UbuWeb Sound – John Cage