Der Roman als Sprachkunstwerk. Antje Rávic Strubel, Tupolew 134 (5/5)

Es ist nicht zuletzt die Sprache von Tupolew 134, die die Qualität des Buches ausmacht: genau und wandlungsfähig, beeindruckt sie durch ihre auch rhythmische Perfektion, die zum Lautlesen einlädt. Hervorragend z. B. die Seiten über den Sand:

„Es gab den leichten Flugsand, der besonders schwerelos war, den böigen, nassen Sand, der mit dem Regen auf den Asphalt klatschte, es gab den Sand, der mit Steinen und abgebrochenen Spänen, Radstückchen und Resten von Plastespielzeugen vermischt in den Betonquadern der Spielplätze lag, und solchen, der in ziselierten, fremdartigen Formen wie Eiskristalle an den Fenstern saß. Im Wald war der Sand mit Kiefernnadeln versetzt. Auf den Fußballplätzen war er dunkel, fast schwarz […].”

Antje Rávic Strubel, die eine so gute Zauberin der Entzauberung ist, hat eben zugleich auch Sinn für Poesie: für die Poesie der Konkretion in diesem Fall.

Vieles andere ließe sich rühmend hervorheben, angefangen bei einer famosen Miniatur über „die Unberechenbarkeit der Schalterdamen”, über die genau treffenden Vergleiche und starken Bilder –

„Die Fahrerhäuser verharrten vornübergeklappt wie Menschen, die für eine Viertelstunde ihren Kopf auf eine Tischplatte legen”

„Abends, wenn es still war auf der Landebahn und die Flugzeuge wie ausgestopfte Tiere dastanden”

„Sie starrt in ihrer verrutschten Bluse hinüber zum Zug, wo der Schaffner schon aus der letzten offenen Waggontür hängt wie vom Steigbügel”

„auf einer Waldwiese, in der das Gras nur in der Druckschrift wuchs, die die Kettenfahrzeuge spiegelbildlich in den Boden gestanzt hatten, in spärlichen, hellgrünen Quadraten”

– bis zu den Stellen, wo Strubel gekonnt Schall-Vokabular einsetzt, was eine der schwierigsten Übungen überhaupt ist, die die deutsche Sprache (und jede Sprache) bereithält:

„Nebenan hört er die Schlosser Bierflaschen knacken”

„manchmal fiel der Duschkopf in die Wanne, was ein metallenes Plautzen gab”

„Man hörte den Regen aufs Autodach pladdern.”

Auch der Slang Ronnies, eines Jungen, der sich auf dem Flughafengelände herumtreibt und dort mit Katja zusammentrifft, kommt glaubwürdig rüber und ist bis in die Wortstellung hinein der gesprochenen Sprache abgelauscht („Da haben die sogar Fachleute eingeflogen für”).

In einer Fastfood-Gesellschaft so kompromisslos Slowfood aufzutischen, wie Strubel das tut – und ich denke hier an Johnson, der sich von den Lesern der Mutmassungen wünschte, sie möchten das Buch so langsam lesen, wie er es geschrieben habe – dazu gehört Mut. Und auch der Leser braucht Mut, eben den Mut zur Langsamkeit, auf den Johnson anspielt, um sich in diese anspruchsvolle, gleichwohl bestens goutierbare Lektüre zu vertiefen, die mitreißt, ohne doch in irgendeiner Weise reißerisch zu sein.

Kein Scheinriese, sondern eine wirkliche, verlässliche Größe der jungen deutschen Literatur, bietet Antje Rávic Strubel mit Tupolew 134 einen sprachlich perfekten, psychologisch und historisch genauen Roman, der „slow drug”, Spiegelkabinett, Schattenhöhle und Zeitmaschine in einem ist. Wer sich hineinbegibt, hat’s mit dem Herauskommen nicht eilig. Und sowieso: der Roman lässt einen so schnell nicht los. eioeu

[Schluss der Kritik, die am 1.2., 2.2. und 5.2.2007 auf dem Buchhandlungs-Blog Monnier Beach erschienen war und nun nach vier Jahren zum ersten Mal wieder online nachzulesen ist.]

„Außerhalb der Gefühle erzählen, ohne die Aufregung vom Band.” Antje Rávic Strubel, Tupolew 134 (4/5)

Strubel, Tu-134Dem instabilen, erst sich aufhäufenden, dann einsackenden Kegel einer Sanduhr vergleichbar, wird in Tupolew 134 Wahrheit in einer fortlaufenden Indizienzufuhr rekonstruiert und dekonstruiert, und wie in Handkes Hausierer bleibt dabei die Aussagekraft der Beweisstücke letzten Endes fraglich.
Zum Beispiel erscheint nach ca. dreißig Seiten erstmals das Motiv einer Brauseflasche:
„Brotkrümel lagen auf dem Tisch, daneben lag eine umgekippte Brauseflasche”.
Dies wird nach achtzig Seiten wiederaufgenommen:
„Die Nummer stand auf einem Zettel, an dessen Rand Brauseflecken klebten”, und dann noch einmal, wiederum achtzig Seiten weiter: „‚Ich möchte lieber Brause statt Tee -’ […] Irgendwo an dieser Stelle taucht eine Brauseflasche auf”. – Das Beharren auf diesem Detail und die kriminologische Genauigkeit, mit der es protokolliert wird, täuschen eine deiktische Komponente vor, die möglicherweise sogar als objektiv gegeben vorstellbar ist; trotzdem ist die Brause eine ‚kalte‘ Spur, weil nicht geklärt werden kann, wofür sie ein Indiz sein könnte.

Die Kunst, die Strubel auf die Form verwandt hat, macht auch die Schwierigkeit für den Leser aus, der, wie beim Memory, herauszufinden hat, wo das passende Gegenstück zu der ‚Karte‘ liegt, die er gerade aufgedeckt hat. – Liest man etwa den Satz: „Und wieder flogen Tauben vor ihr auf”, wird man unweigerlich auch die Stelle lesen wollen, auf die sich dies „wieder” bezieht, und das bedeutet Blättern, Blättern …

„Sie wird sich nicht an die Kästchen halten, sie konnte noch nie geradeaus schreiben.”

So heißt es von Katja, und es gilt auch für Strubel.

Diese Verweistechnik, die je nach Temperament als nervend oder als Kitzel empfunden werden mag, zwingt den Leser zur Adoption der agnostischen Dreifaltigkeit von „Distanz, Draufsicht und Ernüchterung”, von der an einer Stelle die Rede ist, und die auch den weitgehend ruhigen Erzählmodus bestimmt:

„Außerhalb der Gefühle erzählen, ohne die Aufregung vom Band.”

Was Gottfried Benn für die Lyrik einfordert – und Thomas Kling wird nicht müde, es zu wiederholen und für die heutige Dichtkunst anzumahnen -, nämlich „das Material kalt [zu] halten”, das appliziert Strubel auf den Roman.

Die Provokation des ‚zertrümmerten‘, achronologischen Schreibens – abgesehen davon, dass es sich um eine Entwicklung der historischen Avantgarden handelt, was im Kontext einer Literatur, in der es „an Torhütern nicht mangelt” (Michael Lentz), an sich schon ein Statement ist -, besteht darin, dass es mit einem Mal Lesen nicht getan ist; mindestens eine zweite, im Vergleich zur ersten noch langsamere, Lektüre ist erforderlich, um dem Roman ansatzweise gerecht zu werden. Im Umkehrschluss heißt das aber auch, dass Tupolew 134 dem wiederholten Lesen standhält, dass seine erzählerische Substanz bei Zweit- und Drittbegehung kein bisschen bröckelt. Im Gegenteil, sie nimmt an Dichte noch zu. – SCHLUSS FOLGT. eioeu

„Jedenfalls erzähle ich Ihnen das so”. Antje Rávic Strubel, Tupolew 134 (3/5)

Foto: (c) Gennady Misko / Quelle: Wikipedia Creative Commons http://bit.ly/1MOBWVG
Foto: (c) Gennady Misko / Quelle: Wikipedia Creative Commons http://bit.ly/1MOBWVG

Vollends ist Misstrauen geboten, wenn sich gleich zu Beginn erweist, dass es eine Romanfigur ist,
genau gesagt: ein im Roman figurierendes Ich, das dieses dreistufige Modell ins Spiel bringt, und zwar im Gespräch mit einer Journalistin, welche über die Geschichte der Flugzeugentführung recherchiert:

„Sie gehen hoch und runter und ganz runter und hoch, und auf jeder Etage stehen die, die nicht wissen, wo sie hin sollen. Sie starren aus allen drei Ebenen der Zeit.”

Diese namenlose Figur bringt auch das Bild vom „Schacht” auf, eines der Leitmotive des Romans, das die Idee des Sichvertiefens in die Vergangenheit überraschend weitgehend konkretisiert:

„Wenn überhaupt was für Sie dabei herausspringen soll, müssen Sie mir folgen. Sie müssen schon rein in den Schacht.”

Bei der im Text selbst aufgeworfenen Frage, „wer da spricht”, möchte man noch ein bisschen länger verweilen. Verbirgt sich die Erzählerin dahinter, Katja möglicherweise, oder ist „ich” das Inkognito der Romanfigur gewordenen Autorin (die mit der Schriftstellerin Strubel so viel oder wenig gemein hätte wie die Figur „Paul Auster” in der New York Trilogie mit Paul Auster), oder treffen sich in dieser zweiten Variablen des Romans gar alle drei: Erzählerin, „Strubel” und Strubel?
Wer sagt:
„Glauben Sie nicht, daß ich mir das ausgedacht habe. Glauben Sie noch weniger, daß es so passiert ist” – und zu wem wird es gesagt?

Die Nacherzählung des Geschehenen – das die Autorin über Aktenstudium und Zeitungslektüre gründlich recherchiert hat – erfolgt vor dem Hintergrund des Paradoxons der kriminalistischen Rekonstruktion, das sie in Fremd Gehen darlegte.
Dort heißt es über die in einem Morddelikt ermittelnden Beamten:

„Sie können niemals einen Fall aufklären, weil ein Fall erst dadurch entstand, daß sie ihn rekonstruierten, aber mit ihrer Rekonstruktion verwischten sie die Fakten, und am Ende hatten sie nur geklärt, was sie selbst erst entworfen hatten.”

Mit der Frage nach der Rekonstruierbarkeit einer Tat hängt die nach der Rechtmäßigkeit von nachträglichen Schuldzuweisungen zusammen, die an gleicher Stelle thematisiert worden war.

„Die Literatur tut ja immer so, als hätte es nie harmlose Menschen gegeben. Alle haben irgendwie an irgendwas schuld, und immer natürlich in der Vergangenheitsform, wo das sowieso keiner mehr nachprüfen und erst recht nicht mehr auseinanderhalten kann, wo die Schuld an wem durch was jetzt verübt worden ist, die Literatur schon gar nicht.”

Strubel ist, so kann man daraus schließen, nicht an der, ohnehin nicht zu erreichenden, scharfen Konturierung des Gegenstands oder Themas interessiert – Wie war es denn nun mit diesem Verrat? -, sondern an der genauen Modellierung der Schatten, in denen dieser Gegenstand notwendig verharrt.
Ironischerweise greift sie zu diesem Zweck auf ein irreal und halluzinatorisch / hypnotisch wirkendes Heranzoomen zurück, das noch die letzte Klarheit beseitigt.
Dem Leser geht es mit fortschreitender Lektüre wie einem, der so lange ein Grün fixiert hat, dass er Rot sieht, wenn er auf Weiß blickt, und er reibt sich die Augen und zögert, noch irgendeine Wahrheit anzuerkennen. Alles wird fraglich, außer das Infragestellen selbst.

Beckett, erzählt der Theaterkritiker Georg Hensel, liebte das deutsche Wort „Zweifel”, das ihm vielsagender als das englische „doubt” erschien, und zwar wegen der in ihm enthaltenen Zweizahl.
Man wird an Becketts Begriffsdeutung erinnert, wenn es heißt:

„Wenn zwei Personen aus unterschiedlichen Gründen denselben Satz sagen, relativiert sich seine Glaubwürdigkeit.”

Nicht seine Glaubwürdigkeit vielleicht, aber seine unzweifelhafte Eindeutigkeit.

„Sie sollten mir nicht vertrauen”

Er ist gewarnt, der Leser. „Sie sollten mir nicht vertrauen”, sagt die Erzählerin, bevor es noch richtig losgeht, und gibt in der Folge wiederholt deutlich zu verstehen – u. a. mittels häufiger, sich widersprechender Hinweise auf die Jahreszeit -, dass man auf sie nicht bauen kann. Sie ist der verkörperte V-Effekt, begnügt sich nicht mit der dienenden Rolle des Erzählers klassischen Typs, der hinter der Handlung verschwindet wie hinter einer Tapetentür, sondern sie platzt immer herein, läuft in die Kamera, „stört das saubere Bild”, exponiert sich als eine gestaltende Erzählerin, die die Geschichte und Vorgeschichte der Flugzeugentführung nicht bloß reportiert (zumal es die Geschichte nicht gibt), sondern sie ‚macht‘, zurechtmacht, aufhübscht, frisiert. (So wie der Rezensent einmal an einem historischen Photographenladen im kanadischen Victoria gelesen hat: „If you have beauty, we can take it. If you have none, we can fake it.”)
Der vermeintliche Analytiker des Geschehens entpuppt sich als Demiurg:
„Jedenfalls erzähle ich Ihnen das so.”
Das kommt zweimal, einmal mit dem Zusatz:
„Damit es leichter nachzuvollziehen ist”.
Und weiter:
„Die Frage ist doch, wer die Hoheit des Erzählens hat.”
– FORTSETZUNG FOLGT. eioeu

„Da geht’s gleich richtig in den Schacht”. Antje Rávic Strubel, Tupolew 134 (2/5)

[Fortsetzung der Kritik; deren ersten Teil können Sie, wenn Sie Lust dazu haben, hier lesen. Achtung:
Es folgen noch drei weitere Teile, denn es ist ein kompliziertes Buch.]

Tricky Way

Aus dieser Kritik an der anmaßenden, allzu selbstsicheren Schreibhaltung des „So war es” zieht Strubels Roman die Konsequenzen. Er tut es auf eine Weise, die inhaltlich der Kompliziertheit der zugrunde gelegten Entführungsgeschichte und formal den Errungenschaften modernen Erzählens Rechnung trägt: „War es so?” – Forsches Drauflosfabulieren wird von Strubel verschmäht. Gewiss, auch Tupolew 134 entwickelt Tempo, arbeitet mit suspense (und nicht zu knapp), doch die Fragezeichen folgen auf dem Fuß. Strubel wählt also den schwierigen Weg und inszeniert eine raffinierte konstruktivistische Schnitzeljagd von labyrinthischer Vertracktheit, die den Leser immer tiefer in die Geschichte hineinbugsiert und ihm irgendwann erklärtermaßen den Rückweg abschneidet. Dem ausgebufften Procedere entspricht eine durchgehende subtile Krimispannung, die das Buch gleichsam unter Strom setzt. Die Wörter knistern, wie Pullover (nachts im Zimmer).

Wer Wo Was Wann

Vier Protagonisten stehen im Mittelpunkt des Romans: Katja Siems, Lutz Schaper, Hans Meerkopf und Verona, Katjas Freundin, mit der sie „ganz schön dicke Tinte” ist. Alle vier sind durch eingestandene oder uneingestandene Liebe aneinandergebunden, und das ist die Crux.

Verona hat als einzige keinen Nachnamen, sie ist der Joker des Quartetts.

„Verona ist eine Figur, von der noch unklar ist, wie sie eingesetzt wird”

heißt es gleich zu Beginn.
Ebenso wie die 24-jährige Katja und der ältere Lutz, gehört sie zur Belegschaft eines Automobilwerks im brandenburgischen Ludwigsfelde.

Hans dagegen kommt von außen, aus Dortmund; er arbeitet für eine westdeutsche Zuliefererfirma und soll den sachgemäßen Einbau von Fahrzeugteilen beaufsichtigen. Er hat eine Affäre mit Katja; die erotische Spannung, die es anfangs zwischen ihnen gibt, scheint jedoch nicht von langer Dauer. – Auch die Freundschaft von Katja und Verona (die keine Affäre miteinander haben) ist erotisch getönt.

Eines Tages setzt Katja Lutz einen Floh ins Ohr. Sie sagt ihm:

„Ich lebe nicht mehr gern so.”

Ein Fluchtplan wird ausgeheckt. In Danzig – im Buch stets Gdansk geheißen – soll Hans den beiden gefälschte Papiere für die Ausreise zustecken, aber Meerkopf kommt nicht, man hat ihn aus dem Paris-Leningrad-Express heraus verhaftet. Vielleicht ist ihm die Stasi selbst auf die Schliche gekommen, vielleicht hat ihn jemand verraten. Der Roman bleibt die Antwort darauf schuldig, und die Spekulation darüber, wer es – wenn – gewesen sein könnte, treibt den Leser noch dann um, wenn er das Buch längst aushat. Sollte am Ende Antje Rávic Strubel selbst ‚Verrat‘ an Katja und Lutz geübt haben, um die Geschichte so erzählen zu können, wie sie es wollte?

Meerkopf ist also aus dem Rennen, da ist es „günstig”, dass ein Bauchladenverkäufer „zu Hilfe” kommt. Katja und Lutz kaufen eine Spielzeugpistole. Die brauchen sie.

„Da geht’s gleich richtig in den Schacht”

Schlägt man das Buch auf, sieht man gleich, dass Strubel ihre Geschichte nicht geradewegs von A nach B erzählt. Es gibt auch keine numerierten Teile, keine Kapitel-Gliederung. Vielmehr steht der Leser vor einem sorgfältig arrangierten ‚Scherbenhaufen‘. In Fettungen stechen immer wieder die präpositionalen Bestimmungen „unten”, „ganz unten” und „oben” hervor und bieten erste Orientierung.
Dem Klappentext war bereits zu entnehmen, dass sich der Roman „dreier Zeitebenen” bedient, nämlich

„der Vorgeschichte der Flucht, der folgenden Gerichtsverhandlung auf dem Flughafen Tempelhof und der Erinnerungsarbeit 25 Jahre danach”.

Dies verführt dazu, die mit „ganz unten” überschriebenen Passagen (32 an der Zahl) mit der Vorgeschichte in Verbindung zu setzen, „unten” (42) mit der Flucht, Entführung und Verhandlung, „oben” schließlich (51) mit Ort und Zeit der Recherche.
Sind diese den einzelnen Erzählabschnitten jeweils vorangestellten Wegweiser aber tatsächlich die deutlichen Marker, als die sie sich präsentieren?
Ein Satz wie:

„Katja wird gewußt haben, daß es zu spät war”,

der dem „ganz unten”-Erzählstrang zugeordnet ist, gehört ja, so gesagt, nach „oben”.
Denn die Zweifel werden immer von der Erzählerin aufgebracht, die 2003 nicht wissen kann, was 1978 war. Demnach scheinen Form und Handlung nicht so glatt synchronisiert zu sein, wie man denkt. – FORTSETZUNG FOLGT. eioeu

Mit dem Kitt des Zweifels die Wahrheit dichten. Antje Rávic Strubel, Tupolew 134 (1/5)

TupolewIn ihrem bisher letzten Roman gibt Antje Rávic Strubel die Scheherezade einer ernüchterten Zeit: „Bitte keine Märchen”

„Sie knallt nicht, sie strahlt nicht, sie pflanzt keine Melodie ins Hirn, sie ist nicht offensiv. Stattdessen kommt sie als langsame Erschütterung, nagt, zehrt, verweigert Plötzlichkeit. Lass sie wirken wie die ‚Slow Drug’, von der P J Harvey singt”

schreibt Kritiker Abs in der Musikzeitschrift Spex in seiner Rezension des 2004 erschienenen Albums Uh Huh Her der britischen Rockmusikerin. (Besprechung von Graham Bookish folgt.)

Ähnliches ließe sich von Antje Rávic Strubels jüngstem Buch Tupolew 134 sagen, ihrem vierten, nach den Romanen Offene Blende und Unter Schnee (beide 2001), die nach New York bzw. ins tschechische Harrachov führen, und der vorzüglichen, leider wenig beachteten, ‚Berliner‘ Erzählung Fremd Gehen. Ein Nachtstück. – Eine stattliche Bilanz für die erst 32-jährige, mehrfach preisgekrönte Autorin, die zuletzt mit einem Hörspiel für den Deutschlandfunk hervortrat (Kältere Schichten der Luft, 2006).

Der Roman Tupolew 134, dem als Motto ein rätselhafter altertümlicher Grabspruch voransteht – „Nun suchet man nicht mehr an den Haushaltern, denn daß sie treu erfunden werden” -, wurde durch eine reale Begebenheit angeregt.
Der Fall wird im Incipit knapp referiert:

„Am 30. August des Jahres 1978 wird vor dem Hintergrund verschärfter Sicherheitsbestimmungen im Rahmen des ‚Europäischen Übereinkommens zur Bekämpfung des Terrorismus’ eine polnische Linienmaschine der Fluggesellschaft LOT vom Typ Tupolew 134 mit 62 Passagieren an Bord auf dem Flug Danzig – Schönefeld nach Tempelhof entführt.”

Ein dankbarer Plot für einen Thriller oder eine literarische Reportage – doch Strubel folgt lieber dem Wink, den James Joyce einst (unnötigerweise) der unkorrumpierbaren Djuna Barnes mit auf den Schreib-Weg gab, dass nämlich das Außergewöhnliche Sache der Journalisten sei und Schriftsteller sich der Darstellung des Alltäglichen widmen sollten. Sie blickt folglich hinter die Schlagzeilen und erzählt in einer ruhigen, rhythmischen Prosa eine komplexe

„Geschichte über Flucht, Verrat und Illegalität, über die politischen Konsequenzen dieser Tat, über den Wunsch, das alte Leben hinter sich zu lassen, und vom Unvermögen, vorgeprägten Lebensmustern zu entkommen, über Sehnsucht und die Vergeblichkeit von Liebe außerhalb der Konvention.” (Verlagstext)

Die journalistische Perspektive wird in Tupolew 134 gleichwohl mitgedacht und mitgeschrieben.
So folgt auf die zitierte Passage, immer noch auf der ersten Seite, und ebenfalls im historischen Präsens, ein wörtliches Zitat aus dem Spiegel, eine Nahaufnahme aus dem Flugzeuginneren, deren ‚packender‘ Stil („Luftpirat”, „… vom Sitz zerrt”, „setzt ihr … an den Kopf”) der neutralen Sachlichkeit der anfangs gehörten Erzählerstimme diametral ist, die andererseits so sachlich vielleicht gar nicht ist. Wenn es nämlich im Nachsatz heißt: „schreibt das Nachrichtenmagazin Der Spiegel in seiner Ausgabe vom 21. Mai 1979”, dann scheint hinter der offenbar ungerührten Nüchternheit spöttische Ironie aufzublitzen. Die Amtlichkeit, die das Wort „Nachrichtenmagazin” behauptet, wird ja gerade durch das aufgezeigte Beispiel, wie eine Meldung ‚aufgesext‘ wird, um sie dem Leser besser zu verkaufen, Lügen gestraft. – FORTSETZUNG FOLGT. eioeu

[Wiederveröffentlichung von Monnier Beach, 1.2.2007]