Neulich in einer Kirche der Evangelen. Im Glockenturm wurde ein Fassbinder-Film gezeigt, Angst vor der Angst.
Draußen ein Zettel mit Handy-Nummer: Nach 19.00 Uhr bitte anrufen.
Es ging mehrere Treppen hoch, am Ende der Treppen über eine Metalltreppe weiter nach oben, ins Gebälk. In den Nischen Kerzen, auf den Stufen Staub. Auf einem Absatz musste ein Zettel unterschreiben werden.
Der Vorführraum eine Art Tenne, Kühlschrank mit Bier, Wein, die Glocke halb hinter Gerüsten verborgen, eine Holzplanke, schräg über Rohre gelegt.
Der Wind schlug wie ein loses Laken um den Turm.
„Wird hier renoviert?”
„Nein.”
Nachher traten einige von uns ans Geländer, die Tür knallte zu.
Schöne Aussicht.
Wir froren.
Einer erbot sich, Tee zu machen, war lange weg, kam dann mit zwei Thermoskannen.
Links eine klapprige Tür zum Gewölbe. Zwei zogen Teller mit Essen hervor, das sie bis zum Beginn der Vorstellung nicht geschafft hatten – aßen sie jetzt kalt weiter.
Gab auch Kartoffeln. (Danke, kein Hunger.)
Tags drauf im P103, draußen. Ein älterer Mann suckelte sein Käffchen, hatte wohl die glorreichen Zeiten der Potse erlebt, er strahlte eine abgeblätterte Würde aus.
Unser beider Gesichter hellten sich auf, als unter den Tischen her ein Eichhörnchen vorbeihuschte, hin und zurück.
[Unter Evangelen, 12.7.2015. Im letzten Satz ein „sehr” gestrichen, „unseren” durch „den” ersetzt.]
Schlagwort: Moabit
Schön Blog schreiben
Auf der Suche nach einem alten Beitrag stieß ich auf diesen hier von Oktober 2015. Damals wohnte ich in einer WG in der Perleberger Straße 41 und blickte aus dem vielleicht dritten Stock auf die Baustelle der ehemaligen Schultheiss-Brauerei, die damals zu einer Shopping Mall umgebaut wurde – daran fehlt es ja in Berlin. Es ist die einzige Idee, die der Investor hat, und er wiederholt sie, wo er nur kann („Bekannt ist Huth hauptsächlich für das Planen und Bauen von Einkaufszentren.” – Wikipedia)
Gewöhnliche Baustellenkaputtheit
Der Bagger hackt in den Boden, kippt, kippelt die Schaufel, rüttelt den Sand durch den Rost, dreht steif seitwärts, wirft Steinbrocken ab. Der Motor malocht, aber die Ketten stehen.
Hinter dem Schuttberg die angenagten Mauern, abgeplatzter Putz, weiß, ocker, lindgrün, blassgelb, die Farben in einem fort angeraunzt von Kälte und Nässe, so sehen sie aus. Eine 12 ist deutlich zu lesen und ein paarmal, neonfarben: STOP. Wandlöcher, Fensterlöcher, Türlöcher unter dichtem Himmel. Das karge Kra-kra der Nebelkrähen und der schmutzige Rauch, der da hinten schon aufsteigt, ergeben ein schlüssiges Bild und ein einsilbiges Wort. Manchmal landet eine Krähe auf der rauhgrünen Zunge der Straßenlaterne dort unterm Fenster und lässt sie stärker erzittern. Unbehaglich sieht das aus, kalt, doch gerade richtig für diese ernsten, befrackten Vögel, nach denen ich mich immer umdrehe, als gäb’s da was zu lernen, als wäre es wirklich möglich: sich etwas abgucken, Krähenkonzentration, Krähenfokussierung. Kommt kein Sterbenswort von dieser Zunge, nur abends, nachts, schweigt sie ihr Licht, da sitzen die Arbeiter längst in ihren Containern und essen Fritten und zischen ein Bier und suchen mit dem nackten Fuß nach dem verlorenen Pantoffel.
Natürlich kann man in dem Stil nur kurze Sachen machen, maximal. Heute, und längst, schreibe ich nicht mehr schön, was in Ordnung ist, weil ich Im Dickicht mehr oder weniger als Tagebuchersatz sehe – Erinnerungssachen mit Musik. Da reicht es fast, wenn die Orthographie stimmt. Vielleicht sollte ich mir aber auch wieder mehr Mühe geben. Hm.
Gestern sehr schönes und nachdenklich stimmendes Konzert des Jerusalem Quartet im Kammermusiksaal der Philharmonie. Auf dem Programm:
• Sergej Prokofjew, Streichquartett Nr. 2 F-Dur op. 92 (1941, UA 1942)
• Dmitri Schostakowitsch, Streichquartett Nr. 10 As-Dur op. 118 (1964, UA 1964)
• Béla Bartók, Streichquartett Nr. 6 Sz 114 (1939, UA 1941)
Dem Begleitheft ist zu entnehmen, dass Bartók zuerst „ein volkstanzbasiertes Finale” vorgesehen hatte. Nach dem deutschen Überfall auf Polen am 1.9.1939 schrieb er stattdessen das Mesto aus – die Vortragsbezeichnung heißt übersetzt: wehmütig, traurig, betrübt -, das den übrigen Sätzen jeweils als Motto vorgeschaltet ist.
Am Schluss des Konzerts wandte sich der Bratschist, Ori Kam, ans Publikum und sprach von den zwei Fragen, die bei ihren Auftritten in den USA immer kämen: Are you a band?, und: Where do you come from?
Auch wenn das Ensemble in Jerusalem gegründet wurde – der Cellist, Kyril Zlotnikov, kommt aus Minsk, der zweite Geiger, Sergei Bresler, aus Charkiw, und der erste Geiger, Alexander Pavlovsky, aus Kyjiw. Als Zugabe spielten sie dann passenderweise ein ukrainisches Stück, etwas kitschig, vor allem im direkten Vergleich zum Bartók-Quartett, aber dennoch dem Abend angemessen und seiner würdig.
Das Publikum hatte im ersten Streichquartett noch dazwischengeklatscht; im weiteren Verlauf des Konzerts blieb es weitgehend still, von Husten und Niesen abgesehen – die Musiker hielten auch Beifallskundgebungen mit ihren nach den einzelnen Sätzen florettartig erhobenen Bögen und mit unbewegter Pose in Schach.
Zum Schluss ein bisschen Klatsch und Tratsch.
Nachdem es bisher immer nur geheißen hatte, unser Büro würde von der Frankfurter Allee in Nähe Jannowitzbrücke umziehen (voraussichtlich irgendwann um Mitte des Jahres), wurde die künftige Bürofläche heute als BEAM namhaft, wie das umgebaute historische Schicklerhaus von anno 1910 demnächst heißen wird. „Neuer Glanz auf altem Stein”. Und wem gehört’s? Dem österreichischen Immobilientycoon René Benko!
Vermutlich nicht billig das Ganze.
Meine Reviews, sofern sie noch ausstanden, habe ich rechtzeitig zu heute morgen eingereicht, es hat mich, bis auf drei Stunden Schlaf, eine Nacht gekostet.
Im Deutschlandfunk (nachts) eine meiner Lieblingsstimmen, Aglaia Dane. Die möchte ich gern öfter hören! – vielleicht auch mal, und dauerhaft, an Stelle der frohgemuten Knatschigkeit einer Martina Sturm-Wende. Und vielleicht auch mal tagsüber, wenn ich unter den Lebenden bin.
Es sieht später aus als drei
Yvette hatte nur noch einen Termin freigehabt, um halb zehn, und obwohl es immer ein ganzes Stück zu fahren ist, habe ich zugeschlagen. Sie, mit rosa Haaren, stand mit einem Grüppchen Nachbarn vor dem Salon, den glotzäugigen Bruno an der Leine, Nachbesprechung einer Pöbelei durch einen Drogentypen, der einer alten Dame die Krücken weggehauen hatte, auch Yvette hatte was abbekommen.
„Die wachsen?!” sagte sie kopfschüttelnd in den Spiegel.
Die Polizei kam und kam nicht, das Geschimpfe ging schon los, da stellte sich heraus, dass der eine Nachbar, der angerufen hatte und jetzt in den Salon trat, nicht durchgekommen war, aber das hat er keinem gesagt, oder erst nach einer Viertelstunde, das hörte ich dann mit. Yvette verdrehte die Augen und wurde einsilbig. „Mit der Kommunikation muss noch besser werden nächstes Mal”, stellte der Nachbar fest und schloss vorsichtig die Glastür hinter sich. „Mannmannmann”, sagte ich, Yvette machte mit der Schere eine saubere Kurve um mein Ohr.
Corona war natürlich auch ein Thema. Dass die Coronaampeln alle auf Grün stehen: kann keine Rede von sein! (Möglich durchaus, so wie die Berliner social distancing interpretieren. Schon die Bezeichnung Mund-Nasen-Bedeckung ist nicht zu vermitteln, die Leute haben ihre Maske wie ein Pflaster unterm Kinn, oder gerade eben bis unter die Nase gezogen, und Verweigerer gibt es auch.)
Bruno schlief. Der Hund wird schnell müde.
Im Salon habe ich nur wenige Veränderungen wahrgenommen. Anstelle der üblichen Kaffeebecher stand neben der Kanne eine halb aus der Plastikfolie gepulte Stange Pappbecher auf dem Tisch, außerdem die Plastikpackung mit Kaffeeweißer und Plastikstäbchen zum Umrühren. Das Silberlöffelchen für den Kaffeeweißer war aus dem Verkehr gezogen worden, aber sachte kippen geht ja auch.
Florian Neuner Inseltexte
„Wenn an Büchern wie meinen überhaupt jemand etwas verdient, dann der Gestalter.”
Florian Neuner
Ich hab hier fünf abgebrochene Bücher, das kann ich ja gar nicht leiden. Also werde ich sie jetzt eins nach dem anderen – es brauchte wohl die Erklärung, dies nicht zu tun – fertiglesen, angefangen mit den Inseltexten von Florian Neuner. Passt ja auch. (Bis Helgoland war ich gekommen.) Der letzte, noch ausstehende Text heißt „Fließtext Emscherpassage. Annäherung an die Insel”.
Warum ich angefangen habe: Ich hatte noch nie was von Florian Neuner gelesen und wollte das nun einmal tun.
Warum ich aufgehört habe: Konzentrationsstörungen, (weitgehendes) Fehlen eines Handlungsfadens – sodass ein Leser auf jeder Seite vom Pferd fallen kann – und will er dann wieder aufsteigen?
Meiner Einschätzung nach ist Florian Neuner ein writer’s writer, übrigens nicht schwer zu lesen, warum hatte nicht schon längst ein anderer zugegriffen? [Mein Chef hatte das Buch sechs Jahre lang in seiner Buchhandlung liegen, bis ich es kaufte.] Aber ich kann mich irren.
Mich interessieren seine Fragen, wie ein Text entsteht, wie man schreiben kann, wenn einem nichts einfällt, oder wenn man weiß, dass alle schon alles gesagt haben.
„Wäre ich gezwungen, mein ‚Konzept’ zu skizzieren, ich würde sagen, dass ich mich an einem Schreiben ohne Einfall versuche, bzw. mich dazu zwinge, über den Punkt hinaus weiterzuschreiben, an dem mir nichts mehr einfällt”, heißt es ziemlich zu Beginn des ersten Textes, „… oder: verflucht!”, der dem rings von Wasser umgebenen Berliner Stadtteil Moabit gewidmet ist (der zum Bezirk Mitte gehört). – Die Überschrift bezieht sich auf einen der Deutungsversuche des Namens Moabit: Er könnte sich von Moor oder Moos herleiten, oder auch, wegen seines unfruchtbaren Bodens, von terre maudite, verfluchtes Fleckchen Erde, frei übersetzt.
Der Autor als Produzent ist immer mit im Bild, wenn er durch Moabit oder Český Krumlov spaziert (auch als Krumau bekannt, aber Neuner vermeidet diesen Namen), in Kneipen sitzt, Bier trinkt und schreibt, sich auf Helgoland gegen den Wind stemmt, oder – ausnahmsweise per Fahrrad – im Ruhrgebiet unterwegs ist.
Da lese ich jetzt noch.
Auch der Stil ist mäandernd, flanierend („Aber ich schweife ab – falls man das überhaupt sagen kann, denn dazu müßte es ja wohl einen Hauptstrang, gar so etwas wie eine Handlung geben, von der aus diese Abschweifungen erfolgen”). Das haut im ersten Text besser hin als im zweiten, der etwas zäh ist (viele Anstreichungen aber). Und war es nicht L., die gesagt hat, dass das – von Neuner viel genutzte – „&”-Zeichen auf sie immer wie ein Stop-Zeichen wirkt? Gut, das nimmt jeder vielleicht anders wahr.
„Das Werk ist die Totenmaske der Konzeption”: dies Zitat von Walter Benjamin ist mir im Kopf, ich hab’s jetzt nicht noch mal nachgeschlagen, wo steht es überhaupt? Bei Florian Neuner gibt’s aber keine Totenmaske (oder war es Lebendmaske?), die Konzeption ist das Thema (kann man das sagen?), aber jetzt auch nicht als etwas in Stein Gemeißeltes (das wäre auch wieder zu nah am Grab, zu werkmäßig, und das Werk ist doch egal!), sondern mehr in der Art von Konzeptpapier. Da wird auch manches wieder durchgestrichen und so, durchgestrichen, stehengelassen.
Der „Helgoland”-Text ist als Collage gestaltet, das Ruhrgebietsstück, wie der Titel schon sagt, als Textband angelegt. Es umfasst knapp vierzig Seiten und ist ganz auf die rechte Buchseite gelegt, während die linken Buchseiten – noch mal vierzig – Ergänzungen bieten, s/w-Fotos, kleine Schlenker („Gaststätte Turf”, „Am Herner Meer”, „Eine Trinkhalle verschwindet”).
Aber man soll nur über das schreiben, was man gelesen hat, und so weit bin ich jetzt noch nicht.
Florian Neuner, Inseltexte [„… oder: verflucht!”, „An der böhmischen Küste”, „Helgoland”, „Fließtext Emscherpassage”]. 184 Seiten, Klappenbroschur. Klever Verlag, Wien 2014. 17,00 Euro