Robert Mattheis hat mein Blog schon einmal mit einem Gastbeitrag beehrt, hier legt er nach – herzlichen Dank dafür!
Wir kennen uns aus Kölner Zeiten. Vor einigen Jahren las er in meiner gewesenen Buchhandlung Reul (aus seinem Roman Hohlkörper). Es war eine schöne Veranstaltung. Ohne Murren hat der Autor später auf dem Boden geschlafen, die schwierigen Umstände, die mein Leben zu jener Zeit prägten – ich habe sie im Beitrag Privatentnahme skizziert -, ließen die komfortable Unterbringung im Goldenen Löwen leider nicht zu.
Übrigens gibt es ein neues Buch von Robert Mattheis: Ich sah die blödesten Idioten meiner Generation. Ich empfehle es!
Hier nun aber Die Thanatophoren, ein durchaus ungemütlicher Text –
Die Thanatophoren oder: Hunde, wollt ihr ewig leben?
Es wird Abend, und die Thanatophoren schwärmen wieder aus über den Dächern der Stadt. Diese Idee kam mir irgendwann, nachdem ich in „What Should We Be Worried About?“ … oder nein, fangen wir anders an.
Kennen Sie John Brockman?
Sein deutscher Verlag, S. Fischer, nennt ihn einen „Wissenschaftsaktivisten“, was ein schön vieldeutig schillerndes Wort ist. Denn von John Brockman stammt die Idee der „Dritten Kultur“, „die großspurig inszenierte Verschmelzung von Geistes- und Naturwissenschaft im Dienst der digitalen Zukunft“, wie die FAZ sie im Vorspann zu einem Text des Techkritikers Evgeny Morozov nennt. Des Weiteren ist Brockman der Gründer und Herausgeber von edge.org, einem Tummelplatz der avanciertesten wissenschaftlichen Ideen unserer Zeit.
Er ist ein brillanter Mann und einer der wichtigsten Literaturagenten der USA.
Daneben war er allerdings auch mit Jeffrey Epstein … nun, es gab Verbindungen zwischen John Brockman und dem infamen Investmentbanker (der sich offenbar im gleichen Maße für Durchbrüche in den Wissenschaften wie für Massagen durch minderjährige Mädchen interessierte). Es gab allerdings auch Verbindungen zwischen Epstein und dem Massachusetts Institute of Technologie (MIT), es gab Verbindungen zwischen Epstein und der Harvard University …
Naja, vielleicht ist auch das ein Gesetz unserer Gesellschaft: Vom Hochplateau geht es steil abwärts.
Wie auch immer. John Brockman gibt jedenfalls regelmäßig Sammelbände mit Beiträgen von Menschen heraus, die man früher als „erlauchte Geister“ bezeichnet hätte, die auf jeden Fall aber helle Köpfe sind, im PR-Sprech „today’s leading thinkers“, Leute wie Steven Pinker, Mary Catherine Bateson, Nassim N. Taleb, Natalie Angier, Jaron Lanier, Barbara Tversky, Daniel C. Dennett und Richard Dawkins, aber auch Ai Weiwei oder Jesse Dylan, Filmemacher und Sohn von Bob Dylan. Ein illustrer Kreis.
Brockman veranstaltet auch regelmäßig intellektuelle Bankette, auf denen die Klugen die noch Klügeren kennenlernen können und die Genies Journalisten.
Dabei stehen die von Brockman kuratierten Sammelbände immer unter einem angeschärften Motto (das auf Deutsch dann oft wieder entschärft wird), beispielsweise: „What to Think About Machines That Think?“, „This Idea Must Die“, „This Explains Everything“ oder „This Will Make You Smarter“.
Nun, jedenfalls stieß ich in „What Should We Be Worried About?“ auf eine alarmierende Zahl. Demnach würden meine Kinder sich in einer Welt wiederfinden, die zu mindestens einem Fünftel von Dementen bevölkert wäre.* Zwei davon wären eventuell meine Frau und ich. Mir schien das eine besonders gruselige Form von Zombieland zu sein, das da heraufdämmerte.
Die Körper machen weiter.
Aber der Geist in der Maschine hat sich verflüchtigt.
Auf der Fahrt ins Büro fiel mir eines Morgens die Lösung für dieses Horrorproblem ein: die Thanatophoren**.
Eine Truppe von Kriegern, die staatlich beauftragt werden, Leuten beim Erreichen des 65. Lebensjahres den Saft abzudrehen.
Eine brutale, eine scheußliche Idee.
Aber irgendwie erschien sie mir einerseits unvermeidlich, andererseits auch auf dunkle Weise romanesk.
Die Vorstellung erinnerte mich an Robert Harris und seine Vision von einem „Vaterland“, das den Zweiten Weltkrieg gewonnen hat.
Auch Philip K. Dick hat diese Idee vom Triumph der Bösen in seinem „Das Orakel vom Berge“ (im Original: „The Man in the High Castle“) ja ausgesponnen.
Sind es nicht gerade solche düsteren Gedankenbilder, denen die größte Faszination eignet?
Stephen King, wurde er mit der Schilderung von friedlichen Idyllen zum Weltstar, den auch Frank Schirrmacher in den literarischen Adelsrang erheben wollte?
Keine Frage: In den Thanatophoren steckte etwas.
Eine Netflix-Serie.
Und eine Wahrheit.
Natürlich muss man sich fragen, wer sich für so einen Job hergeben würde.
Menschen kaltzumachen, nur weil sie ein gewisses Alter erreicht haben?
Andererseits ist es eine Form von Gerechtigkeit. Dass mit 18 Jahren automatisch alle wählen dürfen, regt ja auch niemanden auf. Dabei gibt es keine Gewähr, dass jemand mit der Volljährigkeit auch die Vollzähligkeit seiner Sinne erreicht hat. Oder?
65 Jahre für jeden.
Das hat etwas von einem Bedingungslosen Grundeinkommen.
„Hier haben Sie Ihre 65 Jahre. Und jetzt machen Sie etwas draus. Viel Glück.“
Und ist es nicht auch so, dass man für jede Scheußlichkeit jemanden findet, der bereit ist, sie auszuführen? Gegen entsprechendes Salär?
Was ist mit den Söldnern von Blackwater?
Was ist mit den Söldnern von BlackRock?
Wären nicht auch die Thanatophoren lediglich ein „Dienstleister für Regierungsbehörden, Justiz und Bürger“?
Obwohl ich die Idee also gruselig fand, setzte ich sie in einem Romanmanuskript um. Allerdings nur am Rande. Als Story innerhalb einer Story, als mögliche Welt in einem Spiegelkabinett möglicher Welten (sorry, ja, solche Sachen schreibe ich, eigentlich zu meinem Privatvergnügen):
Die Story ging folgendermaßen: Laufpaß, ein ehemaliger Bundeswehrsoldat, Feldwebel, den man nach der Explosion einer Munitionskiste während einer Übung im Westerwald in den Vorruhestand geschickt hatte, machte sich in seiner plötzlich vielen freien Zeit Sorgen wegen der grassierenden Überalterung seines deutschen Vaterlandes. (Eventuell nagte auch das schlechte Gewissen an ihm, denn ein Rekrut hatte bei der Explosion zwischen den Bäumen sein Augenlicht verloren, ein anderer ein paar Finger.) Da er kein Dummkopf war, erkannte er hinter den nüchternen demografischen Zahlen schnell eine Verschwörung der Achtundsechziger. Immer schon darauf versessen, sich ein Maximum an Lust, Drogen und Privilegien abzugreifen, weiteten diese ihre Gier jetzt, am Ende ihres Lebensweges, auch auf die Lebenszeit aus.
Denn was diese Bastarde nie gelernt hatten, war Verzicht!
Darum hatten sie eine Lektion verdient.
In seinem Phantasiereich bildete sich aus ausgedachten besorgten Bürgern – größtenteils ehemalige Soldaten wie er – eine Eliteeinheit, deren selbstgesetztes Ziel es war, den Altersschnitt in der Bevölkerung zu senken. Deutschland anno 2023 brauchte die Thanatophoren. Oder das größte Vaterland aller Zeiten würde das größte Altersheim aller Zeiten werden!
Allein die Schilderung der Initiationsriten dieser elitären Truppe verschlang 20 Seiten. Laufpaß war wirklich verliebt in sein Projekt.
Die Thanatophoren machten es sich zur Aufgabe, alle Menschen im 65. Lebensjahr zu töten. Damit die Rentenlast nicht die junge, heranwachsende, aufstrebende neue Generation bereits in ihren Anfängen erdrückte. Dabei mussten sie natürlich diskret vorgehen. Energisch, schnell, diskret. Eine echte Elitetruppe. Wie das SEK. Wie die GSG 9. Nein: Wie die Speznas, die berüchtigten russischen Alpha-Krieger, vor denen der Feldwebel sich immer so gefürchtet hatte. Schon bei deren Auswahlverfahren gab es regelmäßig Tote, so gnadenlos wurde ausgesiebt.
Eine Riesenwelle des Todes schwappte durchs Land, sobald die Thanatophoren sich ans Werk machten. Die Todesfälle ereigneten sich ausnahmslos aus heiterem Himmel, und sie ereigneten sich ausnahmslos bei Menschen, die gerade die Grenze zum 65. Lebensjahr überquert hatten. Dass der Tod auf 65-Jährige fixiert sei, war neu. Die investigativen Medien, immer auf der Suche nach einer Erklärung, setzten das Gerücht in Umlauf, man habe es mit einer Pandemie zu tun. Ein Virus. Ausgebrütet vermutlich in Laboren irgendwo in den frostigen Tiefen des russischen Reiches. Eine Attacke mit Bio-Kampfstoffen.
„Natürlich ist das Quatsch“, erklärte Robert Mattheis. „Davon ganz abgesehen, dass die Russen sicher kein Interesse daran haben, uns von der Überalterung abzuhalten: Man kann kein Virus züchten, das exklusiv die Alten umbringt. Wissenschaftlich ist das unmöglich.“
„Aber Menschen können es tun“, murmelte Rex Granit düster. Ihm schmeichelte die Vorstellung keineswegs, zum Handlanger des Jugendwahns auserkoren worden zu sein.
(Aus dem ausschließlich per WhatsApp veröffentlichten Roman „What’s App, Doc?“, Nürnberg 2020.)
Ein bisschen ging es mir mit meiner Idee so wie Edvard Munch offenbar mit seinem berühmten Gemälde „Der Schrei“ („Skrik“). Mit Bleistift schrieb er nämlich auf die Farbe: „Kann nur von einem Verrückten gemalt worden sein!“
Ist das Entsetzen? Ironie? Stolz gar?
Das Gemälde vom schreienden Mann auf der Brücke hat es ja sogar zu einem Emoji gebracht. Und wohin könnten die Thanatophoren es bringen?
Virginia Woolf unkte, hätte ihr Vater weiter und immer weitergelebt, neben ihr hergelebt, dann hätte sie keines ihrer Bücher geschrieben. Sie wäre, könnte man auch sagen, verkümmert, ein Opfer des väterlichen Willens geworden. Machen wir uns nichts vor: Nicht jede Familiengeschichte ist ein unendlicher Spaß, auch wenn es nicht immer gleich so dramatisch und traumatisch wie bei Thomas Vinterbergs „Fest“ zugehen muss … Ein Lektor von Suhrkamp fing mich mal mit dem Satz ab: „Sie müssen Ihren Vater umbringen!“
Er bezog sich dabei auf Freud, meinte einen symbolischen Vatermord, die Abnabelung von Hamlets Geist.
Zumindest hoffe ich das.
Wenn es der einzige Sinn unseres Lebens ist, immer noch ein Jährchen (und eine Busreise) draufzusetzen, dann haben wir ein Problem.
Aber es ist auch ein Problem, dem man sich als 51-Jähriger nicht mehr so unbefangen in Stürmer-und-Dränger-Manier nähert wie mit 21, 31 oder 41.
Jetzt frage ich mich: Soll ich meine Thanatophoren-Idee sterben lassen?
Mache ich daraus doch noch einmal ein großes Gesellschaftspanorama?
Oder setze ich sie gar mit einer realen Söldnertruppe als Geschäftsidee um?
Als ein Erik Prince der Greisendezimierung?
Vielleicht hat ja der eine oder die andere „Im Dickicht“-Leser/in einen Rat für mich? Hinterlassen Sie ihn doch bitte einfach im Kommentarfeld.
PS: Wissen Sie übrigens, welche Sorge Hans Ulrich Obrist, den Hans-Dampf-in-allen-Ecken des deutschen Kunstkuratoriumswesens, umtreibt? „Die relative Unbekanntheit der Schriften von Édouard Glissant“.
Okay. So hat jeder seine Sorgen.
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*„For example, out of the 9 billion people expected when the Earth’s population peaks in 2050, the World Health Organization expects 2 billion – more than one person in five – to suffer from dementia“, schreibt der Journalist und Erfolgsautor David Berreby in seinem Beitrag „Global Graying“.
**Der Begriff stammt aus dem Altgriechischen und bedeutet wörtlich: „die Todesbringer“.
Zum Weiterlesen:
Robert Mattheis, Ich sah die blödesten Idioten meiner Generation. Gedichte. 84 Seiten, broschiert. Songdog Verlag, Bern und Wien 2020. 18,00 Euro
Robert Mattheis, Hohlkörper. Roman aus der Medienwelt. 228 Seiten, broschiert. Acabus Verlag, Hamburg 2009. 16,90 Euro (Das E-Book ist zum Preis von 1,99 Euro erhältlich.)