Das Rad der Dinge

Als ich den letzten Absatz von Mein Leben als Witz gelesen hatte, war ich drauf und dran, eine neue Packung Chips aufzureißen (bildlich gesprochen). Robert Mattheis hat es hinterhältigerweise bei dem Cliffhanger belassen. (Schlau! So hält man seine Fanbase zusammen!)

„[…] ein halbes Leben mit Leid und Haß und Traum und Arbeit und Stolz, was muß man alles durchmachen, um es zu einem schönen, plausiblen, durchgearbeiteten, gepflegten Schiffbruch zu bringen […]”

„Wirkliches Leben heißt: neue Stellen zu erfinden, wo man stranden kann …”

Das lese ich beides in Der Kapitän von Roberto (Bobi) Bazlen, übersetzt von Ilse Pollack [Edit 18.12.2021. Hier irre ich, denn: „Die hier vorliegende Fassung des Textes ‚Der Kapitän‘ folgt dem deutschsprachigen Originalmanuskript, wie es dem Wieser Verlag vom Adelphi Verlag, Mailand, zur Verfügung gestellt wurde. Eigenwillige Interpunktion, Orthographie, Grammatik, Satzstellung, Semantik wurden belassen und nur an einigen Stellen, wo es die Lesbarkeit erforderte, behutsam verändert. Einzelne, wenige italienische Wörter und Sätze wurden ins Deutsche übersetzt.”] – ein herrliches, Fragment gebliebenes Buch, 1993 im Wieser Verlag von Lojze Wieser erschienen und dort immer noch lieferbar. (Lojze Wieser hatte bei den Buchmessen immer einen Schinken dabei. Wer ihn in seiner Verlagskoje besuchte, bekam von ihm persönlich eine dünne Scheibe abgeschnitten.)

Das Nachwort der Übersetzerin – „Das Schweigen der Sirenen” – gibt Aufschluss über Bazlens literarische Vorlieben (Hauptkriterium: Originalität) und Wertmaßstäbe – „Erstmaligkeit” steht an vorderster Stelle.
Es ist sicher zehn Jahre her, dass ich das Buch gelesen habe, wahrscheinlich länger. Gestern kam es mir wieder zwischen die Finger. Vor einigen Monaten hatte ich meine italienischen Bücher ausgeräumt, um eine Treppe (trap) zu bauen, die an den Rand eines Eimers führte, in dem Futter ausgestreut war, so wollte ich eine Maus einfangen, die ich gesehen hatte oder meinte, gesehen zu haben. Vielleicht ein Phantom? – Irgendwann, eigentlich recht bald, baute ich die Treppe wieder ab und warf das Futter weg. Die Bücher räumte ich aber nicht zurück, sondern ließ sie gestapelt auf dem Boden, bis gestern.
Das Rad der Dinge – Bobi Bazlen.
Es gibt zwei Tagebücher, beide unveröffentlicht.

Kaoss Pad (Partymix zur Wahl)

(Die Überschrift bezieht sich auf das Effektgerät, das Kimbra im unten verlinkten Song – Miracle – bedient.)

Jemand sagte neulich, als Bundesumweltministerin habe Angela Merkel gemahnt, wir bräuchten das Drei-Liter-Auto, und als Bundeskanzlerin habe sie dann den SUVs den Weg gebahnt, von denen von Jahr zu Jahr mehr zugelassen werden.
Andreas Malm beginnt sein Buch Wie man eine Pipeline in die Luft jagt mit einem Zitat des englischen Schriftstellers John Lanchester, der sich in einer Sammelrezension für die London Review of Books bereits 2007 darüber verwundert zeigte, dass sich die Klimaaktivisten bislang so brav verhalten haben anstatt zu militanten Strategien überzugehen wie z.B. das Zerkratzen von SUV-Fahrertüren mit einem Schlüssel:
„[…] in a city the size of London, a few dozen people could in a short space of time make the ownership of these cars effectively impossible, just by running keys down the side of them, at a cost to the owner of several thousand pounds a time. Say fifty people vandalising four cars each every night for a month: six thousand trashed SUVs in a month and the Chelsea tractors would soon be disappearing from our streets. So why don’t these things happen?”
Gut, für mich wäre das nichts, aber ich würde mich öffentlich darüber freuen, falls es jemals geschehen sollte. Einstweilen tun’s auch Aufkleber, die das Bild eines Erdballs in Flammen mit dem Satz „Ich bin ein Verbrenner” kombinieren (gestern auf der Demo gesehen). Oder die – immerhin – Versechsfachung der Parkgebühr für Automobile, die schwerer als ich weiß nicht wie viel Tonnen sind, wie sie der Tübinger Oberbürgermeister kürzlich durchgesetzt hat. Auf ein Fahrverbot von SUVs in Innenstädten können wir aber vermutlich lange warten, das wäre auch eine effiziente Maßnahme, um der Plage Herr zu werden.

Die Rede von Greta Thunberg habe ich seltsamerweise verpasst, obwohl ich pünktlich am Bundestag war. Wann hat sie sie gehalten? Zu Beginn oder am Ende der Demonstration? Auch Luisa Neubauer: nicht mitgekriegt. Das Grußwort von Maja Göpel aber wenigstens doch, auch eine prägnante Rede von Emilia Roig.
20000 Protestierende waren in Berlin angemeldet gewesen, die tatsächliche Teilnehmerzahl lag deutlich höher, je nach Schätzung bei rund 50000 bis 100000 Leuten, wobei die kleinere Zahl natürlich von der Polizei stammt.
Ich kann nur hoffen, dass auch weitere Streiks und Aktionen von Fridays for Future und anderen Gruppen der Klimabewegung viel Zulauf, viel Unterstützung haben werden. – Ich dachte an eine Formulierung, die vor ein paar Tagen Robert Mattheis hingeworfen hat, lässig: in den Abgrund gähnen. Das fand ich eine hervorragende Zustandsbeschreibung. Wir blicken in einen (gähnenden) Abgrund, und was wir tun ist: gähnen. (Wir – damit meine ich diejenigen, die dringend ihren (selbst-)zerstörerischen way of life ändern müssen.)
„Und immer gibt es Leute, die bringen den Ernst, der angebracht ist, nicht an”, möchte ich den großen Uwe Johnson (aus dem Gedächtnis) zitieren.

„HUCH! Alles kaputt” (Plakat beim Klimastreik gestern)

Nach dieser langen Vorrede: Morgen ist Bundestagswahl.
Wenn mich meine Erinnerung nicht trügt, gab es bei vergangenen Bundestagswahlen schon zwei Mal eine rechnerische Mehrheit für Rot-Rot-Grün. Die Aussichten, dass morgen aller guten Dinge drei werden, stehen nicht schlecht – „Linksrutsch jetzt!” (Plakat) -, aber da die Linken von allen anderen Parteien als Schmuddelkinder angesehen werden, müssen sie wohl wieder an den Katzentisch. Sehr bedauerlich, und sehr dumm. Bleibt zu hoffen, dass Armin Laschet abblitzen wird. Wer noch im Jahr 2020 ein Steinkohlekraftwerk eröffnet, darf keine Verantwortung übertragen bekommen, so einfach ist das.
Was immer die Verhandlungen nach der Wahl ergeben werden, einige der Lobby-Minister werden nicht mehr weitermachen: Peter Altmaier, Andreas Scheuer, Julia Klöckner, das ist schon mal beruhigend. Auch das Milchbrötchen aus dem Außenministerium dürfte seinen Posten verlassen. Jetzt schnell noch ein paar Leute befördern!

In Fortsetzung einer Tradition hier eine kleine Musikzusammenstellung, wird möglicherweise noch erweitert. Die Belgierin (Belgien, yeah!) Charlotte Adigéry tauchte in der Playlist der NY Times auf, ihr Compagnon, Bolis Pupul, trägt ein T-Shirt mit ihrem Bild, ihrerseits ein T-Shirt mit seinem Konterfei tragend, am Schluss schütteln sie sich die Hand.
Kimbra mit einem poppigeren ihrer Songs, recht zurückhaltend gesungen, aber die Spitzen exakt getroffen, was bei der anderen Studioaufnahme – von Yelle – leider nicht der Fall ist, aber eigentlich macht es auch nichts, wir wollen ja keine Maschinen. Mir gefällt der fröhliche Blödsinn, den sie und ihre Schlagzeug-Elektro-Partner veranstalten. (Der modische Auftritt von Charlotte Adigéry, Kimbra und Yelle ist hervorzuheben – prima!)
Claire Laffut, Tip von Deutschlandfunk Kultur, genau dies Lied. Heisere Stimmen hab ich immer gern.
Wiki und Navy Blue, wieder aus der erwähnten Playlist geklaut. (Wiki ist der mit den eingeschlagenen oder weggerauchten Zähnen.)
Nach dem Tod des Gang of Four-Gitarristen Andy Gill gab es ein Tribute-Album, daraus das Stück Forever Starts Now, gefolgt von einem Original von anno 1979. Es klingt kein bisschen angestaubt.
Metronomy mit einem Lied zum Sonntag, das die Sonntagsstimmung ganz gut wiedergibt, finde ich.

Charlotte Adigéry & Bolis Pupul High Lights *** Kimbra (Live at Radio New Zealand) Miracle *** Metronomy Month of Sundays *** Yelle Complètement fou (Live on KEXP) *** Claire Laffut Vérité *** Wiki feat. Navy Blue Can’t Do This Alone *** Gang of Four (Killing Joke Dub) Forever Starts Now *** Gang of Four Natural’s Not in it *** Kelly Lee Owens Arpeggi *** Charlotte Adigéry & Bolis Pupul The Best Thing

Die Thanatophoren. Gastbeitrag von Robert Mattheis

Robert Mattheis hat mein Blog schon einmal mit einem Gastbeitrag beehrt, hier legt er nach – herzlichen Dank dafür!
Wir kennen uns aus Kölner Zeiten. Vor einigen Jahren las er in meiner gewesenen Buchhandlung Reul (aus seinem Roman Hohlkörper). Es war eine schöne Veranstaltung. Ohne Murren hat der Autor später auf dem Boden geschlafen, die schwierigen Umstände, die mein Leben zu jener Zeit prägten – ich habe sie im Beitrag Privatentnahme skizziert -, ließen die komfortable Unterbringung im Goldenen Löwen leider nicht zu.
Übrigens gibt es ein neues Buch von Robert Mattheis: Ich sah die blödesten Idioten meiner Generation. Ich empfehle es!
Hier nun aber Die Thanatophoren, ein durchaus ungemütlicher Text –

Die Thanatophoren oder: Hunde, wollt ihr ewig leben?

Es wird Abend, und die Thanatophoren schwärmen wieder aus über den Dächern der Stadt. Diese Idee kam mir irgendwann, nachdem ich in „What Should We Be Worried About?“ … oder nein, fangen wir anders an.
Kennen Sie John Brockman?
Sein deutscher Verlag, S. Fischer, nennt ihn einen „Wissenschaftsaktivisten“, was ein schön vieldeutig schillerndes Wort ist. Denn von John Brockman stammt die Idee der „Dritten Kultur“, „die großspurig inszenierte Verschmelzung von Geistes- und Naturwissenschaft im Dienst der digitalen Zukunft“, wie die FAZ sie im Vorspann zu einem Text des Techkritikers Evgeny Morozov nennt. Des Weiteren ist Brockman der Gründer und Herausgeber von edge.org, einem Tummelplatz der avanciertesten wissenschaftlichen Ideen unserer Zeit.
Er ist ein brillanter Mann und einer der wichtigsten Literaturagenten der USA.
Daneben war er allerdings auch mit Jeffrey Epstein … nun, es gab Verbindungen zwischen John Brockman und dem infamen Investmentbanker (der sich offenbar im gleichen Maße für Durchbrüche in den Wissenschaften wie für Massagen durch minderjährige Mädchen interessierte). Es gab allerdings auch Verbindungen zwischen Epstein und dem Massachusetts Institute of Technologie (MIT), es gab Verbindungen zwischen Epstein und der Harvard University …
Naja, vielleicht ist auch das ein Gesetz unserer Gesellschaft: Vom Hochplateau geht es steil abwärts.

Wie auch immer. John Brockman gibt jedenfalls regelmäßig Sammelbände mit Beiträgen von Menschen heraus, die man früher als „erlauchte Geister“ bezeichnet hätte, die auf jeden Fall aber helle Köpfe sind, im PR-Sprech „today’s leading thinkers“, Leute wie Steven Pinker, Mary Catherine Bateson, Nassim N. Taleb, Natalie Angier, Jaron Lanier, Barbara Tversky, Daniel C. Dennett und Richard Dawkins, aber auch Ai Weiwei oder Jesse Dylan, Filmemacher und Sohn von Bob Dylan. Ein illustrer Kreis.

Brockman veranstaltet auch regelmäßig intellektuelle Bankette, auf denen die Klugen die noch Klügeren kennenlernen können und die Genies Journalisten.
Dabei stehen die von Brockman kuratierten Sammelbände immer unter einem angeschärften Motto (das auf Deutsch dann oft wieder entschärft wird), beispielsweise: „What to Think About Machines That Think?“, „This Idea Must Die“, „This Explains Everything“ oder „This Will Make You Smarter“.

Nun, jedenfalls stieß ich in „What Should We Be Worried About?“ auf eine alarmierende Zahl. Demnach würden meine Kinder sich in einer Welt wiederfinden, die zu mindestens einem Fünftel von Dementen bevölkert wäre.* Zwei davon wären eventuell meine Frau und ich. Mir schien das eine besonders gruselige Form von Zombieland zu sein, das da heraufdämmerte.
Die Körper machen weiter.
Aber der Geist in der Maschine hat sich verflüchtigt.

Auf der Fahrt ins Büro fiel mir eines Morgens die Lösung für dieses Horrorproblem ein: die Thanatophoren**.
Eine Truppe von Kriegern, die staatlich beauftragt werden, Leuten beim Erreichen des 65. Lebensjahres den Saft abzudrehen.
Eine brutale, eine scheußliche Idee.
Aber irgendwie erschien sie mir einerseits unvermeidlich, andererseits auch auf dunkle Weise romanesk.
Die Vorstellung erinnerte mich an Robert Harris und seine Vision von einem „Vaterland“, das den Zweiten Weltkrieg gewonnen hat.
Auch Philip K. Dick hat diese Idee vom Triumph der Bösen in seinem „Das Orakel vom Berge“ (im Original: „The Man in the High Castle“) ja ausgesponnen.
Sind es nicht gerade solche düsteren Gedankenbilder, denen die größte Faszination eignet?
Stephen King, wurde er mit der Schilderung von friedlichen Idyllen zum Weltstar, den auch Frank Schirrmacher in den literarischen Adelsrang erheben wollte?

Keine Frage: In den Thanatophoren steckte etwas.
Eine Netflix-Serie.
Und eine Wahrheit.
Natürlich muss man sich fragen, wer sich für so einen Job hergeben würde.
Menschen kaltzumachen, nur weil sie ein gewisses Alter erreicht haben?
Andererseits ist es eine Form von Gerechtigkeit. Dass mit 18 Jahren automatisch alle wählen dürfen, regt ja auch niemanden auf. Dabei gibt es keine Gewähr, dass jemand mit der Volljährigkeit auch die Vollzähligkeit seiner Sinne erreicht hat. Oder?
65 Jahre für jeden.
Das hat etwas von einem Bedingungslosen Grundeinkommen.
„Hier haben Sie Ihre 65 Jahre. Und jetzt machen Sie etwas draus. Viel Glück.“
Und ist es nicht auch so, dass man für jede Scheußlichkeit jemanden findet, der bereit ist, sie auszuführen? Gegen entsprechendes Salär?
Was ist mit den Söldnern von Blackwater?
Was ist mit den Söldnern von BlackRock?
Wären nicht auch die Thanatophoren lediglich ein „Dienstleister für Regierungsbehörden, Justiz und Bürger“?
Obwohl ich die Idee also gruselig fand, setzte ich sie in einem Romanmanuskript um. Allerdings nur am Rande. Als Story innerhalb einer Story, als mögliche Welt in einem Spiegelkabinett möglicher Welten (sorry, ja, solche Sachen schreibe ich, eigentlich zu meinem Privatvergnügen):

Die Story ging folgendermaßen: Laufpaß, ein ehemaliger Bundeswehrsoldat, Feldwebel, den man nach der Explosion einer Munitionskiste während einer Übung im Westerwald in den Vorruhestand geschickt hatte, machte sich in seiner plötzlich vielen freien Zeit Sorgen wegen der grassierenden Überalterung seines deutschen Vaterlandes. (Eventuell nagte auch das schlechte Gewissen an ihm, denn ein Rekrut hatte bei der Explosion zwischen den Bäumen sein Augenlicht verloren, ein anderer ein paar Finger.) Da er kein Dummkopf war, erkannte er hinter den nüchternen demografischen Zahlen schnell eine Verschwörung der Achtundsechziger. Immer schon darauf versessen, sich ein Maximum an Lust, Drogen und Privilegien abzugreifen, weiteten diese ihre Gier jetzt, am Ende ihres Lebensweges, auch auf die Lebenszeit aus.
Denn was diese Bastarde nie gelernt hatten, war Verzicht!
Darum hatten sie eine Lektion verdient.
In seinem Phantasiereich bildete sich aus ausgedachten besorgten Bürgern – größtenteils ehemalige Soldaten wie er – eine Eliteeinheit, deren selbstgesetztes Ziel es war, den Altersschnitt in der Bevölkerung zu senken. Deutschland anno 2023 brauchte die Thanatophoren. Oder das größte Vaterland aller Zeiten würde das größte Altersheim aller Zeiten werden!
Allein die Schilderung der Initiationsriten dieser elitären Truppe verschlang 20 Seiten. Laufpaß war wirklich verliebt in sein Projekt.
Die Thanatophoren machten es sich zur Aufgabe, alle Menschen im 65. Lebensjahr zu töten. Damit die Rentenlast nicht die junge, heranwachsende, aufstrebende neue Generation bereits in ihren Anfängen erdrückte. Dabei mussten sie natürlich diskret vorgehen. Energisch, schnell, diskret. Eine echte Elitetruppe. Wie das SEK. Wie die GSG 9. Nein: Wie die Speznas, die berüchtigten russischen Alpha-Krieger, vor denen der Feldwebel sich immer so gefürchtet hatte. Schon bei deren Auswahlverfahren gab es regelmäßig Tote, so gnadenlos wurde ausgesiebt.
Eine Riesenwelle des Todes schwappte durchs Land, sobald die Thanatophoren sich ans Werk machten. Die Todesfälle ereigneten sich ausnahmslos aus heiterem Himmel, und sie ereigneten sich ausnahmslos bei Menschen, die gerade die Grenze zum 65. Lebensjahr überquert hatten. Dass der Tod auf 65-Jährige fixiert sei, war neu. Die investigativen Medien, immer auf der Suche nach einer Erklärung, setzten das Gerücht in Umlauf, man habe es mit einer Pandemie zu tun. Ein Virus. Ausgebrütet vermutlich in Laboren irgendwo in den frostigen Tiefen des russischen Reiches. Eine Attacke mit Bio-Kampfstoffen.
„Natürlich ist das Quatsch“, erklärte Robert Mattheis. „Davon ganz abgesehen, dass die Russen sicher kein Interesse daran haben, uns von der Überalterung abzuhalten: Man kann kein Virus züchten, das exklusiv die Alten umbringt. Wissenschaftlich ist das unmöglich.“
„Aber Menschen können es tun“, murmelte Rex Granit düster. Ihm schmeichelte die Vorstellung keineswegs, zum Handlanger des Jugendwahns auserkoren worden zu sein.
(Aus dem ausschließlich per WhatsApp veröffentlichten Roman „What’s App, Doc?“, Nürnberg 2020.)

Ein bisschen ging es mir mit meiner Idee so wie Edvard Munch offenbar mit seinem berühmten Gemälde „Der Schrei“ („Skrik“). Mit Bleistift schrieb er nämlich auf die Farbe: „Kann nur von einem Verrückten gemalt worden sein!“
Ist das Entsetzen? Ironie? Stolz gar?
Das Gemälde vom schreienden Mann auf der Brücke hat es ja sogar zu einem Emoji gebracht. Und wohin könnten die Thanatophoren es bringen?

Virginia Woolf unkte, hätte ihr Vater weiter und immer weitergelebt, neben ihr hergelebt, dann hätte sie keines ihrer Bücher geschrieben. Sie wäre, könnte man auch sagen, verkümmert, ein Opfer des väterlichen Willens geworden. Machen wir uns nichts vor: Nicht jede Familiengeschichte ist ein unendlicher Spaß, auch wenn es nicht immer gleich so dramatisch und traumatisch wie bei Thomas Vinterbergs „Fest“ zugehen muss … Ein Lektor von Suhrkamp fing mich mal mit dem Satz ab: „Sie müssen Ihren Vater umbringen!“
Er bezog sich dabei auf Freud, meinte einen symbolischen Vatermord, die Abnabelung von Hamlets Geist.
Zumindest hoffe ich das.
Wenn es der einzige Sinn unseres Lebens ist, immer noch ein Jährchen (und eine Busreise) draufzusetzen, dann haben wir ein Problem.
Aber es ist auch ein Problem, dem man sich als 51-Jähriger nicht mehr so unbefangen in Stürmer-und-Dränger-Manier nähert wie mit 21, 31 oder 41.
Jetzt frage ich mich: Soll ich meine Thanatophoren-Idee sterben lassen?
Mache ich daraus doch noch einmal ein großes Gesellschaftspanorama?
Oder setze ich sie gar mit einer realen Söldnertruppe als Geschäftsidee um?
Als ein Erik Prince der Greisendezimierung?

Vielleicht hat ja der eine oder die andere „Im Dickicht“-Leser/in einen Rat für mich? Hinterlassen Sie ihn doch bitte einfach im Kommentarfeld.

PS: Wissen Sie übrigens, welche Sorge Hans Ulrich Obrist, den Hans-Dampf-in-allen-Ecken des deutschen Kunstkuratoriumswesens, umtreibt? „Die relative Unbekanntheit der Schriften von Édouard Glissant“.
Okay. So hat jeder seine Sorgen.

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*„For example, out of the 9 billion people expected when the Earth’s population peaks in 2050, the World Health Organization expects 2 billion – more than one person in five – to suffer from dementia“, schreibt der Journalist und Erfolgsautor David Berreby in seinem Beitrag „Global Graying“.
**Der Begriff stammt aus dem Altgriechischen und bedeutet wörtlich: „die Todesbringer“.


Zum Weiterlesen:

Robert Mattheis, Ich sah die blödesten Idioten meiner Generation. Gedichte. 84 Seiten, broschiert. Songdog Verlag, Bern und Wien 2020. 18,00 Euro

Robert Mattheis, Hohlkörper. Roman aus der Medienwelt. 228 Seiten, broschiert. Acabus Verlag, Hamburg 2009. 16,90 Euro (Das E-Book ist zum Preis von 1,99 Euro erhältlich.)

Continue as Meinolf

Über die Lesung von Robert Mattheis am 1.11. im POP brauche ich nicht zu berichten, das hat sein Schriftstellerkollege Andreas Wolf schon getan, in seinem Blog Wald und Höhle, siehe hier: Dichte Lesung.

Morgen feiert Hans Magnus Enzensberger seinen neunzigsten Geburtstag. Als einer, der – wenn auch nur einmal in der Woche – in einer Buchhandlung arbeitet, frage ich mich: Braucht Enzensberger Geld? Ist München-Schwabing teuer? Oder hat er einfach seine Schubladen aufgeräumt und hört nun gar nicht mehr damit auf? Jedenfalls, ich stelle fest, dass in den letzten beiden Jahren folgende Bücher von ihm erschienen sind (ohne Neuauflagen und Taschenbuchausgaben):
~ Überlebenskünstler – 99 literarische Vignetten aus dem 20. Jahrhundert [16.4.2018]
~ Schreiben für ewige Anfänger [20.8.2018]
~ Eine Handvoll Anekdoten – auch Opus incertum [22.10.2018]
~ Eine Experten-Revue in 89 Nummern [13.5.2019]
~ Louisiana-Story [21.10.2019]
~ Fallobst – Nur ein Notizbuch [11.11.2019]
Kaum ein halbes Jahr max. liegt zwischen den einzelnen Publikationen.
Wenn ich nicht irre, war es Hans Erich Nossack, der den Begriff der Literarischen Prostitution prägte. Ich möchte ihn, ohne ihm im übrigen Böses zu wollen, heute auf den Jubilar anwenden. Herzlichen Glückwunsch!

Wenn ich vormittags auf der Arbeit die Programme öffne – neun Tabs sind das Minimum -, habe ich bei einem (Confluence) die Option, mich entweder sozusagen formell mit Email und Passwort anzumelden, oder die Abkürzung über einen verbundenen Dienst (Google) zu nehmen. Diese versteckt sich hinter der merkwürdigen, zu Fragen der Identität einladenden, Formel: Continue as Meinolf.

Kulturgequatsche. Gastbeitrag von Robert Mattheis

Der polnische Schriftsteller Witold Gombrowicz, berühmt für Ferdydurke und seine sexuellen Neigungen, machte sich mit Vorliebe lustig über die Liebhaber von Lyrik. Die säßen da im Auditorium, so sein Argument, lauschten unverständlichen Klängen vom Podium, applaudierten entschlossen und gingen dann heim, gerührt letztlich von ihrer Bereitschaft, sich dem Bizarren, dem ganz und gar Fremden auszuliefern. Das sei ihr Genuss – das Wissen darum, einer guten Sache gedient zu haben. Aber hatten sie auch etwas von dem verstanden, was die Lyrik ihnen hatte sagen wollen? Wohl eher nicht. Ihr Applaus war gewissermaßen ein Cousin der Tipperei jener Affen, die ein Wissenschaftler vor Schreibmaschinen gesetzt hat, um herauszufinden, wie lange es dauert, bis das Zufallsprinzip Shakespeares Gesammelte Werke hervorbringt.

Mit dergleichen polemischen Verve könnte man sich auch den Theatergängern zuwenden. Diese sind schon zufrieden, wenn sie im Programmheft lesen, dass Aischylos in seinem Drama die Geburt der Demokratie aus dem Geiste der Blutrache beschrieben habe. Das reicht ihnen vollauf, um hinterher von einem aufregenden Theaterabend zu sprechen. Was dann da im Einzelnen in all diesen wahnsinnig anstrengenden Versen passiert, interessiert sie gar nicht weiter. Am Ende sind sie allerdings durch einen kathartischen Prozess gegangen – sich drei Stunden auf den Schlussapplaus freuen, und wenn er dann kommt – in dem Augenblick erlebt man eine Befreiung. Das ist unbestreitbar. Gleiches gilt natürlich für jene postmodernistischen Banausen, die sich auf das Bier im Anschluss an die Vorstellung freuen, wenn Frank Castorf wieder einmal die Kübel seines Weltekels über eine ordentliche Portion Dostojewski On Ice ausleert.

Man kann solche Ahnungslosigkeit natürlich verurteilen, muss sich m. E. allerdings eingestehen, dass sie ab einem bestimmten Verständnis-Level Allgemeingut wird. Keiner weiß wirklich, was das alles soll, etwa ein Celan-Gedicht oder die neue Komposition von Krzysztof Penderecki. Sonst würde es ja irgendwann mal irgendeiner ausplaudern. Nicht selten sind die Erläuterungen, bei aller Entschiedenheit und Siegesgewissheit, dunkler als das zu Erläuternde. Gedichte sind eben eigenständige Wesen, wie Pflanzen – wie Kakteen, beispielsweise, die es in erstaunlicher Anzahl, Form und Zähigkeit gibt. Wohlgemerkt – nur von Kakteen ist hier die Rede! Von Kunstwerken gilt mit großer Wahrscheinlichkeit, was Marlene Dietrich in dem Film noir „Touch Of Evil” sagt: „Was hat es für einen Sinn, über Menschen zu reden?”

Die Frage ist demnach, ob nicht jede Deutung, die einem Kunstwerk appliziert wird, einen Gewaltakt darstellt. Erhellt die Erklärung das Werk? Oder erlöst sie nicht eher uns? Indem sie uns von unserer peinigenden Unverständigkeit befreit? Bedeutet also nicht jede Interpretation auch einen Skandal? Eine dreiste Anmaßung? Noch zugespitzter gefragt: Räumt eine stichhaltige Erklärung so ein Kunstwerk nicht erst einmal aus dem Weg und macht den Weg frei für das nächste, indem sie jene Irritation beseitigt, die das Wesen des Kunstwerks ausmacht?

Das sind so Fragen, werden Sie denken. Warum gibt sich damit einer ab? Hat der nichts Vernünftiges zu tun? Was ist das überhaupt für ein Perverser? Nun, ich habe das alles nur vorangeschickt, um klar zu machen, welche Wichtigkeit nach meinem Empfinden der sinnlichen Aussagekraft eines Werkes zukommt. Mir geht heute alles viel zu sehr in einer Diskursflut unter, von der mich auf meiner Insel nur noch ein generell rechthaberischer, stark gereizter Singsang erreicht. Zeitungen, Zeitschriften, Fernsehsender, Blogs – ein einziges Gedröhn. Für die alten Griechen waren die Barbaren ja jene Völker, deren Sprache für sie nur ein einziges „bar, bar” war. In diesem Sinne besteht die Welt für mich inzwischen weitestgehend aus Barbaren. Ich habe keine Ahnung, wovon die reden!

Ich versuche, Gottfried Benns Ratschlag folgend, die Lage zu erkennen: Jeder weiß, was wann zu sagen ist, und denkt, das reiche, damit wisse er Bescheid. So interpretiere ich die Zeichen, soweit sie für mich zugänglich sind. Im gleichen Maße aber, in dem der Diskurs wächst und die Redeflut steigt, gibt es immer weniger Werk. Nicht, dass wir uns missverstehen: Es gibt mehr Werke als früher, viel mehr – aber zugleich weniger Werk. Das Verhältnis von Deutung und Werk, will ich damit sagen, hat sich dramatisch verschoben. Denn es gibt immer weniger Bereitschaft, Zeit und Gelegenheit, wirklich und dauerhaft hinzusehen. Wem kann man das verübeln? Jede Woche eine neue Platte der Woche – das hält doch kein Mensch aus! Letztlich hat sich im Zeitalter der totalen Erreichbarkeit und der visuellen und akustischen Omnipräsenz die Situation des Museums auf die ganze Welt ausgedehnt. Man kann nur noch im Vorbeigehen einen irritierten Blick auf all diese Meisterwerke werfen. Ansonsten muss man dem Katalog vertrauen.

Die Zeit ist also eigentlich reif für ein neues Pathos der sinnlichen Gewissheit. Es mag sein, dass ich ein Gemälde von Jackson Pollock nicht verstehe. Ich schaue drauf, und der Automat zwischen meinen Ohren spuckt keinen guten Spruch aus. Da ist nur hochtouriges, leicht beschämtes Rätselraten in mir. Wird nun ein Aufsatz über die Maltechniken des Urvaters des action painting, opulent illustriert mit Fotos aus dem Atelier, mich erleuchten? Mag sein. Mag auch sein, dass mir Umberto Ecos Das offene Kunstwerk weiterhilft, dass eine solche Studie meinen Horizont aufreißt und mehr Licht in meinen Schädel einlässt. Oder vielleicht ist mir ein schicker Traktat von Boris Groys hilfreich. Das mag ja alles sein. Zunächst aber muss mir doch das action painting von Mr. Pollock gefallen. Das Bild muss eine Saite in mir zum Schwingen bringen. Es muss sich mir eines zweiten Blicks wert machen. Und dann …
… Sie wissen schon.

[Wiederveröffentlichung eines zuerst 2008 unter dem Titel „Traumtäter zwischen kulturpolitisch geschützten Amokläufern” erschienenen Beitrags. – Von Robert Mattheis ist Hohlkörper. Roman aus der Medienwelt erschienen. Er betreibt das Blog epizentriker.]