Erinnere ein vergessenes Konzert

„Erinnere einen vergessenen Text”, hieß einmal eine paradoxe Spielanweisung des Schweizer Verlegers Urs Engeler an befreundete Schriftstellernnien (polnisch gegendert), aus deren Ergebnissen dann ein Buch geworden ist. Ich kenne es nur dem Titel nach. – Natürlich war die Vorgabe gewesen, vor dem Schreiben den vergessenen Text nicht erst noch einmal zu konsultieren.
Wollte ich meine Berichterstattung vom Ultraschall Berlin Festival unter dieser Maßgabe fortsetzen, wäre ich vermutlich schnell damit fertig. Zunächst fiele mir einiges ein, was nicht direkt mit der Musik zu tun hat, z.B. mit wem ich da war (L.), wen wir getroffen haben (Rumiana, Viola, Axel, Gernot, auch Achim?), wovon unter anderem die Rede war: den alten Vater in der Kur abgeben, Blick auf den Watzmann …, das Pausengespräch des Musikredakteurs mit der Komponistin mit dem Doppelnamen, die auf eine Krücke gestützt die Stufen zur Bühne erklomm und einen sehr vifen Eindruck machte, ihr Stück hatte „fire” im Titel. Eine Paetzoldflöte kam wieder vor, und wahrscheinlich ein Cembalo. Und gab es nicht noch ein zweites Komponistinnengespräch? (Es wurden ja überhaupt nur Werke von Komponistinnen gespielt.)
Das war mit Elena Mendoza. Es ging um Integration und Desintegration und die Frage der Perspektive. Einige der Instrumente waren präpariert, aber die Verfremdung im Gesamtklang aufgehoben. Dann gab es auf einmal einen Tisch und einen Mimen – oder stand der Tisch von Beginn an da? Der Mime ging zu den präparierten Instrumenten hin, nahm ihnen die Gegenstände der Präparation weg (sie waren ja gar nicht aufgefallen!) und exponierte sie auf dem Zaubertisch: ein Glas, eine Flasche … was noch? Ein Tuch? Tat so, als streiche er mit dem Finger über den Rand des Glases, berührte es aber gar nicht, und einer der Musiker gab einen Klang dazu. Tat so, als entkorke er die Flasche, schenke zu trinken ein, und ein Instrument unterlegte die Geste mit einer musikalischen Geste. In ihrer ostentativen Zurschaustellung wurde die ‚Integration‘ der Gegenstände der Klangverfremdung – die ja immer noch integraler Bestandteil der Komposition waren – nicht so sehr abgebrochen als auf eine andere Stufe gehoben.
Vielleicht lässt es sich anhand eines Vergleichs erklären: Bei Übersetzungen gibt es zwei Möglichkeiten (unter den unendlich vielen Möglichkeiten). Die Übersetzung kann anstreben, das Original rückstandslos der Zielsprache anzuverwandeln, oder sie kann eine Erinnerung an die ‚Fremdheit‘ des Ursprungstextes gleichsam mitlaufen lassen. Beides sind legitime Übersetzungen, unter je anderem Vorzeichen.
Auf die Komposition von Elena Mendoza gewendet, schien es, als seien hier nacheinander beide Möglichkeiten durchgespielt worden. – So beschrieben, könnte der Eindruck entstehen, als hätten wir es mit einer furchtbar didaktischen Arbeit zu tun – doch keineswegs! Ich erinnere [Titel einsetzen] als eines der (auch konzeptuell) stärksten Werke des Abends.
Aber ich muss das Programmheft heraussuchen und mir die Sachen noch mal anhören, so wird das ja nichts.

Hier zum Schluss ein Stück von Julia Holter, die ich in ihrer übergroßen Ambition immer ein wenig anstrengend finde, ihr Album Loud City Song, das ich hierhabe, wollte ich lange loswerden, aber jetzt habe ich mich entschieden, es zu behalten und sogar wieder anzuhören, denn trotz allem habe ich Julia Holter gern und verfolge mit Sympathie, was sie macht. ¯\_(ツ)_/¯

Frohe Ostern again!

Ich brauche sechzehn Räume

: Ein Beispielsatz aus meinem Französisch-Onlinekurs. Ich finde, er passt gut zur Ausnahmesituation, in der sich die Welt gerade befindet. In der Stadt eine unterschwellig nervöse, gedrückte Stimmung, die auch mich, der ich doch immer ein dickhäutiger Mensch war, nicht unbeeindruckt lässt. Montag in der Buchhandlung war es ganz ruhig, vielleicht wird es nächsten Montag noch ruhiger sein. Ich werde mal hören, was mein Chef sagt, und ihm gegebenenfalls vorschlagen, mir unbezahlten Urlaub zu geben. (Für ihn wäre es eine Kostenersparnis, für mich ein Gewinn an quality time.) Wenn die Gesundheitsbehörden kein ausdrückliches Verbot aussprechen, werde ich Dienstag aber wieder ins Büro gehen, und Montag in die Buchhandlung, klar. Es wäre mir allerdings lieber – da es in Berlin nirgendwo so viele Krankheitsfälle gibt wie in Charlottenburg-Wilmersdorf (47, Stand von heute – gestern waren es 31, übermorgen könnten es 105 sein) -, wenn ich zu Hause bleiben dürfte. Davon habe ich aber nichts gehört. Wie jeder Geschäftsmann ist eben auch mein Chef eher gewillt, sich, die Kundschaft und seine Mitarbeiter (mich) in Gefahr zu bringen, als den Laden dichtzumachen. Ich mache ihm daraus keinen Vorwurf, aber fahrlässig und uneinsichtig ist es schon, meine ich. Soll ich von mir aus sagen, ich komme nicht?

Juti, jetze weiter mit Ultraschall Berlin – Festival für neue Musik und dem Konzert des oenm, das inzwischen leider auch alle Nase lang Konzerte absagen muss wegen, ihr wisst schon. Auf die Komposition von Olga Neuwirth folgte Limun (2011) von Clara Iannotta, der Berlin-Römerin, von deren Musik hier vorher schon die Rede war. Geschrieben für Violine, Viola und 2 Umblätterer, brachte es den szenischen Charakter des ersten Stücks des Abends zurück
aufs Deck.
aufs Tapet.
auf die Bühne.
Bevor ich es mir jetzt noch einmal anhöre, rufe ich mir die beiden Umblätterer in Erinnerung (ernster Habitus), die plötzlich winzige seidenumwickelte Mundharmonikas aus dem Ärmel zogen und darauf gleißend-hell-fiepende Töne erzeugten, die einen Hund zum Jaulen gebracht hätten. Schmerzhaft und nicht ohne Humor, auch wenn das Stück sicher nicht ‚witzig‘ gemeint, und in seiner irisierenden zweiten Hälfte schlicht schön ist – das Schöne ist selten lustig. Es ist auch eine kalte, sternenhafte, keine Behagen verbreitende Schönheit, nicht zu verwechseln mit dem kerzenwarmen, frommen Tintinnabuli-Stil eines Arvo Pärt. Man könnte aber bei den ruppigen Sforzati, den großen Vibrati und Glissandi und dem geräuschhaften, manchmal flötenartigen, sehr leisen, Spiel am Steg oder auf dem Griffbrett an Bartók oder Ligeti (oder Cage mit seinem Streichquartett von 1950) denken – diesen Rang würde ich Clara Iannotta auch zuweisen, wenn es denn an mir wäre, Künstlerinnen einen Rang zuzuweisen. Kurzum: Limun: super klasse.
Polynj für Violoncello und Klavier (2018) von Aleksandra Karastoyanova-Hermetin hinterließ bei mir keinen bleibenden Eindruck, was nicht gegen das Stück sprechen muss.
Würd’s noch einmal hören wollen, doch bei YouTube ist es nicht, und auch sonst nirgendwo.
Hier der Text aus dem Programmbuch von Eckhard Weber:

Aber, in diesen unruhigen Zeiten, die die Welt, wie wir sie kannten, verändern werden – und ich rede jetzt nicht nur vom Corona-Virus, sondern auch vom beschämenden europäischen Asyl-Totalversagen, vom Triumph moralischer Verkommenheit in der Politik vieler Länder, vom Klimawandel, vom Artensterben, von der Vermüllung -, ist mir, ehrlich gesagt, mehr nach tröstlicher Musik (neue Musik pflegt, wenn sie gut ist, untröstlich zu sein), also verlinke ich hier jetzt noch den Song Paradise von Nilüfer Yanya.
Jazzi Bobbis Saxophon bringt einen Sade-Vibe hinein, aber die Musik ist nicht klebrig-schmachtend, sondern ein bisschen rauh und maulig, kann sein mit Bereitschaft zur Party, ohne den Glauben daran. Baby Blu ist das Äußerste an Disco-Life, das Nilüfer Yanya aufbringt, und da steckt die Melancholie ja schon im Titel. – „The feeling is good” in Monsters Under the Bed singt sie mit Beerdigungsstimme. Das hat doch was!

Deniz Utlu, Ich fühle deinen Schmerz. Nilüfer Yanya im Porträt. Der Tagesspiegel, 16.4.2019.

Ultraschall Berlin: oenm im Heimathafen (1/2)

Das Konzert des österreichischen ensembles für neue musik, das sich – vielleicht in Anlehnung an die Österreichische Bundesbahn (öbb) – oenm nennt, war ganz den Werken von Komponistinnen gewidmet. Es fand am 17. Januar 2020 im Heimathafen Neukölln statt: So heißt seit seiner Neueröffnung kurz nach der Wende der im Jahr 1876 errichtete Saalbau Neukölln. Das Konzert war in den ehemaligen Ballsaal gelegt worden, und Neukölln, übrigens, war 1876 noch eine eigenständige Stadt und hieß auch nicht Neukölln, sondern Rixdorf. Diesen Namen behielt sie bis zum 27. Januar 1912. An jenem Tag feierte Kaiser Wilhelm II seinen 53. Geburtstag, zu welchem Anlass die Umbenennung in Neukölln erfolgte, das 1920 schließlich in Groß-Berlin aufging. (Credits: Wikipedia.) – Ich nehme an, dass auch das speckige Kleinmachnow eines Tages in den Berliner Teig geknetet werden wird, aber noch ist es nicht so weit.

Eröffnet wurde das Konzert mit dem Stück Kaput II (2017) von Manuela Kerer, über die das Programmheft mitteilt: „Staunt gern und ist ständig auf der Suche nach Überraschungen”. Das etwa sechsminütige Stück für Cembalo, Paetzoldflöte, Harfe, Querflöte und Tape dreht sich um die zeitgemäßen Themen Funktionsuntüchtigkeit und Müll. Die Konzertbesucher nahmen (staunend, überrascht) zur Kenntnis, dass die Instrumente der Musikerinnen christomäßig in Plastik eingewickelt waren (exakte Bedienung unmöglich), Cembalo und Harfe zusätzlich präpariert. Eine muzacartige Tonsequenz kam als Tonkonserve herein: Diese Teile der Komposition hatte Manuela Kerer verworfen, ihr aber, konzeptuell folgerichtig, in Dauerschleife unterlegt – als tönender Abfall. Die Musikerinnen hielten auf der Bühne mit ihrer ‚guten‘ Musik dagegen und rissen irgendwann gleichzeitig die Plastikfolie von ihren Instrumenten und warfen sie heftig zu Boden. Ein erinnyenhafter Moment.
Ob Kaput II ein gutes Stück ist? Wahrscheinlich schon. Ich habe es mit Freude und Interesse angehört.
Hier ein Mitschnitt von der Uraufführung durch das Ensemble airborne extended:

Danach Olga Neuwirths Ensemblestück Marsyas II (2005) für Flöte, Viola, Violoncello und Klavier eine okaye Sache, aber routiniert, letztlich egal. Handwerklich lässt sich gar nichts sagen. – Allerdings, dass sie einen Narren an Opern gefressen hat, macht mir die Komponistin schon länger verdächtig, mein Höreindruck kann dadurch getrübt sein. Diese künstlichen, hochsubventionierten Schlachtrösser des Konzertbetriebs … ich weiß nicht. Gut, auch Lachenmann hat eine Oper geschrieben. 😐 Meiner Meinung nach war Oper allenfalls noch zur Zeit des Hochrads akzeptabel. Wozu der Quatsch heute?

und rauchend und schruppwasserschluckend

(Zitat aus Charlotte Warsens Gedichtzyklus Plage, der im letzten Herbst bei kookbooks erschienen ist.)

Es wird jetzt immer schwieriger, die Berichterstattung zum Ultraschall Berlin Festival fortzuführen, zu der mich natürlich niemand aufgefordert hat, denn die Welt dreht sich weiter, und ich bin kaum noch in Hörweite zu dem, der ich am Freitag, den 17.1.2020, war. An diesem Tag nämlich (nachmittags) spielte die Klarinettistin Nina Janßen-Deinzer ein Solo-Recital im Heimathafen Neukölln, wozu sie – wenn das wichtig ist (ich meine, ja) – nicht geradezu barfuß, aber doch ohne Schuhe auf die Bühne trat. Mir gefiel diese unprätentiöse, einfache und wirksame Art, Stand zu haben.
Nina Janßen-Deinzer performte vier Stücke: zwei für Klarinette (Franco Donatoni, Helmut Lachenmann) und je eines für Bassklarinette (Bertram Wee) und Kontrabassklarinette (Bernhard Gander) – letztere ein acht oder neun Kilogramm schweres, unhandliches Teil, über das ich mir noch kein abschließendes Urteil gebildet habe, auch wenn ich dazu neige, es für überflüssig zu halten: der Mehrwert, den eine Kontrabassklarinette gegenüber einer Bassklarinette hat, scheint mir vergleichbar dem eines vierfachen gegenüber einem dreifachen Forte. – Ein zunächst angekündigtes zweites Stück für dies ungeschlachte Instrument, Solo des Franko-Griechen Georges Aperghis (2013/14), das mit einer Aufführungsdauer von zwanzig Minuten das mit Abstand längste des Abends (Nachmittags) gewesen wäre, wurde ohne genauere Erklärung gestrichen. Mein Nachbar zur Rechten nahm es bedauernd zur Kenntnis, wahrscheinlich kannte er es schon und hatte sich darauf gefreut; ich selbst hatte keine Meinung dazu, finde allerdings, dass, wenn ein Konzert (hinsichtlich seiner Dauer) um ein Drittel gekürzt wird, ein Kaffee oder ein Bier vom direkt benachbarten Café Rix fällig gewesen wären. Doch auch ohne Aperghis war es ein anspruchsvolles und (für die Musikerin) zweifellos anstrengendes Programm.
Übrigens, wie ich hier ohne Zusammenhang anbringe, gibt es eine Uniform der Neue Musik-Hörer, und die verlangt Schwarz, mindestens gedeckte Farben. (Ich vermute, dieses Outfit wird auch von den Anhängern neuester Kunst getragen.) Ich bildete unglücklicherweise keine Ausnahme, habe mir aber für nächstes Mal vorgenommen, mir etwas (zum Beispiel) Rotes anzuschaffen, um die Konformität zu stören, gegen die ich allergisch bin.

Clair von Franco Donatoni (1927-2000): dies vierzig Jahre alte Werk eröffnete das Recital. Es besteht aus zwei Teilen, die sich spiegelbildlich zueinander verhalten: im ersten fängt sich das Licht, im zweiten der Schatten; clair-obscur wäre so gesehen der passendere Titel gewesen. Gerade hab ich’s mir noch einmal auf YouTube angehört (interpretiert von Edmondo Tedesco). Die hohen, quiekenden, stechenden Töne des Anfangs hatte ich schon vergessen gehabt, auch die Läufe … Keine schlechte Musik, gewiss, aber auch keine Musik, die mich vom Hocker reißen würde. – Der Schattenpart war mehr was für mich.
Kam jetzt schon Lachenmann, oder erst Gander? morbidable (2014) von Bernhard Gander war jedenfalls das Stück für Kontrabassklarinette. Das Programmheft – ich hab’s hier liegen – zeigt das Bild eines stark tätowierten Mannes mit Iro, der ein Treppengeländer umarmt; die zugehörige biographische Skizze weist ihn als Heavy Metal-Fan aus, und dagegen ist ja nichts einzuwenden. Die Musik habe ich aber als irgendwie bieder und einfallslos in Erinnerung – das heißt, der Einfall erschöpft sich in der Wahl des Instruments. Sicher bin ich zu streng, aber: so hab ich’s wahrgenommen. Ein Rebellentum wurde behauptet, aber nicht eingelöst.
Ganz anders Dal Niente (Interieur III) (1970) von Helmut Lachenmann. Lachenmanns geniale Erfindung, das Augenmerk nicht zuerst auf die Töne selbst zu richten, sondern auf die Artikulation derselben, auf Begleitgeräusche des Atmens, der Klappen, des Mundstücks und so weiter, bedeutet nicht nur einen Bruch mit alten Gepflogenheiten (keinen Bruch mit der Tradition selbst), sondern vor allem eine Myriadisierung des Klangspektrums, eine welteröffnende Erweiterung des Hörbaren (des für das Hören wert Befundenen), klangsinnlich und farbenreich. Nina Janßen-Deinzer hat all diese Facetten und Nuancen fabelhaft ausgespielt.
Auch der junge Bertram Wee, dessen etwas dubios smegma betitelte Komposition (2019) – ich denke da gleich an einen schrecklichen Auftritt von Reyhan Şahin alias Lady Bitch Ray in der Harald Schmidt Show (damals mit dem Schwachmaten Oliver Pocher als Sidekick) – den exaltierten Abschluss des Konzerts bildete, konnte sich auf Nina Janßen-Deinzer verlassen, die das zehnminütige Werk für verstärkte Bassklarinette mit Furor und Risikobereitschaft zur glänzenden Uraufführung brachte. Viel Applaus.

Trio Accanto bei Ultraschall Berlin

Kompositionen* von Yu Kubawara, Christian Wolff, Johannes Schöllhorn und Georges Aperghis standen auf dem Programm des Trio Accanto, das in der Besetzung Saxophon, Klavier und Schlagzeug spielt und seit seiner Gründung vor fünfundzwanzig Jahren zahlreiche einschlägige Werke angeregt und aus der Taufe gehoben hat – auch beim Ultraschall-Auftritt war eine Uraufführung dabei: die Exercises 37 und 38 von Christian Wolff (neben seinem Renommée als Komponist bei Literaturfreunden auch als Sohn des Verlegerpaars Kurt und Helen Wolff bekannt: fünfundachtzig Jahre alt inzwischen).
Die beiden Exercises (2018) sind nicht nur hinsichtlich der Besetzung („Zwei oder mehr Spieler, alle denkbaren Instrumente”) frei: Christian Wolff geht es in seiner 1973 begonnenen Werkreihe (laut Auskunft des Programmtexts) um die Fragen von Autorschaft und Freiheit der Interpreten. – Sein Kollege Frederic Rzewski resümierte: „These scores do not de/prescribe the final resulting sound picture, but provide a map along which the players may travel.” – Zitiert nach AllMusic.
Der Komponist (ich paraphrasiere wieder Eckhard Webers Programmtext) stattet die Interpreten mit dem gleichen Notenmaterial aus, Taktstriche und Notenschlüssel fehlen darin, es gibt keine Hierarchisierung von Solo- und Begleitstimmen – was sie aus dem Notentext zu Gehör bringen und wer was spielt, steht ihnen frei.
Vermutlich haben die Musiker den Kuchen schon bei der Einstudierung des Werks unter sich aufgeteilt, jedenfalls brachten sie es in einer tadellos geschlossenen Form zu Gehör – oder wäre gerade das dann zu ‘tadeln’? -, die nichts von diesen abenteuerlichen Freiheiten ahnen ließ. Für mich aber kein Problem, mir hat’s gefallen, wozu – wie immer bei neuer Musik – auch der Schauwert z.B. eines großen Schlagzeugs beigetragen haben mag. (Dies gilt mehr noch für das spektakulär virtuose Trio Funambule [Seiltänzer-Trio] von Georges Aperghis, mit dem das Konzert seinen furiosen Abschluss fand.)
Das Konzert des Trio Accanto liegt jetzt länger als eine Woche zurück, den Mitschnitt habe ich mir noch nicht angehört. Bilde ich mir es nur ein, dass die Darbietung der Exercises eine jazzige Lässigkeit ausstrahlte (darin wäre ja dann doch etwas von der vermissten Freiheit bewahrt)?

In Between von Yu Kuwabara (geb. 1984): befremdlich, sonderbar. Ein Stück, bei dem ich ‘draußen’ blieb; ich hätte es gern ein zweites Mal gehört. – Fremdheit und Härte sind Programm:
„In meinen Kompositionen untersuche ich meine eigene musikalische Sprache zwischen Vergangenheit und Gegenwart, ebenso wie zwischen Japan und der Welt. Ich versuche dabei immer zu reflektieren, was die Essenz und die Natur japanischer Musik ist”, zitiert das Programmheft die Komponistin.
Die produktive Enttäuschung, dass Musik in Japan nicht gleich (=) altmodischer Jazz und Wiener Klassik ist (wie bei Haruki Murakami), sondern z.B. das Spiel auf der Bambusflöte Shakuhachi (hier von Marcus Weiss am Saxophon zitiert), buddhistische Gesänge, hohltönende Trommeln (vom teilweise präparierten Klavier nachgeahmt) und Glocken, war nur um den Preis des Nicht-Gefälligen, des Nicht-Gefallenmüssens zu haben. Respekt! Wie mutig, und wie selbstbewusst!
Die im Begleittext erwähnte Überlagerung zweier ‘sich beißender’ Musiken habe ich nicht wahrgenommen. Ich werde mir In Between noch einmal anhören.

Zu faul, etwas zu Sinaïa 1916 von Johannes Schöllhorn zu schreiben, verweise ich wieder auf das Programmheft. Außerdem bin ich kein Komplettist, und Geld kriege ich ja auch keins.

* Erläuterungen zu den aufgeführten Werken können hier nachgelesen werden.

Clara Iannottas Seestücke

Im Heimathafen Neukölln fanden gestern [gestern heißt hier Donnerstag, denn Freitag habe ich angefangen zu schreiben] die Konzerte 2 und 3 von Ultraschall Berlin statt.
Das New Yorker JACK Quartet spielte die Streichquartette von Clara Iannotta:
2. dead wasps in the jam-jar (III) (2017-2018)
1. A Failed Entertainment (2013)
4. You crawl over seas of granite (2019)
3. Earthing – dead wasps (obituary) (2019)
[Man sieht hier, das die im Programmheft abgedruckte chronologische Reihenfolge zugunsten einer logischen Reihung geändert wurde. Es ging los mit den Wespen, und es endete mit den Wespen, der Granit rückte an die dritte Stelle vor, und das „Entertainment” failte (nein, nicht) auf Platz zwei.]
Zum Konzert des Trio Accanto später, piano piano.
Drei der vier aufgeführten Stücke (2, 3, 4) kreisen um das Thema des Meeresgrunds („Von diesem wissenschaftlichen Feld bin ich wirklich besessen”, C.I.), um die „Vorstellung »der tiefsten Schicht im Ozean, wo ständiger Druck und ewige Bewegung das Stillstehen der Zeit zu formen scheinen«”.
Flageoletts, druckloses Wischen des Bogens (über das Griffbrett), hart kratzender Strich, knurrend (unterhalb des Saitenhalters), körperlose Pizzicati, farblos durchlaufende Geräuschbänder, Obertonflirren, Verwaschung, Auflösung, jähe Kompression – diese ‘ausdruckslose’, ausgebleichte, innerhalb ihres abgestuften Graubereichs aber wieder auch farbig schillernde Klangpalette, die die Dingfestigkeit konturierter Töne eher vermeidet, bildet den Zauberkasten von Clara Iannottas bildkräftiger Musik. Die ‘submarinen’ Effekte, die sie mittels der so geschaffenen Klangoberfläche erzielt, sind außerordentlich. (Hörempfehlung, außerhalb des Quartettzusammenhangs: Eclipse Plumage.)
Ohne mich groß auszukennen, würde ich vermuten, dass in Clara Iannottas Komponieren Helmut Lachenmanns musique concrète instrumentale und die Musik der Spektralisten aufgenommen und in ein individuelles Idiom übersetzt wird – eine Individualität, auf die die Komponistin wert legt: sie kann stolz darauf sein.
A Failed Entertainment, das mir auf der gleichnamigen Iannotta-CD gut gefiel, fällt im direkten Vergleich mit den drei späteren Streichquartetten etwas ab. Die Meisterschaft vor allem von You crawl over seas of granite (eine Uraufführung) und Earthing – dead wasps (obituary), aber auch von dead wasps in the jam-jar (III), das ebenfalls stark ist, wird hier (noch) verfehlt, weil die Komponistin nicht vollständig ihrer Radikalität vertraut. Der Klangraum, den sie kreiert, klingt zwar schon ganz nach ihr – das Booklet erwähnt „die einbeziehung von tischglocken, einer vogelpfeife, eines styroporblocks und [die] präparation der streichinstrumente mit büroklammern” -, aber die Erweiterung des Spielgeräts wirkt wie etwas Aufgesetztes, ein Fremdkörper, der das Klangbild aufbricht anstatt es zu verdichten. Aber, wie gesagt, es kann auch ein ‘Fehler’ der Programmgestaltung sein. Wer weiß, wie sich das Werk in Nachbarschaft eines Brahms-Quartetts ausnehmen würde.

Weiter
In diesen Tagen wurden die Streichquartette von Clara Iannotta für eine CD-Produktion aufgenommen, die im Laufe des Jahres in der Edition Zeitgenössische Musik erscheinen wird.
Jetzt schon lieferbar eine Porträt-CD mit dem Titel A Failed Entertainment (Edition RZ, Berlin 2015).
Ein Gespräch, das Leonie Reineke mit der Komponistin führte, kann hier nachgehört werden. Die vollständige (Lese-)Fassung („Clara Iannotta: Konstantes Unbehagen”) ist auf dieser Seite verlinkt.
Soundcloud: https://soundcloud.com/claraiannotta

Filme mit „Monsieur“ im Titel seh ich mir nicht an

Oder mit „Madame” oder „Ziemlich”.

Blogeinträge brauchen eine Überschrift, ich hab’s nicht erfunden.

Man erntet – warum verlangt das Deutsche in diesem Zusammenhang genau dieses Verb? – besorgte Blicke, wenn man sagt, man gehe zu(m) Ultraschall. Man muss dann gleich beruhigen: Nein, nein, zum Festival Ultraschall, „Festival für neue Musik”, wie es in der Eigenbezeichnung heißt, mit kleinem N, in Abgrenzung zur historischen Neuen Musik. – Das älteste hier aufgeführte Werk ist von 1965, die meisten Kompositionen stammen aus den letzten Jahren. (Wie beim Theater gibt’s bei der neuen Musik einen Uraufführungskult. Das Nachspielen bereits anderweitig uraufgeführter Werke: weniger beliebt. Das ist aber nicht das Problem von Ultraschall Berlin, das trotz einiger Uraufführungen kein Uraufführungsfestival ist. Lob dafür!)
Im Rückblick auf das gestrige Eröffnungskonzert hätte man sich aber doch Sorgen machen können. Der ursprünglich vorgesehene Dirigent war erkrankt, ein Kollege, Johannes Kalitzke, der für das Abschlusskonzert engagiert war, sprang ein und ritzte die Sache. Ein Probentag aber war verlorengegangen, und eines der Stücke, die hätten gespielt werden sollen, wurde gestrichen. Anstatt nun Sarah Nemtsovs dropped.drowned (2017) für großes Orchester und Zuspiel zweimal aufzuführen, was bei einer Spieldauer von 18 Minuten wenigstens zeitlich möglich gewesen wäre, blieb es bei einem – übrigens ausgezeichneten – Durchgang.
Nach der Pause wurde das 2. Violinkonzert (2018) von Jörg Widmann aufgeführt, mit Carolin Widmann als Solistin. Hier zeigte sich auf verblüffende Weise, dass das kalendarisch Neue nicht immer mit dem ästhetisch Neuen zusammengeht. Tatsächlich ist dies Violinkonzert gewerbsmäßige Repräsentationskunst, nicht grundsätzlich anders als irgendein ausgeliehener Ölschinken in einem Berliner Abgeordnetenbüro, neoromantisch im Geist, mit eingesetzten Krach-Blöcken und einigen avantgardistischen Applikationen, die man in anderem Zusammenhang als modern hätte klassifizieren können, die bei Jörg Widmann aber nur Dekor sind. Ich bedauere das sagen zu müssen, weil die Aufführung durch Carolin Widmann und das Deutsche Symphonie-Orchester Berlin ganz tadellos war und der Komponist sein Handwerk versteht. Die Ästhetik des Werks aber ist höchst fragwürdig.
Jetzt freue ich mich auf den zweiten Ultraschall-Abend, der mit einem Konzert beginnt, das den vier Streichquartetten von Clara Iannotta gewidmet ist, einer 1983 geborenen, in Berlin lebenden Komponistin – Musik, die sich durch feine Klangtexturen, Sprödigkeit, Forscherneugier und Witz auszeichnet.

Strukturierte Abfragesprache

Für sieben von dreizehn Konzerten des an diesem Mittwoch beginnenden Ultraschall Berlin Festivals (das ich zum ersten Mal besuchen werde) habe ich mir Karten gekauft. Die kommende Woche wird für mich also ganz im Zeichen der Musik stehen, zum Nachteil der auf drei Tage gestauchten Erwerbsarbeit, der ich ansonsten übrigens gerne nachgehe.
Das Wochenende habe ich mir aber weitgehend freigehalten, weil eine Freundin aus Süddeutschland nach Berlin kommen wird, ein seltener Gast.
Außerdem findet am Samstag die jährliche Wir haben es satt-Demonstration für eine Wende in der Landwirtschaft statt; mit einer schwachen Ministerin Julia Klöckner (oder vorher Christian Schmidt, Ilse Aigner, Horst Seehofer usw.) natürlich nicht zu machen – auf die Nerven fallen muss man ihr trotzdem. Und mag’s nützen oder nicht: Meinen 60 Euro-Jahresbeitrag für die GLS Bank habe ich genau für diesen Zweck bestimmt: die Abkehr von der industriellen Landwirtschaft, die trotz ihrer verheerenden Folgen und Tatsachen (Verwüstung, Überfischung, Massentierhaltung, Insektensterben, Artensterben, Monokulturen, Hunger) immer noch ihre dummen, skrupellosen Fans in Bundesregierung, Europäischem Parlament und in den Landesregierungen hat.
Dennoch … ich weiß nicht, ob ich hingehe, tut mir leid. Es ist ja nicht nur Wochenende; ich habe auch den Wunsch nach Einzelnheit (was vielleicht damit zu tun hat, dass ich lange Zeit ein Zwölftel war) – das spräche dagegen, mich in die Masse zu begeben. Nur ein Zweitel könnte ich noch sein.
Außerdem macht mich die Ungeselligkeit Sa So dann wieder soziabel von Mo bis Fr, oder nicht?

Hier ein jüngerer Song (2018) von Róisín Murphy, den ich sehr gelungen finde. Das Video … meh, aber ohne war das Stück nicht zu bekommen. (Ich habe keine Antenne für Hedonismus. Er scheint mir unter allen denkbaren Umständen eine unangemessene Haltung.)

Mit SQL, Structured Query Language, habe ich mich heute abend schon befasst. Ich hatte letztes Jahr mit einem Tutorial angefangen, aber nicht lange durchgehalten, jetzt also noch mal von vorn. – Ein anderes Thema, mit dem ich mich beschäftige (dies aber während der Arbeitszeit), ist database normalization. Auch da könnte ein Tutorial nicht schaden, aber eins nach dem andern.
Vor einigen Tagen träumte ich davon, wie ich Reißnägel von der Straße aufhob.

frag nach dem Umweg

Mit Begeisterung höre ich das Album New York Trio von Angelika Niescier (as), Christopher Tordini (b) und Gerald Cleaver (dr), mit dem Gast Jonathan Finlayson (tp), das in diesem Sommer bei Intakt Records, Zürich, erschienen ist. In seiner knappen Rezension für die Zeitschrift Jazzthing resümierte Hans-Jürgen Schaal: „eigenwillige Abläufe und Stimmungen, die man nur noch schwer schubladisieren kann. Ein (wahrscheinlich) ganz großes Album. Aber es verlangt Hingabe, auch vom Hörer.”
Ja, klar, zum Nebenbeihören nicht geeignet. Und ein großes Album, gewiss! – abwechslungsreich. – Den Mörderbeat von Push/Pull kann ich mir auch von bratzenden Heavy Metal-Gitarren gespielt vorstellen, diese Energie hat das Stück. Daneben gibt’s aber auch feine, leicht umzuwehende Klangbauten wie Chancery Touting oder das abschließende A Truck Passing a Clock Tower.
Im Beiheft ist über dieses zu lesen (es spricht die Saxophonistin): „I developed a system using chance to establish the length of rest and impulse for every player. We strictly played by the clock. The sheet was a chart, for example: 00:00 – 00.15 play! 00:16 – 01:23 pause!”
Systematisch auch das Vorgehen bei Chancery Touting, dessen klangliche Gestaltung per Würfelwurf festgelegt wurde, während Cold Epiphany auf der Fibonacci-Zahlenfolge fußt.
Diese strukturierten freien Stücke sind eine – wichtige – Facette des Albums. Eine andere blitzt in …ish auf (devilish?), einem in Trioformation dargebotenen Expressstück von vier Minuten Dauer, eng geschnürt, zackig hingeschmissen, und wieder eine andere, bodenlos traurig, in der Klage Ekim, in der Angelika Niescier die Komponistin Nazife Güran zitiert.
Schwierig, ein Lieblingsstück zu benennen – vielleicht das großräumig angelegte, spannungsreiche 5.8, Push/Pull, oder das in einem früheren Beitrag gepostete The Surge, furioser Beginn von New York Trio.

Was sonst geschah. Nach einundzwanzig Monaten war ich mal wieder im Kino, erst, allein, in Where’d You Go, Bernadette von Richard Linklater, dann, selbdritt, in Marriage Story von Noah Baumbach – der erste schöner anzugucken, der zweite künstlerisch bedeutender: beide gut. (Beides Familienfilme, selbstverständlich.) Heute hätte ich auch wieder ins Kino gehen können, aber ich bin ein bisschen verschnupft und brauche ginger, in Griffweite.

Aus niederrheinischer Richtung traf per Post am letzten Novembertag ein Tee-Adventskalender ein, an dem ich mich täglich erfreue und der eine gute Medizin ist. Herzlichen Dank! – Ebenfalls in der Post das neue Heft des Jazzpodium – ganz dem Label ECM gewidmet, das sein fünfzigjähriges Bestehen feiert. (ECM steht für ete|pe|te|te.)

Es ist auch die Zeit der Adventsfeiern. Mit dem Garments Database Team waren wir im DaBangg und (vorher) im Schokoladenpalast Rausch am Gendarmenmarkt. – Gestern Nikolausabend in Schöneberg, von meiner Nichte organisiert und liebevoll durchgeführt, nächste Woche dann das jährliche Winter Team Event. Vielleicht lädt auch mein Chef in der Buchhandlung ein, er war sich noch nicht sicher.
Weihnachten selbst habe ich nichts Konkretes geplant, vom schrecklichen Silvester ganz zu schweigen. Eine jahrelang nicht gesehene Freundin aus Aachen kommt nach Berlin, und wir werden uns natürlich treffen. Auch die römische dottoressa wird in Tegel landen. Ich freue mich schon, mit ihr – kältegeschützt – am See zu sitzen, Kaffee zu trinken und die reglosen Kormorane zu beobachten.
Am 24.12., 27.12. und 31.12. muss ich arbeiten, zwei halbe Tage und einen ganzen, weiter am 2.1. Dafür nehme ich mir vielleicht Mitte Januar frei, um zum Ultraschall Berlin Festival zu gehen, was ich immer schon mal vorhatte.

[Überschrift aus dem Gedicht „zweiter Wirbel/Anblick der Atlanten” von Georg Leß, in: Die Hohlhandmusikalität. Gedichte. kookbooks, Berlin 2019, S. 22]