Chaya XCX & Christine & the JACK Quarteens – Gone / Hidden

Wer sich für Pop und neue Musik interessiert, dürfte an den verwegenen Mashups von YouTuber Lil Geti seine Freude haben. Hier wurde der Hit Gone von Charli XCX und Christine and the Queens (2019, ich verlinke mal die Aufnahme von BBC Radio 1) mit Chaya Czernowins Komposition Hidden (2013/14, für Streichquartett und Elektronik) kombiniert, deren ursprüngliche Dauer natürlich auf Popformat verkürzt wurde.

„This song is about those situations where you are surrounded by loads of people but feel so isolated and alone. I feel like that a lot of the time in social situations. I never know what to do with myself, I feel so insecure and out of place and lost. I feel like a lot of people I know get those feelings. When it comes to me, I’ll either party through it and try to escape my feelings or I will totally cave in. The emotions that come alongside anxiety are so huge and crippling. This song is about breaking down but it’s also about breaking free. It feels like one big external scream.” – Charli XCX

HIDDEN versucht zu erkunden, was hinter der Musik und ihren Empfindungen verborgen liegt, bis hin zum jenseits unserer Wahrnehmung liegenden Unhörbaren. Wir ahnen nicht, was existiert, es könnte fremd, nicht entzifferbar sein. HIDDEN ist eine 45minütige, sehr langsame Hörerfahrung, die unsere Ohren zu Augen werden lässt. Dem Ohr wird Raum und Zeit gegeben, sich in der unvorhersehbaren Klanglandschaft zu orientieren, die einer felsigen Unterwasserlandschaft ähnelt, gefüllt mit Vibrationen, die eher gefühlt als gehört werden. Schicht um Schicht lichtet sich der Nebel. Monolithische Blöcke von „Klangfelsen” werden aus verschiedenen Blickwinkeln betrachtet. Es ist ein Stück über den Versuch, die Entstehung des Ausdrucks aufzuspüren, zu erkennen und wahrzunehmen.” – Chaya Czernowin

Die Arbeit von Lil Geti geht über den Mix hinaus und umfasst auch die Titel und Collagen, die in den einzelnen Videos und Stills gezeigt werden.

Das klangliche Ergebnis passt gut zu unserer am Rande des Abgrunds taumelnden Welt.

Ich habe heute in der Mittagspause das alte Theme meines Blogs (Libre 2) durch ein neues ersetzt (Twenty Twenty-Three).

Rembobinage (5)

Diesen Monat feiert Im Dickicht sein zehnjähriges Bestehen, tada.
Aus diesem Anlass werde ich mein Kulturblatt für maximal vier Wochen mit diversen Beiträgen befüttern, die seit Februar 2013 erschienen sind.
Da im Internet sowieso schon alles auf Englisch ist, sehe ich davon ab, die Reihe Revisited zu nennen; das französische Rembobinage bedeutet Zurückspulen (la bobine = die Spule)

Dieser Beitrag ist so nicht erschienen, er kombiniert drei Blog-Einträge zur Komponistin Clara Iannotta von Januar, März und Oktober 2020, soweit sie sich auf sie beziehen, hier also gekürzt.
(An einer Stelle habe ich, für die Wiederveröffentlichung, Kommata durch Gedankenstriche, und das Wort U-Boot durch Tauch-Boot ersetzt, auch mehr Absätze eingefügt.)
Bei der diesjährigen Ausgabe des Ultraschall Berlin Festivals wurde auch ein Werk von ihr gespielt, Memory Jolts. Flashes of Pink in the Brain (2020, für sechzehn Streicher), das hab ich leider verpasst.

Auf die Komposition von Olga Neuwirth folgte Limun (2011) von Clara Iannotta, der Berlin-Römerin, von deren Musik hier vorher schon die Rede war. Geschrieben für Violine, Viola und 2 Umblätterer, brachte es den szenischen Charakter des ersten Stücks des Abends zurück
aufs Deck.
aufs Tapet.
auf die Bühne.
Bevor ich es mir jetzt noch einmal anhöre, rufe ich mir die beiden Umblätterer in Erinnerung (ernster Habitus), die plötzlich winzige seidenumwickelte Mundharmonikas aus dem Ärmel zogen und darauf gleißend-hell-fiepende Töne erzeugten, die einen Hund zum Jaulen gebracht hätten. Schmerzhaft und nicht ohne Humor, auch wenn das Stück sicher nicht ‚witzig‘ gemeint, und in seiner irisierenden zweiten Hälfte schlicht schön ist – das Schöne ist selten lustig. Es ist auch eine kalte, sternenhafte, keine Behagen verbreitende Schönheit, nicht zu verwechseln mit dem kerzenwarmen, frommen Tintinnabuli-Stil eines Arvo Pärt. Man könnte aber bei den ruppigen Sforzati, den großen Vibrati und Glissandi und dem geräuschhaften, manchmal flötenartigen, sehr leisen, Spiel am Steg oder auf dem Griffbrett an Bartók oder Ligeti (oder Cage mit seinem Streichquartett von 1950) denken – diesen Rang würde ich Clara Iannotta auch zuweisen, wenn es denn an mir wäre, Künstlerinnen einen Rang zuzuweisen. Kurzum: Limun: super klasse.
[Ich brauche sechzehn Räume, 14.3.2020]

You crawl over seas of granite, ein Kompositionsauftrag des JACK Quartets […] ist das neueste und radikalste Streichquartett von Clara Iannotta“, lese ich im Booklet zur jüngst erschienenen CD Earthing (Wergo, Mainz 2020).
„So radikal, dass die vier Musiker zur Sicherheit auf Billiginstrumente umstiegen.”
Von diesem Zaubertrick habe ich natürlich nichts mitbekommen, als das Werk im Januar beim Ultraschall Festival uraufgeführt wurde.
Die Instrumente werden um mehr als eine Oktave nach unten gestimmt und die Saiten mit Büroklammern präpariert. Dies sind die äußeren Mittel, mit denen die Komponistin eine bildstarke Musik erschafft, die den Hörer im Nu auf den Grund des Marianengrabens versetzt, elf Kilometer unter dem Meeresspiegel, jene Tiefe, in die die Ozeanographen Jacques Piccard und Don Walsh – mit denen Theresa Beyer ihren schönen Einführungstext [zur CD] beginnt – im Jahr 1960 hinabtauchten.
Am Meeresgrund gibt es kein natürliches Licht, kein Sonnenlicht, und doch ist es nicht vollkommen finster: die dort lebenden Tiere und Organismen emittieren ein irreales Leuchten.
Schummer, Schlamm, Wasserdruck, der das Tauch-Boot knacken und knirschen macht, Mulmigkeit, Ausgesetztsein, ins Unendliche gedehnte Zeit, all dies ist in den ozeanischen Kompositionen Clara Iannottas zu hören und körperlich zu erfahren – atemberaubend.
Reizvoll an speziell diesem Werk, You crawl over seas of granite (2019/20), das die altehrwürdige Gattung Streichquartett bis auf die Wurzel neu aufzieht, ist auch, dass die Komponistin hier etwas von ihrer Kontrolle abgibt. Extrem heruntergestimmte Instrumente entwickeln eine nicht bis ins einzelne steuerbare Eigendynamik. Paradoxerweise hat genau dies Leinelassen die Künstlerin ihrer Vision näher gebracht.

Damit nicht in direktem Zusammenhang stehend, aber ich muss dennoch daran denken: Im aktuellen Heft des Jazz Podiums schreibt der Komponist Bernhard Lang von dem Problem, dass die Partituren neuer Musik oft so kompliziert sind, dass die Interpreten „mehr dem Leseprozess als dem sich gegenseitig Hören verpflichtet” seien. Sein Kollege Georg Friedrich Haas habe gerade daraus (dies zumindest Langs Vermutung) die Idee entwickelt, in seiner Komposition In Vain „das Ensemble über weite Strecken auswendig im Dunkeln” spielen zu lassen.
[Fies Tüch, wat siche lecker, 10.10.2020]

Clara Iannottas Seestücke

[…] statt.
Das New Yorker JACK Quartet spielte die Streichquartette von Clara Iannotta:
dead wasps in the jam-jar (III) (2017-2018)
A Failed Entertainment (2013)
You crawl over seas of granite (2019)
Earthing – dead wasps (obituary) (2019)
[…]
Drei der vier aufgeführten Stücke (2, 3, 4) kreisen um das Thema des Meeresgrunds („Von diesem wissenschaftlichen Feld bin ich wirklich besessen”, C.I.), um die „Vorstellung »der tiefsten Schicht im Ozean, wo ständiger Druck und ewige Bewegung das Stillstehen der Zeit zu formen scheinen«”.
Flageoletts, druckloses Wischen des Bogens (über das Griffbrett), hart kratzender Strich, knurrend (unterhalb des Saitenhalters), körperlose Pizzicati, farblos durchlaufende Geräuschbänder, Obertonflirren, Verwaschung, Auflösung, jähe Kompression – diese ‘ausdruckslose’, ausgebleichte, innerhalb ihres abgestuften Graubereichs aber wieder auch farbig schillernde Klangpalette, die die Dingfestigkeit konturierter Töne eher vermeidet, bildet den Zauberkasten von Clara Iannottas bildkräftiger Musik. Die ‘submarinen’ Effekte, die sie mittels der so geschaffenen Klangoberfläche erzielt, sind außerordentlich. (Hörempfehlung, außerhalb des Quartettzusammenhangs: Eclipse Plumage.)
Ohne mich groß auszukennen, würde ich vermuten, dass in Clara Iannottas Komponieren Helmut Lachenmanns musique concrète instrumentale und die Musik der Spektralisten aufgenommen und in ein individuelles Idiom übersetzt wird – eine Individualität, auf die die Komponistin wert legt: sie kann stolz darauf sein.
A Failed Entertainment, das mir auf der gleichnamigen Iannotta-CD gut gefiel, fällt im direkten Vergleich mit den drei späteren Streichquartetten etwas ab. Die Meisterschaft vor allem von You crawl over seas of granite (eine Uraufführung) und Earthing – dead wasps (obituary), aber auch von dead wasps in the jam-jar (III), das ebenfalls stark ist, wird hier (noch) verfehlt, weil die Komponistin nicht vollständig ihrer Radikalität vertraut. Der Klangraum, den sie kreiert, klingt zwar schon ganz nach ihr – das Booklet erwähnt „die einbeziehung von tischglocken, einer vogelpfeife, eines styroporblocks und [die] präparation der streichinstrumente mit büroklammern” -, aber die Erweiterung des Spielgeräts wirkt wie etwas Aufgesetztes, ein Fremdkörper, der das Klangbild aufbricht anstatt es zu verdichten. Aber, wie gesagt, es kann auch ein ‘Fehler’ der Programmgestaltung sein. Wer weiß, wie sich das Werk in Nachbarschaft eines Brahms-Quartetts ausnehmen würde.

Weiter
In diesen Tagen wurden die Streichquartette von Clara Iannotta für eine CD-Produktion aufgenommen, die im Laufe des Jahres in der Edition Zeitgenössische Musik erscheinen wird.
Jetzt schon lieferbar eine Porträt-CD mit dem Titel A Failed Entertainment (Edition RZ, Berlin 2015).
Ein Gespräch, das Leonie Reineke mit der Komponistin führte, kann hier nachgehört werden. Die vollständige (Lese-)Fassung („Clara Iannotta: Konstantes Unbehagen”) ist auf dieser Seite verlinkt.
Soundcloud: https://soundcloud.com/claraiannotta
[Clara Iannottas Seestücke, 17.1.2020]

Clara Iannottas Seestücke

Im Heimathafen Neukölln fanden gestern [gestern heißt hier Donnerstag, denn Freitag habe ich angefangen zu schreiben] die Konzerte 2 und 3 von Ultraschall Berlin statt.
Das New Yorker JACK Quartet spielte die Streichquartette von Clara Iannotta:
2. dead wasps in the jam-jar (III) (2017-2018)
1. A Failed Entertainment (2013)
4. You crawl over seas of granite (2019)
3. Earthing – dead wasps (obituary) (2019)
[Man sieht hier, das die im Programmheft abgedruckte chronologische Reihenfolge zugunsten einer logischen Reihung geändert wurde. Es ging los mit den Wespen, und es endete mit den Wespen, der Granit rückte an die dritte Stelle vor, und das „Entertainment” failte (nein, nicht) auf Platz zwei.]
Zum Konzert des Trio Accanto später, piano piano.
Drei der vier aufgeführten Stücke (2, 3, 4) kreisen um das Thema des Meeresgrunds („Von diesem wissenschaftlichen Feld bin ich wirklich besessen”, C.I.), um die „Vorstellung »der tiefsten Schicht im Ozean, wo ständiger Druck und ewige Bewegung das Stillstehen der Zeit zu formen scheinen«”.
Flageoletts, druckloses Wischen des Bogens (über das Griffbrett), hart kratzender Strich, knurrend (unterhalb des Saitenhalters), körperlose Pizzicati, farblos durchlaufende Geräuschbänder, Obertonflirren, Verwaschung, Auflösung, jähe Kompression – diese ‘ausdruckslose’, ausgebleichte, innerhalb ihres abgestuften Graubereichs aber wieder auch farbig schillernde Klangpalette, die die Dingfestigkeit konturierter Töne eher vermeidet, bildet den Zauberkasten von Clara Iannottas bildkräftiger Musik. Die ‘submarinen’ Effekte, die sie mittels der so geschaffenen Klangoberfläche erzielt, sind außerordentlich. (Hörempfehlung, außerhalb des Quartettzusammenhangs: Eclipse Plumage.)
Ohne mich groß auszukennen, würde ich vermuten, dass in Clara Iannottas Komponieren Helmut Lachenmanns musique concrète instrumentale und die Musik der Spektralisten aufgenommen und in ein individuelles Idiom übersetzt wird – eine Individualität, auf die die Komponistin wert legt: sie kann stolz darauf sein.
A Failed Entertainment, das mir auf der gleichnamigen Iannotta-CD gut gefiel, fällt im direkten Vergleich mit den drei späteren Streichquartetten etwas ab. Die Meisterschaft vor allem von You crawl over seas of granite (eine Uraufführung) und Earthing – dead wasps (obituary), aber auch von dead wasps in the jam-jar (III), das ebenfalls stark ist, wird hier (noch) verfehlt, weil die Komponistin nicht vollständig ihrer Radikalität vertraut. Der Klangraum, den sie kreiert, klingt zwar schon ganz nach ihr – das Booklet erwähnt „die einbeziehung von tischglocken, einer vogelpfeife, eines styroporblocks und [die] präparation der streichinstrumente mit büroklammern” -, aber die Erweiterung des Spielgeräts wirkt wie etwas Aufgesetztes, ein Fremdkörper, der das Klangbild aufbricht anstatt es zu verdichten. Aber, wie gesagt, es kann auch ein ‘Fehler’ der Programmgestaltung sein. Wer weiß, wie sich das Werk in Nachbarschaft eines Brahms-Quartetts ausnehmen würde.

Weiter
In diesen Tagen wurden die Streichquartette von Clara Iannotta für eine CD-Produktion aufgenommen, die im Laufe des Jahres in der Edition Zeitgenössische Musik erscheinen wird.
Jetzt schon lieferbar eine Porträt-CD mit dem Titel A Failed Entertainment (Edition RZ, Berlin 2015).
Ein Gespräch, das Leonie Reineke mit der Komponistin führte, kann hier nachgehört werden. Die vollständige (Lese-)Fassung („Clara Iannotta: Konstantes Unbehagen”) ist auf dieser Seite verlinkt.
Soundcloud: https://soundcloud.com/claraiannotta