Marcel Beyer Dämonenräumdienst

Dämonenräumdienst, das neue Gedichtbuch von Marcel Beyer. Sechsundsiebzig Gedichte zu je zehn Strophen zu je vier Versen. Das formale Gerüst erinnert vage an die fachsprachen Ulf Stolterfohts, der da auch immer ganz strikt ist – im strengen Geviert hellicht stiebend dann ein anarchischer Flohzirkus voller Witz und Aberwitz.

Vielleicht wollte sich Marcel Beyer von Ballast befreien, die Fesseln des vielfach preisgekrönten Schriftstellers zu Springseilen machen.
„[…] ich schreibe diese Gedichte / wie ein Kind, das heimlich / tut und einfach froh ist, wenn / niemand mit ihm schimpft.”
Das hat ja im großen und ganzen auch geklappt, allerdings um den Preis, dass die Texte mit Leichtgut verwechselt werden können. Hier wird eine Verwechslung vorliegen.
Es gibt Ausnahmen.

Übrigens lässt sich eine Peter Huchel-Preis-Jury (2021 sind dies: Michael Braun, Kristina Maidt-Zinke, Wiebke Porombka, Hubert Spiegel, Stefanie Stegmann, Beate Tröger, Evi Zemanek, Ekkehard Skoruppa (ohne Stimme), Andreas Schüle (ohne Stimme)) von dieser – also doch? – geringen Einwaage nicht beeindrucken und zeichnet Marcel Beyer aus:

„Marcel Beyers Gedichte sind Abenteuerexpeditionen in vertrautes Gelände, das plötzlich fremd und unheimlich erscheint. Elternhaus und Elvis, die Eindrücke der Kindheit, magische Begegnungen mit den Phänomenen der Popkultur und den Helden der Klatschspalten – all das wird in Beyers streng komponierten Gedichten aufgegriffen, in unerhörte Zusammenhänge gerückt, verfremdet und mit den Mitteln von Zitat, Collage, Komik und ironischer Brechung neu arrangiert. Der Titel Dämonenräumdienst ist dabei durchaus wörtlich zu nehmen. Hier werden die Geister der jüngeren deutschen Vergangenheit aufgerufen, um sie durcheinanderzuwirbeln und einer poetischen Choreographie zu unterwerfen: Aufräumarbeiten vor dem inneren Auge eines erfindungsreichen Dichters.“

Das kann man so sagen, es ist nicht falsch, aber doch ein bisschen retuschiert.
Sicher sind die Gedichte gut gemacht, und der Kritiker Franz Hofner (ein Pseudonym?) spricht Richtiges aus, wenn er im Signaturen-Magazin festhält, „dass es manchen Lyrikbänden sehr gut tut, wenn sie nicht zu lang auf der Herdplatte schmurgeln”, dennoch vermisse ich Dringlichkeit, etwas Zwingendes.
Das war mindestens in Beyers Gedichtbänden Graphit (2014) und Erdkunde (2002) anders: sie haben lange auf der Herdplatte geschmurgelt.

In Dämonenräumdienst hat Marcel Beyer aufgehört, so zu schreiben, als sähe Thomas Kling ihm über die Schulter. Vielleicht war das ein notwendiger Schritt, aber ich beäuge ihn mit Skepsis. – Nächstes Buch abwarten!

Herausragend der Zyklus „Die Bunkerkönigin”.
Sehr gut auch „In Gesellschaft”, „November” und „Orange”.

[…] Irgendwer zieht die
rechte Hand aus der Presse
für Kartonagen. Er sieht seine
Finger an, als wären sie nicht

mehr da. Als sähe er in die feuchte
stinkende Luft. […]

Marcel Beyer, Dämonenräumdienst. Gedichte. 174 Seiten, Leinen. Suhrkamp Verlag, Berlin 2020. 23,00 Euro

9 Kommentare zu „Marcel Beyer Dämonenräumdienst“

  1. Übrigens scheint es eine stille Übereinkunft zu geben – Bei wem genau? Bei den Dichterinnen (Achtung, generisches Femininum!), den Kritikern oder bei den Preisjurys? – dass Gedichte „streng komponiert” und/oder „präzise” sein müssen. Das ist natürlich falsch. Gedichte mögen Wahrnehmungsinstrumente sein – Maschinen sind sie nicht. Sie sollen ruhig schlampig auftreten, die Verse können auf ‚unbestimmt’ (was wäre das Gegenteil von „präzise”?) eingestellt sein – warum nicht? Wenn das eigene künstlerische Gespür es verlangt, ist es sogar erlaubt, die eigene formale Vorgabe nicht astrein zu erfüllen, sondern souverän davon abzuweichen.
    Es gab mal einen zeitlich ausgedehnten Schriftwechsel zwischen einem Musikologen (?) und dem Heiligen Arnold Schönberg, der so aussah: Der Musikologe (?) machte Schönberg auf einen ‚Fehler’ in einer 12-Ton-Reihe aufmerksam. Dieser Hinweis blieb unbeantwortet. Der Musikologe beharrte, schickte weiter seine besorgten Postkarten: „Aber -”
    Schließlich schrieb Schönberg zurück: „Und wenn schon!”
    (Hab ich das nicht schon mal erzählt?)

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  2. Wenn man etwas perfide wäre, könnte man sich natürlich auch fragen … ich meine, ich verdiene die Miete als Werbetexter – hab ich das schon erzählt? –, und da ist man über jedes Adjektiv froh, das bombenfest im Text steht. Ein Design ist ja nicht skurril oder blödsinnig, ungekonnt oder am Bedürfnis der Nutzer vorbei, es ist: elegant.
    Man muss ja sehr aufpassen, da gibt’s exakte Phraseologien, hinter denen man seine weitgehende Ahnungslosigkeit oder doch die Unfähigkeit, Phänomenen gerecht zu werden (aus welchen Gründen auch immer, Unfähigkeit ist meist ja verordnet), verbergen kann.
    „Streng komponiert“ und „präzise“ eignen sich da vielleicht hervorragend für so einen Begründungstext, weil jeder gleich denkt: „Mensch, ja, klar, streng komponiert, was sonst, wir reden immerhin von Gedichten, und was sind Gefühle, wenn nicht streng komponiert und präzise? Welche Haltung zur Welt ist nicht supersuperpräzise?“
    Das ist einfach die Erwartung an eine Dichterin, dass sie einen privilegierten Zugang zu den allergeheimsten Geheimnissen des innersten Herzens der Welt hat.
    Und wenn sie heraufsteigt aus dem Bad in der Wahrheit und zur Lyra greift, erklingt dieses für uns Normalsterbliche etwas schwabbelige Mysterium eben in strengster, präzisester Komposition.
    Es ist ja auch sicher nicht so, dass sich alle darum schlagen, so einen Begründungstext in die Welt zu setzen. Das ist doch sicherlich auch ein furchtbarer Krampf.
    Denn am Ende spielt wohl auch die Publikationspolitik der alten weißen Männer eine klitzekleine Rolle?

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  3. Ich finde die Begründung der Peter Huchel-Preis-Jury gut geschrieben, bis auf die von mir bemäkelte Stelle. Es besteht vielleicht Einigkeit darüber, dass Gedichte und überhaupt alle Texte (Wolf Haas und Thomas Meyer haben auch als Werbetexter gearbeitet, und sicher noch ein paar andere Leute, die man, wie sie, als gute Schriftsteller bezeichnen kann, nebenbei bemerkt), die einen gegenüber unbekannten Lesern vor Peinlichkeiten bewahren sollen, Ergebnis einer Arbeit an und mit der Sprache sind. Damit wäre für mich der Anspruch (wessen Anspruch?) der Genauigkeit erfüllt. Der Hinweis auf diese ist natürlich erlaubt, aber überflüssig. (Genauso schreibe ich auch „Liebe Grüße”, was ebenfalls doppelt gemoppelt ist – aber ich habe es lieber, wenn die Grüße Händchen halten können mit einem Adjektiv. Sonst wäre es zwar korrekt, aber unnötig kühl.) – Mein Argwohn ist jedoch, dass es nicht da steht, um den Dichter zu loben, sondern um der Sparkasse oder wer immer ein Preisgeld bezahlt – hier ist es, glaube ich, der Südwestrundfunk – zu signalisieren: Wir geben eure Knete nicht leichtfertig weg, wir gucken den Dichterinnen auf die Finger! … und das wäre dann ein außerliterarisches Argument, es gehörte nicht hierhin.
    Du hast eine skurrile Vorstellung vom Dichten, Matz. „Bad in der Wahrheit”! – das ist lustig, aber was soll das sein? Hast Du etwa in Wahrheit gebadet, als Du Ich sah die blödesten Idioten meiner Generation geschrieben hast?
    Es geht doch mehr um Wahrnehmung, meine ich: Wahrnehmung inneren Empfindens (nicht unbedingt wahr!), der äußeren Wirklichkeit (unwirklich!), nicht zuletzt des Sprachstoffs und seiner Möglichkeiten.

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  4. hehe ich like hiermit alle kommentare, die da über mir stehen, ja, wirklich & wahr: mir gefällt’s hier (wo genau ist das?), also hierda, immer wieder sehr gut!

    (vielleicht werde i doch noch 1 dämonenräumdienst erwerben.)

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  5. Hier Genaueres zur Schönberg-Anekdote, die Eberhard Freitag in seiner Schönberg-Monographie erzählt (Rowohlt, Reinbek 1973, S. 140). Bei der fraglichen Komposition handelte es sich um das 1934-1936 entstandene Konzert für Violine und Orchester op. 36, das Felix Greissle – die Wikipedia führt ihn als Dirigenten und Musikverleger – in seiner (lt. Wikipedia) damaligen Funktion als [Zitat] Kopist, Korrektor und Bearbeiter [Zitat Ende] bei der Wiener Universal Edition auf seinem Schreibtisch liegen hatte.
    Die Anekdote im großen und ganzen wie oben wiedergegeben.
    Eberhard Freitag, der, mit einem Forschungsstipendium ausgestattet, als Mittzwanziger Inventarisierungsarbeiten im Schönberg-Nachlass erledigt hatte, schreibt zusammenfassend,
    „daß für Schönberg allein die Tatsache des Musikmachens, des Sichausdrückens wichtig war, wobei die jeweils angewandte Technik ihm nur als – durchaus veränderbares – Vehikel seiner Ideen dienen sollte.” (Schönberg, Rowohlt, Reinbek 1973, S. 140-141).
    Dieses Violinkonzert könnte ich mir glatt heute einmal anhören. Ich hab’s da in einer Produktion der Deutsche(n) Grammophon (1971), mit Zvi Zeitlin und dem Symphonie-Orchester des Bayerischen Rundfunks unter Rafael Kubelik.
    Felix Greissle war Schönbergs einziger Schwiegersohn, verheiratet mit dessen Tochter Gertrud. Die jüngere Tochter, Nuria, heiratete 1955, vier Jahre nach Schönbergs Tod.

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  6. Lieber Meinolf,

    das „Bad in der Wahrheit“ war doch erkennbar ironisch, oder? Durch die Maske des Klischees gesprochen.
    Natürlich habe ich absolut keine Ahnung von der Wahrheit, und besonders interessiert sie mich auch nicht mehr. Unter anderem, weil sie einen heutzutage nur unnötig schwächt.
    Ich finde allerdings auch den Ansatz von der „Arbeit an der Sprache“ nicht ganz richtig. Interessant wird’s doch eigentlich erst dann, wenn die Sprache anfängt, an uns zu arbeiten. Gestern Abend hab ich z. B. mit meinem Sohn gezeichnet, einen Comic, ich bin auf Seite 5, das zieht sich seit Ewigkeiten so hin. Und plötzlich, nach ein paar Bieren, war die Stimmung da, war der Schwung da, die Lektüre von „Corto Maltese“ schoss mir ins Blut, und es entstanden zwei tolle Seiten, richtig gut, richtig zackzack, Wahnsinn, Euphorie, Dankbarkeit, so muss es sein. Da fühlt man sich dann wie ein Mensch.
    ICH fühle mich da wie ein Mensch.
    Es ist natürlich das Ergebnis von jahrelangem Training, von viel Erfahrung, wahnsinnig vielen Niederlagen und Fehlschlägen. Das stimmt. Aber was dann geschieht, ist das Gegenteil von Arbeit. Es ist Getragenwerden.

    Dein Old Shatterhand

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  7. Oh, mein Ironiesensor war ausgeschaltet gewesen. Vielleicht Müdigkeit?
    Arbeit an und mit der Sprache – na, also nicht so, dass einem flaubertmäßig bei jedem Wiewort ein Schweißtropfen von der Stirn springt. Ich meinte eine Grundsorgfalt, einerseits, aber auch (wie gesagt) eine Wachheit für die Möglichkeiten sprachlichen Ausdrucks – das schließt Deinen Ansatz nicht aus. Du sagst ja selbst, dass Deine Leichtigkeit ‚erarbeitet’ ist: Ergebnis Deiner lebenslangen täglichen Beschäftigung mit Wörtern, Sätzen, Phrasierung, Interpunktion und so weiter – und mit der Frage, wie das, was Du im wirklichen Leben aufschnappst, sprachlich mitgeteilt werden kann.
    Wahrscheinlich ist meine Betonung des Arbeitsaspekts einfach eine persönliche Macke.
    (Ich kann mich ja auch nur schwer von der Vorstellung lösen, dass das Leben kein Geschenk zum Genießen, sondern eine Aufgabe zum Abarbeiten ist. Ich lache darüber.)
    Denn natürlich hast Du Recht: Die Sprache ist der Autor (wenn es gut läuft). Na, ich bin ein bisschen vorsichtig: Co-Autor.
    Vielleicht erbarmst Du Dich ja doch noch einmal und eröffnest ein Blog und zeigst mal ein bisschen.
    Ich seh jetzt nach dem Bremer Osterklaben.

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