Der polnische Schriftsteller Witold Gombrowicz, berühmt für Ferdydurke und seine sexuellen Neigungen, machte sich mit Vorliebe lustig über die Liebhaber von Lyrik. Die säßen da im Auditorium, so sein Argument, lauschten unverständlichen Klängen vom Podium, applaudierten entschlossen und gingen dann heim, gerührt letztlich von ihrer Bereitschaft, sich dem Bizarren, dem ganz und gar Fremden auszuliefern. Das sei ihr Genuss – das Wissen darum, einer guten Sache gedient zu haben. Aber hatten sie auch etwas von dem verstanden, was die Lyrik ihnen hatte sagen wollen? Wohl eher nicht. Ihr Applaus war gewissermaßen ein Cousin der Tipperei jener Affen, die ein Wissenschaftler vor Schreibmaschinen gesetzt hat, um herauszufinden, wie lange es dauert, bis das Zufallsprinzip Shakespeares Gesammelte Werke hervorbringt.
Mit dergleichen polemischen Verve könnte man sich auch den Theatergängern zuwenden. Diese sind schon zufrieden, wenn sie im Programmheft lesen, dass Aischylos in seinem Drama die Geburt der Demokratie aus dem Geiste der Blutrache beschrieben habe. Das reicht ihnen vollauf, um hinterher von einem aufregenden Theaterabend zu sprechen. Was dann da im Einzelnen in all diesen wahnsinnig anstrengenden Versen passiert, interessiert sie gar nicht weiter. Am Ende sind sie allerdings durch einen kathartischen Prozess gegangen – sich drei Stunden auf den Schlussapplaus freuen, und wenn er dann kommt – in dem Augenblick erlebt man eine Befreiung. Das ist unbestreitbar. Gleiches gilt natürlich für jene postmodernistischen Banausen, die sich auf das Bier im Anschluss an die Vorstellung freuen, wenn Frank Castorf wieder einmal die Kübel seines Weltekels über eine ordentliche Portion Dostojewski On Ice ausleert.
Man kann solche Ahnungslosigkeit natürlich verurteilen, muss sich m. E. allerdings eingestehen, dass sie ab einem bestimmten Verständnis-Level Allgemeingut wird. Keiner weiß wirklich, was das alles soll, etwa ein Celan-Gedicht oder die neue Komposition von Krzysztof Penderecki. Sonst würde es ja irgendwann mal irgendeiner ausplaudern. Nicht selten sind die Erläuterungen, bei aller Entschiedenheit und Siegesgewissheit, dunkler als das zu Erläuternde. Gedichte sind eben eigenständige Wesen, wie Pflanzen – wie Kakteen, beispielsweise, die es in erstaunlicher Anzahl, Form und Zähigkeit gibt. Wohlgemerkt – nur von Kakteen ist hier die Rede! Von Kunstwerken gilt mit großer Wahrscheinlichkeit, was Marlene Dietrich in dem Film noir „Touch Of Evil” sagt: „Was hat es für einen Sinn, über Menschen zu reden?”
Die Frage ist demnach, ob nicht jede Deutung, die einem Kunstwerk appliziert wird, einen Gewaltakt darstellt. Erhellt die Erklärung das Werk? Oder erlöst sie nicht eher uns? Indem sie uns von unserer peinigenden Unverständigkeit befreit? Bedeutet also nicht jede Interpretation auch einen Skandal? Eine dreiste Anmaßung? Noch zugespitzter gefragt: Räumt eine stichhaltige Erklärung so ein Kunstwerk nicht erst einmal aus dem Weg und macht den Weg frei für das nächste, indem sie jene Irritation beseitigt, die das Wesen des Kunstwerks ausmacht?
Das sind so Fragen, werden Sie denken. Warum gibt sich damit einer ab? Hat der nichts Vernünftiges zu tun? Was ist das überhaupt für ein Perverser? Nun, ich habe das alles nur vorangeschickt, um klar zu machen, welche Wichtigkeit nach meinem Empfinden der sinnlichen Aussagekraft eines Werkes zukommt. Mir geht heute alles viel zu sehr in einer Diskursflut unter, von der mich auf meiner Insel nur noch ein generell rechthaberischer, stark gereizter Singsang erreicht. Zeitungen, Zeitschriften, Fernsehsender, Blogs – ein einziges Gedröhn. Für die alten Griechen waren die Barbaren ja jene Völker, deren Sprache für sie nur ein einziges „bar, bar” war. In diesem Sinne besteht die Welt für mich inzwischen weitestgehend aus Barbaren. Ich habe keine Ahnung, wovon die reden!
Ich versuche, Gottfried Benns Ratschlag folgend, die Lage zu erkennen: Jeder weiß, was wann zu sagen ist, und denkt, das reiche, damit wisse er Bescheid. So interpretiere ich die Zeichen, soweit sie für mich zugänglich sind. Im gleichen Maße aber, in dem der Diskurs wächst und die Redeflut steigt, gibt es immer weniger Werk. Nicht, dass wir uns missverstehen: Es gibt mehr Werke als früher, viel mehr – aber zugleich weniger Werk. Das Verhältnis von Deutung und Werk, will ich damit sagen, hat sich dramatisch verschoben. Denn es gibt immer weniger Bereitschaft, Zeit und Gelegenheit, wirklich und dauerhaft hinzusehen. Wem kann man das verübeln? Jede Woche eine neue Platte der Woche – das hält doch kein Mensch aus! Letztlich hat sich im Zeitalter der totalen Erreichbarkeit und der visuellen und akustischen Omnipräsenz die Situation des Museums auf die ganze Welt ausgedehnt. Man kann nur noch im Vorbeigehen einen irritierten Blick auf all diese Meisterwerke werfen. Ansonsten muss man dem Katalog vertrauen.
Die Zeit ist also eigentlich reif für ein neues Pathos der sinnlichen Gewissheit. Es mag sein, dass ich ein Gemälde von Jackson Pollock nicht verstehe. Ich schaue drauf, und der Automat zwischen meinen Ohren spuckt keinen guten Spruch aus. Da ist nur hochtouriges, leicht beschämtes Rätselraten in mir. Wird nun ein Aufsatz über die Maltechniken des Urvaters des action painting, opulent illustriert mit Fotos aus dem Atelier, mich erleuchten? Mag sein. Mag auch sein, dass mir Umberto Ecos Das offene Kunstwerk weiterhilft, dass eine solche Studie meinen Horizont aufreißt und mehr Licht in meinen Schädel einlässt. Oder vielleicht ist mir ein schicker Traktat von Boris Groys hilfreich. Das mag ja alles sein. Zunächst aber muss mir doch das action painting von Mr. Pollock gefallen. Das Bild muss eine Saite in mir zum Schwingen bringen. Es muss sich mir eines zweiten Blicks wert machen. Und dann …
… Sie wissen schon.
[Wiederveröffentlichung eines zuerst 2008 unter dem Titel „Traumtäter zwischen kulturpolitisch geschützten Amokläufern” erschienenen Beitrags. – Von Robert Mattheis ist Hohlkörper. Roman aus der Medienwelt erschienen. Er betreibt das Blog epizentriker.]
An ein paar Stellen möchte ich einhaken.
Gedichte vorgelesen bekommen und sie nicht gedruckt vor sich zu haben, ist eine schwierige Sache, Verstehen gar ein zu hoher Anspruch. Wer bestimmt, wer ihm besser, wer schlechter gerecht wird? Ist es überhaupt notwendig? – Ich finde es lobenswert, wenn sich jemand dem Fremden aussetzt (ist das nicht demütig?) und halte Naivität hierfür eine gute Voraussetzung. Es sollte mehr davon geben. Im Kulturbereich herrscht doch eher Befangenheit, Furcht, etwas Falsches zu sagen, Bildungslücken zu haben usw., und auf der anderen Seite Hochmut, Snobismus, Besserwisserei, Blendertum. Alles Quatsch. Vor dem Kunstwerk sind alle gleich.
Das Applaudieren auch bei völligem Nichtbegreifen ist eine höfliche Verhaltensform. Wer pöbelndes Abonnement-Publikum erlebt oder davon gelesen hat, ist heilfroh über diese Errungenschaft der Zivilisation, die uns immer erhalten bleiben möge.
Ist es so, dass grundsätzlich eine Interpretation dem Werk seine Irritation nimmt? Dies kann meines Erachtens nur geschehen, wenn das Werk aus dem Blick gerät – wie ich finde, eine konstruierte Befürchtung. Die sinnliche Aussagekraft, wie Du schreibst – z. B. eines Gemäldes von Jackson Pollock -, ist eben dies: eine Kraft, die sich auch durch noch so viele Worte nicht wegzaubern lässt.
Ich stimme Dir aber zu, und deswegen habe ich den Titel Deiner Glosse wie gesehen geändert, dass zu viel gequatscht wird. Aber nicht das Reden über Kunst an sich ist das Problem, sondern die Übertreibung damit. Jeden Tag schalte ich „Kultur heute” ein, und jedes Mal halte ich es nicht aus.
Die von Dir angeführte Verschiebung im Verhältnis von Deutung und Werk (zuungunsten des letzten) stimmt sicherlich, ist aber zu vernachlässigen. Es stimmt ja auch, dass die Zahl der Toten die Zahl der Lebenden übersteigt. Für den einzelnen wie für die Gesamtheit der Menschen und Marsmenschen hat es keine Relevanz. – Ich gebe aber, um eine Lanze für die Interpreten zu brechen, zu bedenken, dass Sekundärliteratur, Exzerpte, Fußnoten usw. die primären Schöpfungen nicht notwendigerweise schwächen oder sogar sich frech an ihre Stelle setzen, sondern sie auch stützen und mit aufbauen. Ist der Körper eines Buches denn mit dem Buch identisch oder geht er nicht darüber hinaus?
Die Bemerkung zur Überforderung des kulturell interessierten Menschen durch die schiere Menge dessen, was gelesen, gesehen, gewürdigt werden will, und der Vergleich mit einem Gang durchs Museum ist 2016 nicht weniger passend als sie es 2008 war. Es hilft nur eines: Fokussierung und Begrenzung. Die kleine Bibliothek von Borges, die in einem einzigen Regal Platz fand, ist mir näher als die Bibliothek von Eco. (Jetzt muss ich aufhören, vor meinem Fenster sitzt ein Eichelhäher, der will, dass ich sein blaues Federnband bewundere.)
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Lieber Meinolf,
erinnerst Du Dich an den Ton von Seminararbeiten? An deren stilistischen Gestus? Wie jeder Gedanke mit Stacheldraht umwickelt sein musste?
Gedanken muss man natürlich nicht mit Stacheldraht umwickeln, sondern mit Geschenkpapier. Wenn man aber keine Gedanken hat, dann tut man gut daran, zum Stacheldraht zu greifen. Um seine Not zu verbergen.
Der Titel dieses Antikulturpalavers war seinerzeit übrigens vom transzendenten Ulrich Breth geliefert worden. Heute hast Du diesen Job übernommen. Dafür meinen herzlichsten Dank.
Immer Dein
Epi Zen Tricker
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Lieber Zenmeister,
hast Du Dich etwa daran gehalten? – Einer meiner Lehrer, Professor Roellenbleck, bei dem ich ein Dante-Seminar besuchte, wünschte sich bei einer meiner Hausarbeiten einen wissenschaftlicheren Duktus (kann ich mich noch gut erinnern), bei insgesamt positiver Bewertung. So kann man’s doch machen, als Lernender und als Lehrender: den Geist des Gesetzes nicht ganz streng auslegen.
Was nun die Gedankenlosigkeit betrifft, zitiere ich Theodor Wiesengrund Adorno, dessen glänzende Hirnwiese immer das schön verschachtelte Grün aufwies, das wir beide schätzen, mit den Worten:
„Der des Jargons Kundige braucht nicht zu sagen, was er denkt, nicht einmal recht es zu denken: das nimmt der Jargon ihm ab und entwertet den Gedanken.”
(Zitat nicht ganz passend, weil der Gedanke als solcher hier noch mit dabei ist.)
Ulrich Breth … da musste ich auf die Dienste von DuckDuckGo zurückgreifen.
http://faustkultur.de/974-0-Ulrich-Breth.html#.Vvp2fzHUnZI
Liebe Grüße
Dein Meinolf
PS. Ich habe neulich werktags mein altgedientes Pseudonym Moritz von Sprachwitz abgelegt, weil mir einfiel, dass nur, wenn ich in die Verlegenheit käme, einen Namen zu haben, ein Deckname für mich sinnvoll wäre. (Meine anderen Pseudonyme und Kürzel, Graham Bookish, eioeu, mottz und Sally Lunn hatte ich ja schon länger aufgegeben.) Dafür, dass eine Bekannte mir schrieb: „Lieber Rolf, …” kann ich nichts.
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Lieber Herr von Sprachwitz, Sie haben sich ein Pseudonym doch nur zugelegt, damit Leute wie ich glauben, bei Ihnen gäbe es nichts zu holen. Darauf falle ich aber nicht herein!
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Na schön, bitte sehr, Herr Räuber, versuchen Sie’s. Meine Yachten liegen vor der Costa smeralda, den Rest mopsen die Eichhörnchen und Elstern. Beste Grüße, Ihr Moritz von Sprachwitz a/u/a M. R.
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