Judith Schalansky, Der Hals der Giraffe

Schalansky, Der Hals der GiraffeDer Hals der Giraffe erzählt drei Tage aus dem Leben der Lehrerin Inge Lohmark, die an einer Schule in einer Kreisstadt in Vorpommern Biologie und Sport unterrichtet. Seit über dreißig Jahren tut sie das, doch in vier Jahren soll Schluss sein, denn dem Charles Darwin-Gymnasium gehen die Schüler aus. Ihre Klasse, die Klasse 9 – die letzte, die noch bis zum Abitur geführt werden soll – hat nur mehr zwölf Schüler, sieben Mädchen und fünf Jungen; ein Sitzplan gibt Auskunft über ihre Namen, die Lehrerin hat sie mit bissigen bis bösen Notizen versehen. Ihre Devise: „Schüler waren natürliche Feinde.”
Bei ihr gibt es kein Lullipulli, kein Anbiedern, keine Kuschelpädagogik. Auch gegenüber ihren Lehrerkollegen lässt Lohmark keine Milde walten. Ihre sarkastischen Bemerkungen zeigen eine humorlose, graue Frau, die zum Lachen in den Keller geht und sich noch da die Hand vor den Mund hält. Dazu passt die effiziente Syntax. Könnte ein Text Haare haben: dieser hätte einen Dutt.
Lohmark, deren Fach das Lebendige ist, hält sich dieses doch fein vom Leib. Ihr ratterndes, zergliederndes Denken sorgt dafür, dass ihr nichts und niemand zu nahe kommt. Wie unter Zwang hängt sie jeder Sache des Lebens ein Wortkärtchen um, nicht unähnlich dem Zettelchen des Pathologen am Zeh der aufgebahrten Leiche.

„Naturhaushalte”, „Vererbungsvorgänge” und „Entwicklungslehre” sind die drei Teile des Romans überschrieben. Es sind Themenbereiche aus dem Lehrplan. Lohmark fühlt sich ihm durchaus verpflichtet, allein, ihr wissenschaftsgläubiges Weltbild, so wie sie es Jahr für Jahr an ihre Schüler weitergibt, hat Risse bekommen. Sie muss erkennen, dass die Natur offenbar nicht in jedem Fall nach Darwins Pfeife tanzt. „Alle pflanzten sich munter fort. Nur ihre Artgenossen nicht.” Auch Claudia nicht, ihre Tochter, die seit Jahren in den USA lebt und der Mutter den – ersehnten? erwarteten? – Enkel verwehrt.
Zur transzendentalen Obdachlosigkeit des Menschen hat sich die biologische Verwirrung gesellt. „Eingezwängt im Kausalkettenhemd, das Ich als neuronale Illusion” – keine bequeme Position. Lohmarks straffe Unterrichtsführung versucht, was aus dem Ruder läuft, durch Zucht und Ordnung wieder in die Spur zu setzen. Doch der von ihr lange hergebeteten teleologischen Dimension des Darwin’schen Denkens – „Jeder Urfisch, jeder Urschmetterling, jedes Urreptil wollte im Grunde ein Säugetier werden. Und jeder homo sapiens ein makelloses Zukunftswesen” – vermag sie nicht mehr zu folgen. Wertfreie Tautologien treten an die Stelle von Glaubenssätzen und Gewissheiten: „Entwicklung war Entwicklung […] Wer überlebt, überlebt.” Sie, die ganz von der ratio geprägt ist, muss sich eingestehen, dass es nicht unbedingt vernünftig ist, immer vernünftig zu sein. Ihre eskapistischen Träume verraten die tiefe Verunsicherung, in die nicht zuletzt ihre Faszination für die Schülerin Erika sie stürzt. „Noch einmal auf vier Pfoten laufen, im Vierfüßlergang”, oder, an anderer Stelle: „Ein Tier müsste man sein. Ein wirkliches Tier. Ohne ein Bewusstsein, das den Willen hemmt”, oder, vollends absurd, in einer Phantasie über die Photosynthese: „Wäre man grün, […].” Regression als Ausweg.

Schalansky gibt die Denk-Stimme ihrer misanthropischen Heldin in einer stark heruntergekühlten, glasharten Sprache wieder. Eigentlich selbstverständlich, und doch in seiner Konsequenz überraschend, dass Schalansky diesen strengen Duktus das ganze Buch über beibehält. Die sprachliche Virtuosität, zu der sie fähig ist, wird ganz in den Dienst der Erzählstimme gestellt und zeigt sich dementsprechend nicht in Lyrismen und weitausschwingenden rhythmischen Sätzen, sondern in Verknappung und Härtung des Ausdrucks.

Eine schöne Besonderheit des Romans, der zu den herausragenden Neuerscheinungen dieses Bücherherbstes zählt, sind die textbegleitenden Illustrationen, 22 an der Zahl, die neben anderem die Doppelhelix, die Steller’sche Seekuh (trotz ihrer riesenhaften Gestalt hat sie etwas Knuffiges), den Archaeopteryx, den Quastenflosser und das Schnabeltier zeigen. Die Silhouette einer Giraffe, mit weiß eingedrucktem Skelett, ziert den grobleinenen, schwarzgeprägten Buchumschlag. Der Kopf fehlt.

  • Judith Schalansky, Der Hals der Giraffe. Roman. 224 Seiten, Leinen. Suhrkamp Verlag, Berlin 2011. 21,90 Euro

[Wiederveröffentlichung eines zuerst 2011 erschienenen Beitrags.]

3 Kommentare zu „Judith Schalansky, Der Hals der Giraffe“

    1. Herzlichen Dank, ich weiß es zu schätzen – auch dass Du Dir die Zeit nimmst, kurz herüberzufunken. Leider strahle ich in meiner virtuellen Hülle etwas Einschüchterndes aus, so dass mein Blogisieren meist ein Monologisieren ist. Aber Du kennst mich ja und weißt, dass ich kein Snob bin.
      Gerade habe ich den Beitrag für morgen vorbereitet (natürlich geht es nicht in diesem Rhythmus weiter), den ich um Mitternacht veröffentlichen werde – für meine kleine, aber kunstsinnige Öffentlichkeit.
      Wann ist heute Mitternacht?
      Einen frohen Ostergruß! (PS. In meiner Kaffeepackung fand ich einen großzahnigen, breit lachenden Schokoladenosterhasen. Nette Geste meiner Mitbewohnerin.)

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