Inzwischen ist meine Kritik zur Anthologie Aus Mangel an Beweisen abgeschlossen und veröffentlicht: „Aus Mangel an Beweisen. Deutsche Lyrik 2008-2018. Der Braun/Thill, vierte Runde”, in: Signaturen, München, 17.6.2019.
Siehe hier.
Schlagwort: Verlag Das Wunderhorn
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Hier ein weiteres Bruchstück aus meiner im Entstehen begriffenen Kritik zur Gedichtanthologie Aus Mangel an Beweisen (s. auch Demnächst in diesem Kino). Änderungen vorbehalten.
Raffinierter, um das andere Extrem, das der Verknappung, zu zitieren, Arnfrid Astels Haikus:
Divina Commedia
Sie werfen
keinen Schatten, dort,
die Schatten.
Die mit dem Danteschen Titel aufgerufene Totenwelt kennt „keinen Schatten“, „die Schatten“ sind „dort“, im lichtlosen Raum der Hölle, nur die körperlosen Schemen der Verstorbenen. Der Clou in Astels Gedicht ist nun, dass es den Schattenlosen ihren Schattenwurf zurückgibt, typographisch abgebildet in der Substantivdoppelung des zweiten und dritten Verses. Das Hauptwort ist aber auch in sich selbst schattiert: hier optischer Effekt, dort Metapher für die Toten. In der Logik ihrer Anordnung erscheint das siebente Wort als ‚Schatten‘ des vierten. Semantisch aber verhält es sich gerade umgekehrt, das heißt es ist das am Gedichtende stehende Satzsubjekt – und das mit ihm synonyme „Sie“ des Anfangs – die den „Schatten“ ‚werfen‘, welcher als Satzobjekt die exakte Mitte des Gedichts einnimmt und dessen eigentlicher Aussagekern ist (ähnlich wie die Aussparung in Eugen Gomringers „Schweigen“-Gedicht): sein Gegenstand. So mogelt Astel einen Lichtstreif des Lebendigen in das dunkle Reich der Toten, freilich nur auf der formalen Ebene der wenigen hier gesetzten Worte.
s. auch
~ Jonis Hartmann, Braun/Thill. fixpoetry, Hamburg [14.11.] 2018.
~ Richard Kämmerlings, Dichtung & Wahrheit. Wie kann man Poesie zur Lebensform machen?
Die Welt, Berlin [4.12.] 2018.
~ Kerstin Bachtler, Aus Mangel an Beweisen. SWR2, Stuttgart [9.3.] 2019.
Demnächst in diesem Kino
Abseits meiner 40-Stunden-Woche bin ich zwar faul, aber nicht untätig. Nachdem ich sie zweimal komplett gelesen habe – der Verlag stellte mir ein elektronisches Rezensionsexemplar zur Verfügung, ich habe mir aber lieber das Buch gekauft – kommt nun auch meine Kritik zur Gedichtanthologie Aus Mangel an Beweisen langsam in Gang. Hier als Appetithäppchen der Beginn, Änderungen vorbehalten.
Die Rechtsprechung kennt den Freispruch eines Angeklagten aus Mangel an Beweisen. Aus Mangel an Beweisen ist darum ein überraschender Titel für eine Anthologie deutschsprachiger Lyrik. Von welchem Vorwurf denn sollte die Poesie freigesprochen werden, und wäre es nicht unter Umständen begrüßenswert, ließe sie sich hier und da eines ‚Vergehens‘ bezichtigen?
Michael Braun schlägt in seinen „Sechs Vignetten zum Gedicht im 21. Jahrhundert“ – einer von sieben Essays, die den Band beschließen – eine andere Lesart vor. Er bezieht sich dort auf die Fähigkeit des Dichters, „sich […] in der Unsicherheit und Ungewissheit zu bewegen, mit einem nicht-identifizierenden Sprechen, das sich im Modus des Übergangs befindet […]. Das Gedicht geht also in die Ungewissheit, es liefert keine Beweise, es spricht […] ,aus Mangel an Beweisen´“.
Mit anderen Worten: Das Gedicht weiß es auch nicht besser, seine Position ist zweifelhaft, sein Ziel liegt im Vagen. Dennoch, trotzig selbstbewusst, wählt es das Sagen anstelle des Nichtsagens, es begibt sich – das Nichts auf sicherer Habenseite (besser als nichts) – auf Sinnsuche. Doch worin bestünde der Sinn eines Gedichts? Wäre ihm ein anderer Sinn zuzubilligen als der, formal schlüssig zu sein, und damit gut? Das jedenfalls springt im besten Fall dabei heraus: ein gutes, formal schlüssiges Gedicht.
Hierfür ein erstes kurzes Beispiel, von Urs Allemann.
am grab
gut, dass wir nicht in england leben
und nicht in frankreich, mama.
death hat fünf buchstaben, life bloss vier.
vie three, mort one more: four.
rejoice, ma: chez nous leben
cinq, tod trois.
[…]
Michael Braun / Hans Thill (Hgg.), Aus Mangel an Beweisen. Deutsche Lyrik 2008-2018.
320 Seiten, gebunden. Verlag Das Wunderhorn, Heidelberg 2018. 26,00 Euro