Surprise!

Im Internet fand ich eine – den Herausgebern zufolge – getreue Reproduktion von „Un Coup de Dés”.
Und siehe da: mein Inselbüchlein druckt eine schlimme Verballhornung.
Mallarmés Gedicht enthält viel weißen Raum, aber keine zwei rein weiße Seiten (zum Beispiel).
Ich habe das Lineal umsonst gekauft.

Samstag, auf dem Rückweg vom ersten Tag des open mike, als ich über das laubschuppige Pflaster und durch die schmatzenden Blattverwehungen von Bellevue-Ufer und Holsteiner Ufer fuhr und sich im schwarzen Wasser der Spree die Straßen- und Parklichter spiegelten – mit einem Auge registrierte ich das „OASE!”-Graffito, das jemand auf die rechte Backe der Moabiter Brücke gesprayt hatte – nahm ich die Berliner Feierlaune wahr, akustisch vermittelt durch den Hubschrauber, der über Mitte kreiste, wohl, um die siebentausend Leuchtballons, die für ein paar Tage den einstigen Verlauf der Mauer nachstellten, in einen einzigen runden Blick zu raffen.

Das Publikum des open mike, das ich von meinem Balustradensitz aus gut studieren konnte, war absolut uniform, alle dünn und in schwarzen Klamotten. Die Autorinnen und Autoren saßen dazwischen.
Die Texte waren teilweise – und ich würde sagen: zum größeren Teil – gut, der Vortrag professionell.

Konform zu sein heißt nicht, kein Ego zu haben.

Ich glaube an die zähe Unzulänglichkeit.

Kodierung

„LE MAÎTRE” ist gleichlautend mit „le mètre” (Metrum, Versmaß), wie Quentin Meillassoux in seiner literaturdetektivischen Arbeit Die Zahl und die Sirene schreibt (die ich noch nicht kenne).
An die Stelle des bisherigen Ordnungsprinzips – des Alexandriners – tritt ein anderes, das aber mit gleichem ‚mathematischen‘ Anspruch auftritt und vielleicht, vielleicht aber auch nicht, mit dem freien Vers identisch ist.
Schon bei oberflächlicher Mallarmé-Lektüre wird übrigens die Bedeutung der Farbe Weiß deutlich,
die z. B. auch in Gestalt eines Schwans auftreten kann. Hier wäre dann zugleich ein weiteres Beispiel für die Doppelt- oder Mehrfachbelichtung, die der Dichter den Wörtern angedeihen lässt, denn „cygne[s]”, das Tier bzw. seine buchstäbliche und lautliche Entsprechung, ist homophon zu „signe[s]”, was „Zeichen” bedeutet und sich im fraglichen Gedicht – „Les Fenêtres” (1863) – auf „ligne[s]” („Linie[n]”) reimt.

Wenn aber die Zeichen weiß (leer) sind, sind sie dann überhaupt noch Zeichen? Heben sie sich nicht selber auf? Sind sie dann weiterhin etwas Zeigendes, Bedeutendes, das über ihre reine Kontur (ihre Zeichnung auf dem Papier) hinauswiese?

Randnotizen

Ich belebe eine eingeschlafene Rubrik meines Blogs wieder, die Randnotizen. Die Idee: in Art eines fortlaufend geführten Schmierblatts einige Fragen, Beobachtungen und Gedanken aufzuschreiben, die in meinem Kopf herumgeistern, wenn ich lese. Das ist kein Problem, denn so wie ich Leute kennen, die sich nicht vom Fernseher beschallen lassen können, ohne in gleicher Frequenz zurückzuschallen, so kann ich manche Texte nicht lesen, ohne sie nicht mit eigenem oder aus Wörterbüchern, Lexika usw. zitiertem Text zu erweitern. Das müssen allerdings inspirierende oder schwierige Texte sein. Wenn der Autor alles schon selber sagt, ist es ja langweilig, da gehe ich lieber Kaffee trinken.
Mallarmé

Da bietet sich nun aber Stéphane Mallarmé an, verschlossen wie eine Auster, den ich vor allem in einer in der Reihe insel taschenbuch erschienenen zweisprachigen Ausgabe lese, die vom Verlag von ursprünglich 7,00 Euro auf 2,99 Euro herabgesetzt wurde, wohl wegen Unverkäuflichkeit. Es ist aber ein gutes Buch, im Buchhandel noch ohne weiteres erhältlich … bis die Auflage – gedruckt 2007 – abverkauft ist oder der Verlag die Nerven verliert und den ganzen Bestand makuliert.
(Es gibt übrigens auch einen Band Sämtliche Dichtungen bei dtv, den ich aber schon allein wegen der schwulen Posing-Abbildung, die den Umschlag ziert, nicht haben möchte – und wenn doch, dann lasse ich mir das Buch neu einbinden, bildlos.)

Gut, jetzt also los mit dem Gekritzel. Beginne ich mit „Un Coup de Dés” („Ein Würfelwurf”), dem berühmten typographischen Gedicht, das Mallarmé am Ende seines Lebens geschrieben hat und das am Schluss des besagten Inselbuchs steht, erst auf Französisch (Seiten 89 bis 112), dann auf Deutsch (Seiten 113 bis 134).
Die Übersetzung ist von Carl Fischer, von dem man hier, bei Insel, nichts erfährt – da er sich aber des Mittelpunkts bedient, Exklusiv-Interpunktionszeichen Stefan Georges, vermute ich, dass er dessen Zirkel angehörte.
Das große Gedicht, dessen Verse laut Herausgeber Rüdiger Görner „wie die Spuren eines Würfelwurfs” über die Seiten kullern (viele Schrägen), umfasst auch zwei leere Seiten. Die erste folgt auf das Wort „folie”, von Fischer mit „wahn” wiedergegeben – auch die Kleinschreibung verweist auf George, nebenbei bemerkt -, man könnte auch „Verrücktheit” sagen. – Interessant scheint mir eine der Definitionen, die der Petit Robert nennt: „Caractère de ce qui échappe au contrôle de la raison” (was sich der Kontrolle durch den Verstand entzieht).
Die zweite erscheint kurz vor Schluss, und zwar nach dem (Teil-)Vers „avant de s’arrêter” („vor dem stillstand”), einer Infinitivkonstruktion, die eine unmittelbar vorangehende Folge von fünf Gerundien in ihrem Lauf anhält, sozusagen als sechste Seite des Würfels. Danach also die (zweite) leere, weiße Seite, wie eine Generalpause, wie ein eingefrorenes Nicht-Bild oder eine Schwarzblende (damals gab’s ja schon Kino), bevor der Vers wiederaufgenommen wird: „à quelque point dernier […]” („an einem letzten Punkt […]” – in meinen Worten; „quelque” kann „irgendein” oder „ein gewisser” heißen).
In der deutschen Übersetzung fehlt dieses letzte Vakat. Die drei Schluss-Seiten des französischen Textes werden in der deutschen Wiedergabe in eine einzige (!) Seite gepresst, was eine grobe Missachtung der Mallarméschen Anweisung bedeutet und seine Intentionen durchkreuzt. Auf die ‚französische‘ leere Seite habe ich also geschrieben: „in der Übersetzung ausgelassen”.