Vielleicht arbeite ich meine untenstehenden Notizen noch zu einer Kritik aus und publiziere sie dann auf einer Seite, wo man sie auch findet. Jetzt erst mal als Skizze hier für meine zwölf Followerinnen (generisches Femininum!).
Eurythmie ist ja erst einmal eine friedliche Sache. Erdmute, eine der beiden Heldinnen in Annette Webers Debütroman Eurythmie der Gewalt, als Kind von Anthoposophen zum Tanz genötigt, verknüpft aber durchaus Hassgefühle damit – und vermutet finstere Geheimnisse hinter der sedierten All-Liebe:
„Die angehaltene Luft, die bei ihren Eltern zu Hause jegliche Regung zu ersticken schien, war sicherlich ein Grund für ihre Wut – irgendwo in diesem Mief, diesem ungelüfteten Aggressionsstau, dem schweigenden Weitermachen musste sich hinter den bunten Eurythmietüchern, die ihre Mutter überall im Haus hängen hatte, eine Falltür, eine Kammer, ein Verlies befinden, in dem all das Grauen aufbewahrt wurde, das zu widerwärtig war, um vorgezeigt zu werden.”
An anderer Stelle heißt es pointiert: „Für Erdmute, die damals noch keine zehn Jahre alt war, erschien diese Welt nicht heilig, sondern wie ein Truppenübungsplatz für die Wahrheit, für das Gute und Richtige.”
Erdmute nimmt bei erster Gelegenheit Reißaus, genießt ihre neugewonnene Freiheit und findet schließlich ihren Weg als Ethnologin und Konfliktforscherin.
Ada, die zweite Hauptperson des Romans, lebt in Los Angeles und verdient ihren Lebensunterhalt damit, glamouröse, kaputte oder langweilige Persönlichkeiten der Popkultur wie Courtney Love oder Lennie Kravitz zu interviewen. Auch Ada liegt mit ihrer Familie im Clinch, eine Hass-Fremdheit verbindet sie mit ihrer Althippie-Mutter Ella; ihrem Vater Madut war und ist sie egal (er fühlt keine Liebe für sie), und er ist ihr auch egal (außer dass sie sich von ihm geliebt wünschte). Ihr Halbbruder Sirius ist ein erfolgreicher Anwalt, aber verzweifelt und verloren. Mag er auch auf ihrer Couch sitzen – er ist Ada fremder als ihre ’neue‘ Halbschwester Awut, die sie kennenlernt, als sie ihren Vater in Nairobi aufsucht. Madut, starrsinniges Oberhaupt einer neuen Familie: ein Freiheitskämpfer? Es wird nicht ganz deutlich. Ada will ihn sehen, um mit ihm abschließen zu können.
Eingefasst von einem Prolog und einem sehr kurzen, übrigens überflüssigen, Epilog, umfasst der Roman zweiunddreißig Kapitel. Es ist erstaunlich, wie viel Welt Annette Weber in das schmale Buch gepackt hat, ohne es doch zu überladen – und keine angelesene, sondern eine durch eigenes Sehen und Erleben beglaubigte Welt. Zu den vielen Ereignissen der Romanhandlung kommt die Überraschung einer schnellen, unbehäbigen und frischen Sprache: dass das Deutsche so beweglich sein kann!
Wo immer in diesem Roman Familie vorkommt, ist sie zerrüttet, oder sie wird in ihrer Intaktheit von außen bedroht. Dies, und der Bezugspunkt Afrika, Erdmutes Arbeitsgebiet und Heimat von Adas Vater, verbindet beider Geschichten, die im übrigen unverbunden nebeneinander stehen – mit einer, wie zufälligen, Ausnahme.
Diese Besonderheit im Aufbau, die ungeraden Erdmute-Kapitel und die geraden Ada-Kapitel nicht miteinander zu verknüpfen, ist verwirrend und rätselhaft. Zudem kennen sich die beiden Frauen nicht, so dass ihr gemeinsames Auftreten im Buch beinahe beliebig erscheint. Warum nicht nur von der einen, oder nur von der anderen erzählen?
Aber es ist ja auch richtig: Der eigene Blick auf den anderen wird genauer, wenn er auf des anderen Blick auf das Eigene trifft. Dies innerhalb einer Geschichte zu tun, wäre vielleicht das Naheliegende gewesen.
Als Autorin ist Annette Weber, im bürgerlichen Leben promovierte Politologin, überhaupt keine Debütantin: Sie war Redakteurin für das Thema Gender bei der Jungen Welt, hat als Musikjournalistin, spezialisiert auf Hip-Hop und Rrrriot grrrls, u.a. für die Spex und die taz gerarbeitet; außerdem verfasst sie Fachbeiträge zu den Staaten des Horns von Afrika.
Annette Weber, Eurythmie der Gewalt. Roman. 240 Seiten, broschiert. Textem Verlag, Hamburg 2018. 18,00 Euro