Graue Energie

Zum 5-jährigen Firmenjubiläum im Dezember schenkte mir mein Arbeitgeber – wahrscheinlich beraten durch meine Managerin -, neben anderem, einen sogenannten Rührblitz der Württembergischen Metallwarenfabrik (WMF), einen Schneebesen, dessen Stäbe in Kügelchen auslaufen, die mich von fern an das Brüsseler Atomium erinnern, und auch an diese Skulptur von, warte. Genau, an die Hans Uhlmann-Plastik im Berliner Hansaviertel (um 1957 dort aufgestellt, laut Wikipedia). Immer, wenn ich in der Ecke bin, suche ich diese Skulptur auf und sage hallo, nicht anders wie ich der Dicken Marie hallo sage, wenn es sich ergibt. Hallo, hallo.

Die Lektüre von Bonjour tristesse habe ich immer mehr verlangsamt, weil ich die Intrige, mit der Cécile die Beziehung ihres Vaters zu Anne zu zerstören gedenkt, nicht gut ertragen kann. (In der genannten Online-Enzyklopädie ist zu lesen, dass seinerzeit der Literaturnobelpreisträger François Mauriac, 69, auf der Titelseite des konservativen Figaro Françoise Sagan einen Verriss widmete, in dem er sie ein „charmantes kleines Monster von achtzehn Jahren“ nannte – reizend! Mit Monstern kennt sich die katholische Kirche gut aus, um so größer ihr Empörungswille.)

Diese Woche gab es einen neuen Song von Rosalía, Saoko, aus ihrem demnächst erscheinenden Album Motomami (ET: 18.3.2022). Krawallig und um eine Minute kürzer als radioüblich. Zwischen 1’30“ und 1’40“ eine kleine Jazz-Einlage, was für sie, glaube ich, neu ist. Das aufreizend gemachte Video nicht so meins, aber wahrscheinlich gut für den Verkauf. (Oh, ich bewundere Rosalías Schönheit, so ist es nicht, maar wat te veel is, is te veel.)

„Das sagen sie natürlich erst, wenn man in der Falle sitzt“, flüsterte ich meinem gitarrespielenden Bruder zu, der mit zum Konzert im Pierre Boulez Saal gekommen war, wo eine Lautsprecherstimme gerade verkündet hatte, dass Ned Rothenberg (Klarinette, Bassklarinette, Altsaxophon) wegen Krankheit leider ausfalle. Nun war ich aber sowieso wegen Mary Halvorson gekommen, die zusammen mit Sylvie Courvoisier die erste Hälfte des Programms bestritt: Gitarre Klavier. Sie spielten Stücke aus ihrem Duo-Album Searching for the Disappeared Hour (2021), Musik, die kaum klassifizierbar ist, eine, wenn überhaupt, abstrahierte Form von Jazz, keine Melodien zum Nachpfeifen.
Bewunderungswürdige Unisono-Passagen. Sylvie Courvoisiers Hände flogen nur so über die Tasten. Sie setzte auch die Handrücken ein: in der Bewegung fließend wie bei Max und Moritz, nachdem sie in den Teig gefallen waren, zum ersten Mal habe ich das bei Don Pullen gesehen, YouTube. Hin und wieder beugte sie sich vor und zupfte die Saiten (es gibt ein Wort dafür), während Mary Halvorson Art, Dauer und Dichte der Gitarrenklänge mit Bottleneck und Wah-WahExpression-Pedal, Loops, Zuspiel, Anreißen der Saiten nahe am Steg, Flageoletts usw. vielschichtig gestaltete, und natürlich mit ihrem Anschlag, mal mit, mal ohne Plektrum, sanft oder zupackend, je nach Erfordernis.

Der Mann in der ersten Reihe, der vor Beginn des Konzerts Wasserflaschen neben Klavier, Gitarrenständer und Schlagzeug abgestellt hatte, und den ich für den Roadie gehalten hatte, entpuppte sich als der Schlagzeuger, Julian Sartorius, der nun, im zweiten Teil des Abends (die Pianistin hatte die Zeit mit dem Smartphone abgenommen, das sie hinter die Tastatur in den Flügel gelegt hatte), das Sylvie Courvoisier 4tet vervollständigen half, soweit mit drei Leuten möglich. Bevor er anfing zu spielen, steckte er sich ein ganzes Bündel Schlegel (Schlägel) in die Tasche, die er im Laufe des Sets nach und nach herausfischte, wie Pfeile aus einem Köcher.
Lässt sich Mary Halvorsons aufgeräumter Gesichtsausdruck auf die Formel „Aufmerksamer Blick zu Sylvie Courvoisier“ bringen, fiel beim Drummer eine überspringende Freude auf, abzulesen an einem großen Lächeln, das ihn selten einmal verließ. Sind Schweizer so? Aber Sylvie Courvoisier ist ja auch Schweizerin. Ihr Gesicht konnte ich allerdings nicht sehen (außer bei den Ansagen, da wirkte sie bestens gelaunt, sagte, auf Englisch, Dinge wie: „Die Melodie müssen Sie sich dazudenken!“ oder: „Von der Maske kriege ich Pickel!“), stellte es mir aber hochkonzentriert vor, wie bei einer Operation im Wettlauf gegen die Zeit. Da lacht man nicht.
War das Duospiel schon dicht gewebt, brachte das Schlagzeug zusätzliche Komplexität – und Energie. Hervorragende Bühnenkommunikation. Das feine Interplay konnte ich besonders gut genießen, wenn ich die Augen schloss, wobei ich nicht in den ‚Fehler‘ verfiel, einzuschlafen, wie der Sitznachbar meines Bruders.

Hostessen überreichten Blumen. Sylvie Courvoisier dankte mit leichter Verneigung – und reichte ihre Blumen gleich ins Publikum weiter. Mary Halvorson behielt ihre in der Hand (verschenkte sie vielleicht auch, später, unbemerkt). Julian Sartorius stopfte den Strauß in eine Öffnung oben in der Basstrommel. Dann verließen sie die Bühne, kamen für eine Zugabe wieder (Mary ohne Blumen).
Ein tolles Konzert. Ehrlich gesagt, ich hätte es mir etwas weniger ungezuckert gewünscht, etwas süffiger, aber es war schon sehr, sehr gut.
Auch der Saal selbst: wunderbar!

Die Collies sehen alle aus wie Richard Gere

Musste ich neulich wieder dran denken, als ich eines dieser gleichmütigen Tiere sah, das vor der Heckklappe eines Autos wartete, bis ein anderer, etwas ungebärdiger, Hund endlich auf die Ladefläche gesprungen war.
Die Tannenbäume, die überall am Straßenrand und auf den Grüninseln liegen, dabei Mariä Lichtmess mit Blasiussegen erst am 2. Februar, und das Russisch-Orthodoxe Weihnachten oder Epiphanias, je nachdem, ist nicht mal einen Monat her, wie auch die mannigfaltigen Illuminationen in Hausnähe brachten mir die Formulierung der „hingekrümpelten Lichtfiguren” wieder in Erinnerung, die ich immer noch gut finde, ha, ha. Diesen Eindruck machen sie (die Lämpchenrentiere, -schlitten usw.) aber eben erst nach dem Fest, das in meinem Fall übrigens besinnlich ausfiel, vorher scheinen sie strahlender und stolzer. (Besinnlichkeit, oder Besinnung, sollte man sich öfter als einmal im Jahr gönnen, beispielsweise im Wochentakt.)

Infolge des Sturms der vergangenen Nacht sehen die ausrangierten Weihnachtsbäume heute gebürstet aus, verdichteter (‚Nadia‘ hat sie zusammengeschoben) und dunkler grün. Kleinere pflanzliche Fetzen liegen auf den Straßen und Wegen, geben diesen einen struppigen Anstrich, steht ihnen gut. Une tête ébouriffée me plaît plus qu’une tête bien peignée. Kleine Rätselaufgabe: Wer hat’s gesagt?

Das Label Mexican Summer hat mir mitgeteilt, dass sie das neue Album (Pompeii) von Cate Le Bon jetzt verschickt haben. Irgendwann im Februar wird es eintreffen – freu ich mich. (Erscheinungstermin ist der 4.2.)

Da schon mein Geburtstagsprogramm ins Wasser fällt, werde ich nächste Tage ein Konzert von Mary Halvorson besuchen, das sie zusammen mit der Pianistin Sylvie Courvoisier, zudem mit Ned Rothenberg (Klarinette, Saxophon, Shakuhachi) (Shakuhachi?) – nicht zu verwechseln mit dem Nachtigallenforscher David Rothenberg – und Julian Sartorius (Schlagzeug) bestreiten wird.
Da mir Mary Halvorson und ihr verbeulter Gitarrensound sympathisch sind, freue ich mich auch hierauf. Außerdem wird es mein erster Besuch im Pierre Boulez Saal sein, auf den ich schon lange neugierig bin.
(Aber in der Philharmonie war ich auch das letzte Mal, als Gennadij Roždestvenskij dort die Uraufführung von Sofija Gubajldulinas Stimmen … verstummen … dirigierte (und die 10. Sinfonie von Dmitrij Šostakovič), das war 1986. Den Kammermusiksaal kenne ich noch gar nicht, der wurde 1987 eröffnet.)

Eine volle Packung Hochkultur also.
Daneben fröne ich weiterhin der Leichten Muse.
Überhaupt werde ich dies Jahr nur Komödien und Musicals gucken, wenn schon draußen alle mit Kanonen herumrennen.