Ich bin da und mache was

Den treuen Leserinnen und Lesern meines Blogs ein gutes Neues Jahr! Ein frohes Neues Jahr wird es nicht werden, das ist klar (schließt individuelle glückliche Momente nicht aus!), aber … – einverstanden, auch gut wird es nicht werden. Also: Möge 2023 besser werden als es 2022 war! Das kann man sagen, wünschen und hoffen.

Sollte ich darum bitten, dass mein Name hier auch auftaucht? → https://morehotlist.com/about
Immerhin war ich es, der den – damals noch so genannten – Hotlistblog 2012 startete und weit über ein Jahr hinaus im Alleingang schrieb. Die Beiträge sind auch im Archiv noch abrufbar, allerdings ist mein Verfassername zu morehotlist kollektiviert und somit, da er sonst nirgendwo aufgeschlüsselt ist, zum Verschwinden gebracht worden. Ich greife zwei Beispiele heraus:
Das System steigt in den Ring: Ulf Stolterfoht, Verleger (31.5.2014)
Lesung Verlag Peter Engstler (8.2.2015)
Aber dann denke ich: Wer guckt sich alte Blogeinträge an? Niemand. Da hat Bob schon Recht. Und ich verlinke seinen Blog natürlich, damit ihr ihn finden könnt. Die geläufige Praxis des Wegboxens und Unterbutterns (siehe oben) ist nicht mein Ding und sollte grundsätzlich vermieden werden. (Kann sein, es ist nur Gedankenlosigkeit, arglos.)
Wahrscheinlich bin ich, auch wenn ich mich immer als Dickhäuter gesehen habe, zu dünnhäutig. – Auch anderswo komme ich nicht vor, hab aber doch was gemacht, zu Ann Cotten, Christoph Wenzel, Sonja vom Brocke.
Man sieht: Auch auf dem Eiland der Poesie und in den Pfützchen der Kritik wird Aufmerksamkeitsökonomie betrieben; manche kriegen Licht, manche nicht.
Aber ich will mir die Eitelkeit abgewöhnen und nicht auf mein gutes Recht pochen, denn alles ist eitel und das Recht egal.

Einige Bücher und Broschüren, die ich überlegt hatte wegzugeben, dürfen nun doch weiter hier wohnenbleiben: Der kommende Aufstand, Auf der Suche nach der vergeudeten Zeit, Das Recht auf Faulheit, Manifest gegen die Arbeit, Recht auf Faulheit. Zukunft der Nichtarbeit (Edition Freitag, 2001). Vielleicht lese ich sie sogar noch einmal.
„Zeit ist der Raum zu menschlicher Entwicklung. Ein Mensch, der nicht über freie Zeit verfügt, dessen ganze Lebenszeit – abgesehen von rein physischen Unterbrechungen durch Schlaf, Mahlzeiten usw. – von seiner Arbeit für den Kapitalisten verschlungen wird, ist weniger als ein Lasttier. Er ist eine bloße Maschine zur Produktion von fremdem Reichtum, körperlich gebrochen und geistig verroht.”
(Marx/Engels Werke, Bd. 16, S. 144 f., zitiert nach: Auf der Suche nach der vergeudeten Zeit, S. 25)

What else? Auch dies Jahr werde ich keine Kriminalfilme gucken. Als nächstes dieses:

Zu schön, um wahr zu sein, aber dennoch wahr (nur bei der Tonspur wurde sicher nachgeholfen).

„Wir / Müssen aufhören aufhören / Auf Nacken von andern zu knien / die nicht atmen können“. – Ann Cotten : Las ich neulich in einer schon etwas älteren, aber immer noch aktuellen, Kritik im Tagesspiegel.
Dass Michael Braun nicht mehr ist, will erst einmal verarbeitet sein – am besten lesenderweise. (Ich erwarte in Kürze den dritten Band Der gelbe Akrobat, der als einziger der Reihe noch lieferbar ist, den zweiten habe ich da, der erste ist unter Umständen antiquarisch zu bekommen.)

Weitere Konstanten (neben Krimiverzicht) dies Jahr: eine halbe Stunde Skype-Französisch pro Woche (vor einem Jahr fing’s an); Erwerbsarbeit: wie gehabt (seit 1/2014 für die Buchhandlung, seit 12/2016 für die Softwareschmiede); Kritiken – hoffentlich wieder mehr; Beschäftigung mit Hochkultur (Musik, Literatur vor allem); Bäume pflanzen; Wiederaufnahme der Kaffeerunden im Dickicht, die 2020 nur einmal stattfanden und danach nicht mehr.
Und es gibt immer noch Man Rays Porträt von Juliet Browner neben der Tür (im Internet keine Reproduktion), und die französische Radierung des CANAL DE ROTTERDAM überm Bett, und das Aquarell meines Vaters, das er an der Frischen Nehrung gemalt hat, war er da schon im Krieg? ARMELN 1940 steht am unteren linken Bildrand, abgeschnitten vom Passepartout. Narmeln vermutlich. Narmeln gibt’s nicht mehr. Überm Bett. Und die Lithographie einer Leserin, da kann ich mal ein schlechtes Foto nachreichen, wenn das Licht besser ist; jetzt ist Abend, sieht man nix.
Freitag Haareschneiden.
Heute und morgen frei.

Nachtrag 3.1.2023

Leserin aus früherer Zeit

Lesung Verlag Peter Engstler

In einem postmodernen Akt plagiiere ich mich selbst und wiederhole hier einen Beitrag des Hotlistblogs. Dort noch mehr Abbildungen. – Zu Monika Rinck (und Nele Brönner) in Bälde an anderer Stelle mehr [Nachtrag 22.2.: jetzt online].

„Könnt’s ihr vielleicht das Fenster öffnen?” fragte Ann Cotten zurückhaltend und höflich, ernst wie ein Samurai, als sie langsam-zögernd die Treppe zur Empore hochgestiegen war, wo wir saßen.
In der Rumbalotte, der Kulturspelunke von Bert Papenfuß, darf man ja rauchen, und fast alle tun das.
„Auf Kipp?” fragte ich.
Ich erinnere mich nicht, was sie entgegnete, ihre Miene …
Jedenfalls, keine Frage: ganz auf.
„Wenn man reinkommt … die Luft …” Die Worte, in der wienerischen Färbung, die ihr Sprechen hat, staubgrau und trocken und klar. Sie stiegen mit dem Rauch, der unsere Köpfe umnebelte (nicht ihren Kopf) rasch zur – wie ein Totempfahl bemalten – Decke auf und zergingen vage, während sie sich schon einen Weg durch das Gedränge bahnte zur Bühne.
Sanftheit, Ernst (bis zur Unerbittlichkeit), Hunger nach frischer Luft – vielleicht charakterisiert das Ann Cotten ganz gut, unter anderem.

Der Verlag Peter Engstler hatte zu einem Abend geladen, in dessen Mittelpunkt der Sozialpsychologe Fernand Deligny stand. Einführend sprach Helmut Höge (sein Kleiner Brehm erscheint nach und nach bei Engstler, die Reihe wird bald abgeschlossen sein: Spatzen, Schwäne, Rinder, Pferde, Hunde, Gänse, Elefanten, Bienen, Affen) zu Deligny, mit dem er sich eingehend beschäftigt hat.

Anstatt Höges Referat zu skizzieren (wie Sie vielleicht erwarten, was ich aber gar nicht leisten kann), verweise ich lieber auf seinen Aufsatz „Antipsychiatrie mit Zuschauern”, der am 17.7.2004 in der tageszeitung erschien und online gestellt ist, s. hier. Der darin erwähnte Band Ein Floß in den Bergen, der 1980 bei Merve erschienen war, ist leider lange vergriffen. Vielleicht fasst sich ja Merve-Verleger Tom Lamberty ein Herz und legt ihn noch einmal auf.

Deligny_Ein_Floß_in_den_BergenHintere Umschlagseite von Fernand Deligny, Ein Floß in den Bergen. Neben Kindern leben, die nicht sprechen. Chronik eines Versuchs

Der Deligny gewidmete Part des Abends in der Rumbalotte wurde dann von Ronald Vouillé fortgesetzt, dessen Übersetzung von Delignys Die Umwege des Handelns oder die kleinste Gebärde bei Engstler angekündigt ist. Vouillés Rede drehte in der regelmäßigen Taktung eines Ventilators oder Wassersprengers ins Nuschelige, was sich damit erklärte, dass er seinen Vortrag mit Dias unterlegt hatte, zu deren Erklärung er sich jeweils vom Mikro abwandte – bis Bert Papenfuß, immer grummelig wirkender Kneipier in Camouflagehose und Schirmmütze, es ihm umsichtig oder entnervt in die Hand drückte. Dann ging es besser.

Ann Cotten hat sich vom genannten Deligny-Titel offenbar angezogen gefühlt und ihn sich für zwei Beiträge im Logbuch Suhrkamp ausgeborgt:

Umwege des Handelns
Palinodie zu „Umwege des Handelns”

Sie brachte eine hochwillkommene Lockerung in die schon sehr interessante, aber wortzähe, teigige Veranstaltung, las einige neue Gedichte, die von japanischen Schriftzeichen inspiriert waren, unterbrach sich hier und da, um eine Information einzustreuen, aber das hatte nichts mit „autoexegetischen Turnübungen” (Thomas Kling) zu tun, diente nur dem Austausch und der Öffnung. Flott.

Im sich anschließenden Beitrag von Monika Rinck wurden die Zügel wieder gestrafft. Monika Rinck trug eine Textcollage zu Fernand Deligny vor, nicht schlecht, überhaupt nicht schlecht, alles andere als schlecht. Sie lieferte (aber) strengen, konzentrierten Text, und mein Textverarbeitungsprogramm war schon überfüttert.

A Guest + A Host = A Ghost
Marcel Duchamp

Als letzter übernahm Ulf Stolterfoht das Mikrophon und las mit einer heiteren Bedächtigkeit, wie sie vielleicht nur Schwaben drauf haben (mögen sie auch, wie er, ewig lang in Berlin leben), Gedichte, von denen er behauptete, sie seien „uralt”.
Das kann aber eigentlich gar nicht sein. – Wie auch immer, er hatte sie ausgewählt, weil sie seiner Ansicht nach zum abwesend-anwesenden Ehrengast (Geist) Fernand Deligny passten.

Stolterfoht_brankoÜbrigens, eingedenk seines mutmaßlichen Arbeitspensums (Startprogramm seines Verlags BRUETERICH PRESS
in der Mache, neuer Gedichtband – Neu-Jerusalem – bei kookbooks angekündigt, und sein viertes Buch im Verlag Peter Engstler färbt auch noch ab, so frisch ist es: was branko sagt) war es erstaunlich, dass er überhaupt da war und gelesen hat.

Vielleicht gehört Ulf Stolterfoht zu den wenigen Nichtheiligen, die der Bilokation fähig sind. Es sei ihm neidlos gegönnt.

S. auch den Beitrag Das System steigt in den Ring: Ulf Stolterfoht, Verleger (31.5.2014).