Auto, alte Nervtüte

„Oh, von den Toten auferstanden!” grüßte Dr. B., kurz aufblickend, dem Regal Geisteswissenschaften zustrebend. Aber tot war ich gar nicht gewesen, nur Urlaub. Und dann, okay, eine Woche wie erschlagen.
„Hier steht was für dich”, hielt mir mein Chef ein Buch unter die Nase. Jedenfalls wüsste er nicht, wer es sonst bestellt haben sollte. Ich konnte mich nicht erinnern, sagte, es könne auch die Dame von der Bundeskulturstiftung gewesen sein. Er gab mir Recht, aber ich schnappte es mir, es passte ja: worte. und deren hintergrundstrahlung. Thomas Kling und sein Werk. (Ich bin Klingianer.)
„Und das hier”, zauberte er von anderswo her eine Zeitschrift hervor. Die bestellt zu haben, erinnerte ich mich auch: IDIOME. Hefte für Neue Prosa.
Angesichts dieser Überraschungen, hätte ich vielleicht Michel Butors Der Zeitplan noch etwas länger im Regal stehen lassen. Aber ich hatte schon vor Monaten damit geliebäugelt, ohne viel darüber zu wissen, nur erinnere ich mich, in dem unausschöpflichen Band Paris-Paris 1937-1957 davon gelesen zu haben, lange her, und es war nur vernünftig, ihn genau gestern zu pflücken.
„Der Roman [als Form] ist eine Suche, in deren Verlauf das Universum, in dem wir leben, erkundet, in Frage gestellt und neu geschaffen wird.” (Hat er das gesagt? Na, jedenfalls steht es in dem kurzen, Butor gewidmeten Absatz in Paris-Paris.)

Aus The Shape of Jazz to Come, 1959. – Ornette Coleman, Don Cherry, Charlie Haden, Billy Higgins.

Modernität ist etwas, das mich grundsätzlich interessiert, und Der Zeitplan (L’Emploi du temps), 1956 in den Éditions de Minuit erschienen, muss damals hypermodern gewesen sein. Die Übersetzung von Helmut Scheffel, zuerst 1960 im Biederstein Verlag, München, ist – vermutlich – kongenial. (Für die Neuausgabe bei Matthes & Seitz Berlin, 2009, wurde sie von Tobias Scheffel durchgesehen.)
Tolle Wasservergleiche!
„Denn damals war das Wasser meines Blickes noch nicht getrübt; seitdem aber hat jeder Tag seine Prise Asche hineingeworfen.” (S. 8)
„Ich habe die Augen geöffnet und graues, wie Spülwasser aussehendes Licht sich in den Saal ergießen sehen. Die drei Landstreicher atmeten regelmäßig.” (S. 14)
Diese Proben genügen mir schon als Qualitätsausweis.

Aktionsprogramm Natürlicher Klimaschutz (Eckpunktepapier) gebookmarked.
Straßenbegleitgrün.
Politik und Verwaltung haben ihre eigene Sprache.

Giftfracht

Ist Giftfracht ein poesiefähiges Wort? Wahrscheinlich! Unterdessen wird nach Lektüre eines ZDF-Artikels deutlich, warum die zuständigen polnischen Behörden partout nicht herausfinden wollen, warum in den letzten zwei Wochen 190 Tonnen toter Fische aus der Oder geborgen wurden und, wie zu lesen war, ihr Pegel um 30 cm angestiegen ist:
„So ist etwa Paweł Rusiecki, einer der vier stellvertretenden Direktoren des Wasseramtes, Ehemann von Umweltministerin Anna Moskwa.”
Ach so.
Bemerkenswert auch die „Ausgaben für neue Dienstfahrzeuge im Wert von mehreren Millionen Euro”. Vielleicht haben auch deutsche Autohersteller davon profitiert, das wäre doch schön.

Thomas Dudek, Fischsterben in der Oder : Offene Fragen und Ablenkungsmanöver in Polen (ZDF, 18.8.2022)

Wer ein bisschen über Ornette Coleman nachliest, wird die Information finden, dass seine Eltern zu arm waren, um ihn zum Musikunterricht anzumelden. Also hat er sich das Saxophonspielen als Teenager selbst beigebracht, neben seiner Arbeit als Fahrstuhlführer, allerdings ohne zu wissen, dass die Musik anders notiert ist als sie klingt, so dass er die Intervallproportionen zwar korrekt spielte, aber mit falschen Tönen. Man hat in diesem produktiven Irrtum eine Ursache für Colemans harmonische Freiheit gesehen.
Miles Davis, Konkurrenz witternd:
„Hell, just listen to what he writes and how he plays. If you’re talking psychologically, the man is all screwed up inside.”
Sein Trompeter-Kollege Dizzy Gillespie: „I don’t know what he’s playing, but it’s not jazz.”
Andere waren hellsichtiger, wie der Komponist Gunther Schuller:
„His playing has a deep inner logic, based on subtleties of reaction, subtleties of timing and color that are, I think, quite new to jazz. At least they have never appeared in so pure and direct a form”,
oder John Lewis, der Pianist des Modern Jazz Quartet:
„The only really new thing since the mid-’40s innovations of Dizzy Gillespie, Charlie Parker, and Thelonious Monk.”
[Alle zitiert nach dem Booklet zur CD-Box Beauty Is a Rare Thing: The Complete Atlantic Recordings, 1993]

Ornette Coleman, alto sax – Don Cherry, pocket trumpet – Charlie Haden, bass – Billy Higgins, drums [8.10.1959, Hollywood, California]

Ramblin‘ aus dem Album Change of the Century (1960) hat eine bluesige Phrasierung und Intonation. Es ist ein sofort eingängiges Stück. Ornette Coleman, aber auch Don Cherry und Charlie Haden, zitieren hier (offenbar) nordamerikanische Folkmelodien. Man hört schwach (Sprech-) Stimmen im Hintergrund, vielleicht von den Musikern, vielleicht vom Studiopersonal, was der Aufnahme Lebendigkeit und Alltagsnähe verleiht. Don Cherry spielt das zweite Solo, auf seiner sogenannten besseren Kindertrompete, und als wäre das alles nicht schon großartig genug, folgt ab 4:00 Charlie Haden, dessen Solo technisch gar nicht besonders spektakulär scheint, aber eben doch ist, minimalistisch begleitet von Billy Higgins‘ Glöckchensound. Viel später (1977) hat Ian Dury Hadens Solo über Ramblin‘ in einem seiner Songs zitiert. Zum Schluss wiederholt das Quartett das Thema – wie oft bei Coleman, ist es recht fröhlich – und dann ist die Sechseinhalbminuten-Sternstunde vorbei.

Anlässlich eines mehrtägigen Engagements in Paris 1997, hat Jacques Derrida Ornette Coleman für die Musikzeitschrift Les Inrockuptibles zu den Themen Komposition, Improvisation, Sprache und Rassismus interviewt. Ein englisches Skript (.pdf) gibt es bei ubu.com, aber das nur nebenbei.

Übrigens, ein anderer sehenswerter Clip aus der diesjährigen Ausgabe von America’s Got Talent ist der Auftritt der polnischen Sängerin Sara James, die einen Song (Lovely) von Billie Eilish singt. Dafür gibt’s einen ‚Golden Buzzer‘ – verdient!

Variable Gehaltsanteile

Im Herbst 2025 wird die nächste Bundestagswahl stattfinden. Bundeskanzler Olaf Scholz wird dann Stimmen, und, wenn es schlecht für ihn läuft, sein Amt verlieren. Soll man ihn bedauern?
Sein Gedächtnisverlust im Zusammenhang mit dem Betrugs- und Korruptionsskandal in Hamburg (Cum-Ex) ist nicht akzeptabel und muss, wenn schon nicht vor Gericht, dann per Wahlzettel geahndet werden.
Der Wikipedia ist zu entnehmen, dass der Bank-Räuber („Was ist ein Einbruch in eine Bank gegen die Gründung einer Bank?” – Bertolt Brecht, 1928) Christian Olearius vom Ehrenmann Peter Gauweiler (Kanzlei Gauweiler & Sauter, does it ring a bell?) anwaltlich vertreten wird. Viel Glück!
An seinem Grabe aber – der Gute ist schon achtzig – wird dermaleinst an seine kriminelle Energie und sein staatsschädigendes Verhalten erinnert werden.
(Wäre es nicht eine schöne Kollektivarbeit, neue Gesänge zur Dante’schen Hölle zu schreiben?)

Abgesehen von diesen geduldeten wirtschaftskriminellen Verwicklungen, ist aber auch die Politik insgesamt nicht so toll. Es wird gesagt, man wolle weg von fossilen Energieträgern, und dann wird die Mehrwertsteuer auf Gas auf 7% abgesenkt? Bis Frühjahr 2024?
Die Lenkungsfunktion von Preisen wird auf diese Weise nicht gesichert, vom Verlust an Steuereinnahmen ganz zu schweigen. Vielleicht nimmt sich die deutsche Politik demnächst ein Vorbild an Japan und ermuntert die jungen Leute, mehr Alkohol zu trinken.

Die Verwandtschaft erinnerte neulich an diesen Song von John Mayall.

Man’s a filthy creature
Raping the land and water and the air
Tomorrow may be too late
Now’s the time that you must be aware
Nature’s disappearing
Polluted death is coming, do you care?

Garbage going nowhere
Soon the dumps will spread to your front door
Lakes and rivers stagnant
Nothing lives or grows like years before
Nature’s disappearing
The world you take for granted soon no more

Read about pollution
Make manufacturers uncomfortable
Boycott at the market
Containers that are non-returnable
Aluminum, glass and plastic
Eternal waste that’s not destructible

We’re a generation
That may live out our natural time
But as for all our children
Born to suffocate in human slime
Nature’s disappearing
And we are guilty of this massive crime

Die Musik ist durchschnittlich und recht lahm (kein Schlagzeug!), aber der Text so aktuell wie vor fünfzig Jahren (1970). – Die Band besteht aus John Mayall, Don ‚Sugarcane‘ Harris, Harvey Mandel und Larry Taylor.

Ein unendliches Thema, weil es die „Ewigkeitslast” Plastik betrifft:
Anja Krieger, Plastikmüll im Meer. Schon 1972 schlugen Forscher Alarm (Deutschlandfunk Kultur, 2020)

Die taz am wochenende widmet ihre Titelgeschichte dem Fischsterben in der Oder und mahnt „ein grundsätzlich anderes Verhältnis zu unseren Flüssen” an. Tja, das wäre in der Tat notwendig und wünschenswert. Es werden aber die Fahrrinnen der Oder und der Elbe vertieft, für den Rhein ist es angekündigt. Man kann Gift darauf nehmen, dass es genau so gemacht werden wird, da können sich die Umweltverbände auf den Kopf stellen.

Die New York Times gedenkt des Walrosses Freya, das die norwegischen Behörden umgebracht haben. (Haut das hin mit dem Link?)

Nun zu etwas Erfreulichem. Ornette Coleman, der in den 60er Jahren Free Jazz gespielt hat – der Begriff ist seine Erfindung – wandte sich in den 70ern dem Free Funk zu. Zwischen diesen beiden Phasen liegt das Album Science Fiction (1972). Daraus hier Law Years, das noch mehr zur alten Seite hin neigt.
In einem anderen Stück, Rock the Clock, wird Charlie Haden seinen Bass über ein Wah-Wah-Pedal spielen [ab 1:02], und das klingt dann schon mehr nach Prime Time (Colemans electric band).

Ornette Coleman, as – Dewey Redman, ts – Bobby Bradford, tp – Charlie Haden, b – Ed Blackwell, dr

Und ein Fitzelchen aus der Populärkultur, der Auftritt von Sängerin Debbii Dawson aus Los Angeles bei America’s Got Talent – ein Sonnenschein.

Ornette Coleman Free Jazz

Die berühmte Schallplatte erschien im September 1961. Die Band besteht aus Ornette Coleman, Don Cherry, Freddie Hubbard, Eric Dolphy, Scott LaFaro, Charlie Haden, Ed Blackwell und Billy Higgins.

Zum Lesen und Hören:
Free Jazz: A Collective Improvisation (Wikipedia)
Steve Huey Free Jazz Review (AllMusic)
Gunther Schuller Free jazz: the explorations of Ornette Coleman (Encyclopedia Britannica)
Das Album, dem der Free Jazz seinen Namen verdankt (Ö1)