Sprachlosigkeitsschutt

Das Wort habe ich vom Blog Bücher sind doch egal geklaut (Eintrag vom 23. Februar, Jedes Mal, bevor ich etwas) – durfte ich doch?

Ist es der Wetterumschwung oder die Weltlage, was mir Kopfschmerzen bereitet? Die Monitor-Augen?

pösele – auch ein bedächtiges gemütliches Trinken.
Hej pöselnde in de Loop van den Oawend drij Flässe Winn opp.

pösele – ein langsames Essen.

Zitiert nach: Van Aewerdäss bes Wilewaj. Mundartwörterbuch. Boss-Verlag, Kleve 1995 (im Vertrieb des Mercator Verlags Duisburg).

Robert hatte mich ja schon gewarnt, dass es vielleicht voreilig war zu schreiben, ich sähe mir keine Filme an, die Monsieur im Titel haben. (Er erwähnte Chaplins Monsieur Verdoux.) – Oft ist es eine Sache des deutschen Verleihs. Der geheime Roman des Monsieur Pick von Rémi Bezançon heißt im Original Le Mystère Henri Pick, also ‚Das Rätsel Henri Pick‘ oder ‚Der rätselhafte Henri Pick‘. Fabrice Luchini und Camille Cottin spielen in den Hauptrollen, schlecht wird’s also nicht sein.

Es kann mir als leichtsinnig oder ignorant ausgelegt werden, dass ich mich dies Jahr hauptsächlich auf Komödien verlegt habe, aber ich bleibe dabei: Möglichst wenig Extragewalt auf die real bestehende Gewalt draufpacken. Keinen Tatort, keinen Polizeiruf, keinen Städtekrimi.
Vor einigen Tagen habe ich Jour de Fête von Jacques Tati geguckt und sehr gelacht.

Degens, Selfie ohne SelbstDer Titel von Marc Degens‘ Essay Selfie ohne Selbst (Leseprobe hier) – auf den ersten Seiten wird eine Freundin zitiert, die keine nachbearbeiteten Tagebücher schätzt, sondern nur ungeglättete Originale: „so als ob die Erstfassung die Wahrheit wäre und nicht selbst schon Literatur”, schaltet sich der Autor ein, für den auch Briefe und Tagebücher (auto)fiktionale Texte sind – hat mit den „Landschaftsaufnahmen mit eigenem Schatten” zu tun, die ein wiederkehrendes Fotomotiv von Michael Rutschky waren – „Gestellte Aufnahmen ohne eigenes Abbild. Schattenporträts […]” – was auf „R.” ebenso gemünzt sein könnte wie auf die vielen, die er in seinem Tagebuch porträtiert und doch ausgeblendet oder verfehlt hat.

Neben seiner Idee, die drei Tagebücher als Romanwerk aufzufassen – Mitgeschrieben als Angestelltenroman, In die neue Zeit als Wenderoman, und Gegen Ende als Künstlerroman -, werde ich Marc Degens‘ Mutmaßung im Hinterkopf behalten, dass „ein schriftstellerischer Mangel” hinter der geballten Negativität von Gegen Ende stecken könnte: weil „es einfacher ist über schreckliche Dinge zu schreiben als über schöne.” (In seinen eigenen Romanen hat M.D. den schwierigeren Weg gewählt.)
Auch Kreuzchen gemacht bei Lektüretips: Chris Kraus, Thomas Melle.

Im Buch versichert der Verleger, es werde kein vierter Tagebuch-Band erscheinen. Auf der Website lese ich aber: BISHER ERSCHIENEN: […]
Nun, wir werden sehen, was passiert.
Du kommst auch drin vor, der Titel der Autobiographie von Hanns Dieter Hüsch: unter Umständen flößt es Angst ein, ruft mindestens Unbehagen hervor.

Neulich im Kino. Es lief Die rote Wüste (1964) von Michelangelo Antonioni – ein Film wie Zahnschmerzen. Der Soundtrack direkt aus irgendeinem der elektronischen Studios jener Zeit, im Wechsel mit ohrenbetäubenden Fabrikgeräuschen, betont harsch.
Wundervolle Aufnahmen von bildsprengenden Dampfwolken, sonst alles möglichst scheußlich und unwirtlich. Ist Ravenna nicht die Stadt mit den Mosaiken? Antonioni zeigt nur die Rinnsteine.
Monica Vitti ist natürlich eine Leinwandgöttin …
Es hat mich geärgert, dass der Film seinen Kunstanspruch so laut vor sich herträgt.
Kunst ist super, aber bitte nicht aufdrehen.
Gut gefallen hat mir das Kino selbst, Il Kino in Kreuzberg, war auch schon mal da. Vor der Vorstellung kann man was essen und trinken. (Essen wird frisch zubereitet.) Zum Einlass bimmelt eine Portiersglocke.

Nachbehandlung

[Bei der Textredaktion war ein kurzer Abschnitt verloren gegangen:]

Raise a glass in a season of ash. Gutes Motto! schrieb ich meiner kritischen Freundin, eine Songzeile aus Cate Le Bon’s Wheel zitierend, dem mit ruhiger Majestät voranschreitenden Schluss-Stück ihres Pompeii-Albums. Sie widersprach: Ein Motto, das von Asche spricht?

In der Buchhandlung kaufte ich mir Marc Degens‘ Selfie ohne Selbst (heute erschienen).
Darin geht es unter anderem um Marc Degens in der literarisierenden, verzerrenden Spiegelung durch den verstorbenen Schriftsteller Michael Rutschky: In seinem dreibändigen Tagebuch-Werk (Mitgeschrieben, 2015, In die neue Zeit, 2017, Gegen Ende, 2019) hatte „Herr Rutschky” (wie er hier meist apostrophiert wird) offenbar wenig wohlwollend über seine Freunde, unter ihnen Marc Degens, geschrieben – was mich zweifeln lässt, ob er ihnen wirklich freund war.
Ich hab noch nicht sehr weit gelesen … Mein erster Eindruck ist, man hätte dem nachsinnenden Buch den (à la) Bernhard’schen Untertitel Eine Irritation beigeben können.
Die Noblesse, mit der Marc Degens einen Verrat protokolliert, ist bemerkenswert, ebenso die traurige Verwunderung dieser Seiten. Niederschrift und Löschung einer Seelenlast.
Übrigens kann ich mich erinnern, wie ich 2017 zur Vorstellung des zweiten Rutschky-Tagebuchbandes mit meinem Chef im Literaturhaus Berlin war, das zu der Zeit noch von Ernest Wichner geleitet wurde. Kurt Scheel, der Rutschky-Freund und nachmalige Herausgeber von Gegen Ende, war da und saß auf dem Podium, im Publikum unter anderen die Kritikerin und Frankfurter Kulturdezernentin Ina Hartwig, die ich nach Fotos erkannte, ebenso wie ihren Mann. Kurt Scheel habe ich als etwas säuerlich in Bezug auf sein Rutschky-Double in Erinnerung, aber hier galt es, einen Literaturabend zu bestreiten, da war er professionell und gewissermaßen schmerzlos.
Wie ein Schnappschuss ist mir eine kurze Szene nach der Buchvorstellung in Erinnerung geblieben. Kurt Scheel, mein Chef und ich standen einen Moment beisammen, der Verleger, Heinrich von Berenberg, hatte Wein gestiftet, ich dankte Herrn Scheel für den anregenden Abend, er lachte übers Gesicht, seine Augen blitzten, und blitzte nicht auch ein Zahn?
Er schien die Geselligkeit des Abends zu genießen.
War Herr Rutschky eigentlich auch da? Ich kann mich nicht erinnern, ich habe nichts notiert.

„Je me demande bien comment tu as connaissance de ces groupes assez confidentiels. Mystère”, schreibt mir meine Konversationslehrerin aus der Bretagne. Sie frage sich, wie ich an diese Geheimtips komme – das bezog sich auf das Duo Arlt: Ich hatte vorgeschlagen, dass wir ihren Song Oh bagnole besprechen. Er war mir bei Bandcamp vorgeschlagen worden, weil ich vorher eine andere Veröffentlichung des Labels Objet Disque gekauft hatte (Fabio Viscogliosi). Das ist das ganze, simple Geheimnis, ich werde es ihr nächstes Mal verraten.
Freundlicherweise hatte sie ihrerseits einen Musiktip für mich, die Pariser Band Feu! Chatterton.


Marc Degens, Das kaputte Knie Gottes

Das kaputte Knie Gottes von Marc DegensMarc Degens, 1971 in Essen geboren, ist ein Mann vieler Talente. Freier Schriftsteller seit Beginn der 90er Jahre, ist er auch als Herausgeber des Online-Feuilletons satt.org [von 2000 bis 2012, Anm. M.R.] und der SuKuLTuR-Heftreihe „Schöner Lesen” aktiv [für die inzwischen, aber noch nicht lange, Sofie Lichtenstein und Moritz Müller-Schwefe verantwortlich zeichnen, Anm. M.R.], die seit 2004 vor allem über Süßwarenautomaten vertrieben wird. Ein Wikipedia-Artikel erwähnt zudem (mir obskur erscheinende) Popformationen, Superschiff und Stendal Blast, in denen er Mitglied gewesen sein soll – möglicherweise eine Legende, vielleicht auch nicht.

Das kaputte Knie Gottes – der Titel von Degens‘ gerade [d. i. 2011, s.u.] erschienenem neuen Roman (nach Hier keine Kunst von 2008) leitet sich von einer Skulptur ab, die Dennis Kirchner geschaffen hat, eine der Hauptfiguren in dieser von den 80er Jahren bis zum Beginn des neuen Jahrhunderts reichenden Geschichte dreier ungleicher Freunde und ihres Aufwachsens im Ruhrgebiet zwischen Bochum und Gelsenkirchen.
Neben Dennis, dem Bildhauer, sind dies Mark, Lehramtsanwärter (zugleich Ich-Erzähler), und Lily, Lenin-Verehrerin, Zigarillo-Raucherin und Studentin mit wechselndem Studieninteresse. Mark vermittelt typmäßig zwischen dieser Extravaganten und dem asketisch-sturen, stolzen Dennis. Eskapaden nicht abgeneigt, bleibt er doch im Grunde „daheim bei Tante Polly”, wie er in Anspielung auf Mark Twain feststellt – Huck Finn, das sind andere. Indes, ob der ‚Normalo‘, verglichen mit den Lebensbewegungen seiner Freunde, die auf je eigene Weise in die Angepasstheit münden, sich letzten Endes nicht doch am ehesten Verrücktheit und Abenteuersinn bewahrt hat – diese Deutung lässt Degens immerhin zu.

Der Bochumer oder Bochum-Kenner wird vieles in diesem Roman wiedererkennen – das Fiege Pils, das hier getrunken wird, die Diskothek „Zwischenfall”, das Café Oblomow, das Stadtmagazin Coolibri -, doch ist es nicht nötig, dass dem Leser diese lokalen Anspielungen etwas sagen, die er ohnehin mit eigenen Erinnerungen vergleichen wird.
Die Geschichte einer Inszenierung von Brechts Stück Die Mutter, die Begegnung mit einem kunstbeflissenen Handwerker („Kunst verstehn heißt sie kaufen”), den man sich so ähnlich vorstellt wie die proletarische, von Armin Rohde verkörperte Figur Bierchen in Kleine Haie, die Episode eines tonnenschweren Hauptgewinns (eine sperrige Ladung Hunde-Dosenfutter) oder die einer bizarren Ausstellungseröffnung – dies zu lesen bereitet Vergnügen, ebenso wie die mit satirischer Schärfe gezeichneten Kunstmarkt-Szenen oder die grelle Schilderung Berliner Party-Lebens mit seinem je vollkommen irrsinnigen Personal.

Das kaputte Knie Gottes: Im Scheitern großer Pläne, im Auseinanderklaffen zwischen Größtem und Kleinem, Irdischem, liegt Komik, springt Komik hervor (sie ist nicht anders vorstellbar als beweglich). Andererseits ist Komik auch sublimierter Schmerz, und so ist Degens‘ Roman, so kurzweilig und lustig er zu lesen ist, auch ein Denkmal für die Durststrecken und Niederlagen, für die enttäuschten Hoffnungen und den Katzenjammer seiner Helden.

Leseprobe: hier (pdf).

[Wiederveröffentlichung vom 4.9.2011 (vor meiner Zeit bei satt.org)]

Außerdem:

  • Marc Degens, Fuckin Sushi. Roman. 320 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag. DuMont Buchverlag, Köln 2015. 19,99 Euro