Fies Tüch, wat siche lecker

Manchmal sind plötzlich Sätze da, beim Zähneputzen oder Nudelkochen.

„Fies Tüch, wat siche lecker” würde ich meinem Vater zuordnen, beim Trinken von Kräuterlikör – wobei ich mir gar nicht sicher bin, ob er je Kräuterlikör getrunken hat, ich erinnere mich nur an Eierlikör, der in dickwandigen Gläschen kredenzt wurde. Ich benutzte sie, um Shrewsbury Biscuits auszustechen, welche ich zu meinen Zeiten als Schüler des öfteren backte (buk), 500 g Mehl, 300 g Zucker, 300 g Butter, je eine Messerspitze Salz und Zimt, ein echtes 70er-Jahre-Rezept.
Mit Rotwein, den meine Mutter trank – ein Glas am (Feier-) Abend: denn sie war ihr Leben lang, trotz der zwölf Kinder (wegen, wie manche meiner Brüder behaupten), berufstätig -, konnte mein Vater wenig anfangen, dass er aber Zucker in sein Glas rührte, um mit der Süße nachzuhelfen, mag eine Legende sein, wiewohl es ihm, der mit Schokolade belegte Brötchen aß und für uns Kinder Nudelsuppe kochte (Sahnepudding mit Spaghetti), wahrhaftig zuzutrauen gewesen wäre.
Jahrelang schwärmte er aber von Tokajer, dem ungarischen Dessertwein. Einmal hatte er Gelegenheit gehabt, davon zu kosten, vielleicht im Krieg (vier Jahre), kaum in Gefangenschaft (vier Jahre). Einen Führer und vier Bundeskanzler später gab’s Tokajer bei Aldi, aber er schmeckte nicht wie erhofft: eine Enttäuschung. Der erinnerte Wein war längst zu einem Traumwein geworden.

Hier versuche ich nun, im neuen WordPress Editor, der mir auf die Nerven geht, die neue Single von Goat Girl zu verlinken, die am 29. September veröffentlicht wurde. Produzent ist wieder Dan Carey, der aus der Band von K. Tempest bekannt ist, aber u.a. auch mit Emiliana Torrini, Chairlift und La Roux gearbeitet hat. Die Zusammensetzung der Band hat sich verändert, auf dem Pressefoto erkenne ich nur Clottie Cream und Rosy Bones, Naima Jelly und L.E.D. sind offenbar ausgestiegen, schade.

Goat Girl, Sad Cowboy

You crawl over seas of granite, ein Kompositionsauftrag des JACK Quartets […] ist das neueste und radikalste Streichquartett von Clara Iannotta“, lese ich im Booklet zur jüngst erschienenen CD Earthing (Wergo, Mainz 2020). „So radikal, dass die vier Musiker zur Sicherheit auf Billiginstrumente umstiegen.” Von diesem Zaubertrick habe ich natürlich nichts mitbekommen, als das Werk im Januar beim Ultraschall Festival uraufgeführt wurde. Die Instrumente werden um mehr als eine Oktave nach unten gestimmt und die Saiten mit Büroklammern präpariert. Dies sind die äußeren Mittel, mit denen die Komponistin eine bildstarke Musik erschafft, die den Hörer im Nu auf den Grund des Marianengrabens versetzt, elf Kilometer unter dem Meeresspiegel – jene Tiefe, in die die Ozeanographen Jacques Piccard und Don Walsh, mit denen Theresa Beyer ihren schönen Einführungstext beginnt, im Jahr 1960 hinabtauchten. Am Meeresgrund gibt es kein natürliches Licht, kein Sonnenlicht, und doch ist es nicht vollkommen finster: die dort lebenden Tiere und Organismen emittieren ein irreales Leuchten. Schummer, Schlamm, Wasserdruck, der das U-Boot knacken und knirschen macht, Mulmigkeit, Ausgesetztsein, ins Unendliche gedehnte Zeit, all dies ist in den ozeanischen Kompositionen Clara Iannottas zu hören und körperlich zu erfahren – atemberaubend.
Reizvoll an speziell diesem Werk, You crawl over seas of granite (2019/20), das die altehrwürdige Gattung Streichquartett bis auf die Wurzel neu aufzieht, ist auch, dass die Komponistin hier etwas von ihrer Kontrolle abgibt. Extrem heruntergestimmte Instrumente entwickeln eine nicht bis ins einzelne steuerbare Eigendynamik. Paradoxerweise hat genau dies Leinelassen die Künstlerin ihrer Vision näher gebracht.

Damit nicht in direktem Zusammenhang stehend, aber ich muss dennoch daran denken: Im aktuellen Heft des Jazzpodiums schreibt der Komponist Bernhard Lang von dem Problem, dass die Partituren neuer Musik oft so kompliziert sind, dass die Interpreten „mehr dem Leseprozess als dem sich gegenseitig Hören verpflichtet” seien. Sein Kollege Georg Friedrich Haas habe gerade daraus (dies zumindest Langs Vermutung) die Idee entwickelt, in seiner Komposition In Vain „das Ensemble über weite Strecken auswendig im Dunkeln” spielen zu lassen.

Es fehlt noch ein Schluss-Satz. Ich zitiere ein Schild am Rolltreppenaufgang U-Bahnhof Turmstraße, Moabit: „Handlasten und Tiere müssen getragen werden.”

Spielgemüt

In der aktuellen Ausgabe November des Jazzpodium, der seit 1952 bestehenden Zeitschrift, die ich ab Dezember für zunächst ein Jahr abonniert habe (56,00 Euro incl. Versand), las ich ein Interview von Adam Olschewski mit Joe Morris, „The Grenzgänger” überschrieben.
Ich kannte Morris vorher nicht (ich kenne die meisten Leute nicht, ha ha), jetzt höre ich mir einige Beispiele seiner Musik an. Er hat eine große Bandbreite. Übrigens war er Lehrer von Mary Halvorson.
Über seinen Lehransatz den Studenten gegenüber sagt er: „Ich versuche alles, was geht, um sie zu inspirieren. Ich kritisiere sie nicht. Ich sage ihnen nie, was sie mögen sollen. Mein Ziel ist es, dass sie sich selbst hören und einen Weg finden, ihre eigenen Ideen auf ein höheres künstlerisches Level zu heben.” Für das Studienfach Free Music vermutlich die einzig sinnvolle Methode, die aber auf andere Lehrfächer nicht ohne weiteres übertragbar sein mag. Doch der Gedanke, dass die, die etwas lernen sollen, immer vorher schon etwas wissen, das es auch oder zuerst zu berücksichtigen gilt – eine Überlegung ist es wert.
(Ich frage mich, von was ich sagen würde, dass es mich inspiriert. – Alles, was in mir auf Widerhall trifft, ist eine Inspiration. Ergibt das Sinn? Dann wäre sie ein positives Reagieren eines fremden Geistigen mit meinem eigenen Geistigen, ein Erkennen.)

Inspirierend war zum Beispiel die Ausstellung Revier von Daniela Friebel, ihre zweite ‚vogelkundliche‘ Arbeit, nach Auspicia über die Stare in Rom. – Hier ging es nun um Nachtigallen.
Zu nachtschlafener Zeit war die Künstlerin mit ihrem Fahrrad und zu Fuß – ohne Kamera – durch Berlin gestreift, um nur mit dem Gehör Singorte von Nachtigallen zu finden. Die Koordinaten der jeweiligen Singwarten und Reviere per App gespeichert, kehrte sie bei Tage wieder dorthin zurück, jetzt mit Fotoapparat, und porträtierte sie – vollkommen unspektakuläre Berliner Plätze übrigens.
Auf den an einer einzigen Wand in Petersburger Hängung präsentierten Farbfotografien waren natürlich keine Nachtigallen zu erkennen, nur im Eingangsbereich eine Nahaufnahme, bei Gelegenheit des Beringens. – Ein zweiter Raum bot sogenannte Spektrogramme, den einzelnen Fotografien numerisch zugeordnet: graphische Notationen (in Nachtblau) der mitgelauschten (und per Telefon aufgenommenen) Nachtigallengesänge; im Prinzip so ähnlich wie die von den Nutzern kommentierten Klangwolken bei SoundCloud. Die Blätter verzeichneten Ort, Zeit und Dauer des Gesangs, umrissen mit einigen Worten Art, Lage und Zugänglichkeit des Reviers und protokollierten trocken zusätzliche Klangereignisse wie Autobahnrauschen, Türenschlagen oder Niesen.
„Verstummen der Nachtigall bei Annäherung”, vermerkte lapidar ein im übrigen leeres Blatt.
Die Tatsache, dass Berlin so beliebt bei Nachtigallen ist, erklärte Daniela Friebel damit, dass es hier viele unaufgeräumte Stellen gibt, die aus Geldmangel nicht verschönert werden. Da hat die Berliner Schludrigkeit also am Ende doch auch etwas Gutes.
Die verschiedenen gewitzten Drehs der Revier-Arbeit gefielen mir sehr: Bildmotive auswählen – mit dem Ohr. Vogelgesang aufzeichnen, aber nicht abspielen (Ausnahme: ein unscheinbarer Klang-Kasten draußen auf dem Fensterbrett). Umkehrung aller Nachtigallenromantik ins Nüchterne. Pseudowissenschaftlichkeit. Komik durch sprachliche Knappheit. Komik durch sprachliche Exaktheit. Einen Nachtvogel studieren, aber Tagbilder aufnehmen.

Inspirierend auch das kleine Konzert von Greg Cohen (b), Elias Stemeseder (p) und Joey Baron (dr) im Teehaus DaBangg. Den Anfang machte ein Stück von Duke Ellingon, I Let A Song Go Out Of My Heart. Es folgten Old Folks (Willard Robison), No Idea, Hypochristmastreefuzz, Poor Wheel (alle Misha Mengelberg) und House Party Starting (Herbie Nichols). Den Schluss bildete das bittersüße Just A Gigolo (Leonello Casucci), das ich vor allem von Thelonious Monk kenne:

Amüsiert hat mich, wie Joey Baron – war es bei diesem Song? – auf seinem teilweise mit den bloßen Händen gespielten Drum Set immer leiser wurde, sich zuletzt halb von seinem Hocker erhob und sein Solo damit beendete, dass er frenetisch die Blätter einer Pflanze glattstrich, die zufällig in seiner Ecke stand. Das war ein lustiger, aber auch hintersinniger Moment – er sagt etwas über Barons Verständnis der Welt als Klang, und über die Fähigkeit jedes Menschen, daran Anteil zu haben.

Die Überschrift dieses Posts ist ein Zitat von Karl Berger aus seiner Kolumne Music Mind in der schon zitierten Ausgabe des Jazzpodium.
Karl Berger sagt: „Wenn wir glauben, nicht musikalisch zu sein, dann denken wir einfach zu viel.”

Links
Joe Morris
Riti Records (von Joe Morris gegründetes Plattenlabel)
Daniela Friebel