Spätwinter

Bevor wir gestern (vorgestern) mit knapp zwanzig Leuten bei eisigen Temperaturen um den Schlachtensee spazierten – eine Kollegin, die nach sieben Jahren das Unternehmen verließ, hatte sich dies zum Abschied gewünscht: Wenn das Unternehmen zehn oder elf Jahre alt ist, dann sind sieben Jahre eine lange Zeit, und man darf sich was wünschen, und der Wunsch wird erfüllt – hatte ich Erdnüsse und Rosinen ins Vogelhäuschen gestreut und mich gefragt, ob Vögel sich untereinander helfen. Es ist doch denkbar, dass ein Vogel A einem Vogel B, von dem er weiß, dass der ein süßer Schnabel ist, zwitschert: He, du magst doch Rosinen! Da hinten! Geh mal gucken! (Und Abflug.)
Ein Kollege erzählte von einer Krähe, die ihm ständig die Balkonpflanzen zerrupfte. Eines Tages legte sie ihm (zur Begütigung, oder im Tausch) eine Wurst in den Blumenkasten.

Von links nach rechts: Tom Rainey – drums, Tomeka Reid – cello, Michael Formanek – double bass, Mazz Swift – violin, Ingrid Laubrock – tenor and soprano saxophones, Brandon Seabrook – guitar

Das Format und die Ausstattung können dazu verleiten, in Ann Cottens Die Anleitungen der Vorfahren eine Fortsetzung von Verbannt! zu vermuten. Ist aber falsch. Das neue Buch, das keine Gattungsbezeichnung trägt, bezieht sich zu großen Teilen auf einen Studienaufenthalt A.C.s auf Hawaii und enthält mindestens zur Hälfte Prosa. Sie liest sich gut, ist aber auch voller Widerhaken, weil die Autorin auf ihre eigenwillige, aus ihren früheren Büchern bekannte, Weise Pronomen und Substantive gendert, also beispielsweise nicht „sie” oder „er” schreibt, sondern „sier” (eine der leichteren Übungen), nicht „ihr oder „sein”, sondern „seihrn”, und so weiter, was im Vortrag erstaunlicherweise nicht holzig im Rachen steckt wie Spargel, sondern recht geschmeidig klingt. Dennoch sehe ich dies Verfahren skeptisch, weil dem Lesefluss laufend ein Bein gestellt wird und die Leserin mit der Nase auf die gegenderten Worte fällt, und nicht, zumindest nicht ungestört, die ganze Aufmerksamkeit den Inhalten widmen kann, die doch diese Aufmerksamkeit verdient haben und auch erfordern (nicht von Pappe!).
Gedankliche Brillanz und meschuggeness sind in Die Anleitungen der Vorfahren beide zu finden; Belesenheit, Humor, Wissbegierde, Nachdenken über koloniale Schuld, über die Größe der Natur und die Kleinheit des Menschen; zurückweichende Scheu und Hineinstürzen – eine aparte Mischung, nicht langweilig, aber schwierig. Man muss es mögen. Ich mag’s. (Aber ich hab jetzt auch nur übers Gendern geschrieben.)

Die alte Tante FPD

„O nee. Nee, Mama, nee”, hörte ich auf dem S-Bahnhof Zehlendorf ein Mädchen sagen, als sich die Türen der Stadtbahn 1 öffneten und der schmuddelige barfüßige Obdachlose ins Blickfeld kam, an seinem Hosenbund nestelnd – was ich auch noch gerade sah, bevor ich zum vorderen Wagen ging. Ich habe nicht immer die innere Stärke, mich den hässlichen Seiten der Großstadt auszusetzen. Später stolperte ein anderer Elender durch die Wagen. Nicht ohne Ekel ließ ich ein Geldstück in seine vage vorbeiziehende Hand fallen. Die meisten checken ihre Handies, haben nichts gesehen und nichts gehört, lauter Einzelne, eingesunken ins Gallert der digitalen Welt, immer saugend, und immer eingesaugt.
Nemo kreuzte auch auf und psalmodierte seinen Spruch, das war auf der Rückfahrt.
„Sehr geehrte Fahrgäste”.
Nemo ist schon okay. Wo er wohl herkommt?
„Gute Weiterfahrt! Kommen Sie gut nach Hause!” – Das sagt er zu mir, aber für den Waggon sagt er es auch noch mal.

Die [air quotes] Zukunftskoalition [air quotes] hat sich nach ihren umfänglichen Beratungen auf ein „Weiter so” verständigt. Statt eine Kindergrundsicherung einzuführen – das wäre etwas Neues gewesen-, bleibt sie beim Alten und beschäftigt sich mit dem Wesentlichen: dem Auto („der Deutschen liebstes Kind”).
Hier ein Überblick über die tollen 144 Autobahnprojekte, für deren Planungsbeschleunigung angeblich ein überragendes öffentliches Interesse besteht:

Beschleunigung Straßenprojekte (pdf)

Mehr Waldrodungen, mehr Artenvernichtung, mehr Versiegelung, mehr Gift. Aber mit dem Photovoltaik-Schmuck längs der Trassen wird sicher alles schön.

Die Süddeutsche Zeitung (der Artikel ist leider nicht frei lesbar) zitiert den Präsidenten des Deutschen Naturschutzrings, Kai Niebert, mit den Worten: „Ich träume heute Nacht davon, in meinem mit E-Fuels betankten Porsche über eine nigelnagelneue, mit Solarzellen gesäumte Autobahn zum klimaneutralen Flughafen zu fahren.”

Gestern ist bei Pyroclastic Records die neue Platte von Ingrid Laubrock erschienen, The Last Quiet Place. Anspruchsvolle, immer fesselnde, Musik ohne Kästchen und Scheuklappen. Jazz, Klassik und Rock teilen sich das Zimmer, zwischendurch wird es laut. Das Zusammenspiel dissonant (bei Bedarf), wenigstens harmonisch frei – nicht, dass Wohlklang verschmäht würde (es gibt überraschend viel davon), nur: er setzt sich nicht fest, bleibt auf der Kante. Musik zum Nägelkauen.
Das Sextett aus I.L. (Tenor- und Sopransaxophon, Komposition), Mazz Swift (Violine), Tomeka Reid (Violoncello), Brandon Seabrook (Gitarre), Michael Formanek (Kontrabass) und Tom Rainey (Schlagzeug) ist eine Ballung musikalischen Genies und technischen Könnens.