Die alte Tante FPD

„O nee. Nee, Mama, nee”, hörte ich auf dem S-Bahnhof Zehlendorf ein Mädchen sagen, als sich die Türen der Stadtbahn 1 öffneten und der schmuddelige barfüßige Obdachlose ins Blickfeld kam, an seinem Hosenbund nestelnd – was ich auch noch gerade sah, bevor ich zum vorderen Wagen ging. Ich habe nicht immer die innere Stärke, mich den hässlichen Seiten der Großstadt auszusetzen. Später stolperte ein anderer Elender durch die Wagen. Nicht ohne Ekel ließ ich ein Geldstück in seine vage vorbeiziehende Hand fallen. Die meisten checken ihre Handies, haben nichts gesehen und nichts gehört, lauter Einzelne, eingesunken ins Gallert der digitalen Welt, immer saugend, und immer eingesaugt.
Nemo kreuzte auch auf und psalmodierte seinen Spruch, das war auf der Rückfahrt.
„Sehr geehrte Fahrgäste”.
Nemo ist schon okay. Wo er wohl herkommt?
„Gute Weiterfahrt! Kommen Sie gut nach Hause!” – Das sagt er zu mir, aber für den Waggon sagt er es auch noch mal.

Die [air quotes] Zukunftskoalition [air quotes] hat sich nach ihren umfänglichen Beratungen auf ein „Weiter so” verständigt. Statt eine Kindergrundsicherung einzuführen – das wäre etwas Neues gewesen-, bleibt sie beim Alten und beschäftigt sich mit dem Wesentlichen: dem Auto („der Deutschen liebstes Kind”).
Hier ein Überblick über die tollen 144 Autobahnprojekte, für deren Planungsbeschleunigung angeblich ein überragendes öffentliches Interesse besteht:

Beschleunigung Straßenprojekte (pdf)

Mehr Waldrodungen, mehr Artenvernichtung, mehr Versiegelung, mehr Gift. Aber mit dem Photovoltaik-Schmuck längs der Trassen wird sicher alles schön.

Die Süddeutsche Zeitung (der Artikel ist leider nicht frei lesbar) zitiert den Präsidenten des Deutschen Naturschutzrings, Kai Niebert, mit den Worten: „Ich träume heute Nacht davon, in meinem mit E-Fuels betankten Porsche über eine nigelnagelneue, mit Solarzellen gesäumte Autobahn zum klimaneutralen Flughafen zu fahren.”

Gestern ist bei Pyroclastic Records die neue Platte von Ingrid Laubrock erschienen, The Last Quiet Place. Anspruchsvolle, immer fesselnde, Musik ohne Kästchen und Scheuklappen. Jazz, Klassik und Rock teilen sich das Zimmer, zwischendurch wird es laut. Das Zusammenspiel dissonant (bei Bedarf), wenigstens harmonisch frei – nicht, dass Wohlklang verschmäht würde (es gibt überraschend viel davon), nur: er setzt sich nicht fest, bleibt auf der Kante. Musik zum Nägelkauen.
Das Sextett aus I.L. (Tenor- und Sopransaxophon, Komposition), Mazz Swift (Violine), Tomeka Reid (Violoncello), Brandon Seabrook (Gitarre), Michael Formanek (Kontrabass) und Tom Rainey (Schlagzeug) ist eine Ballung musikalischen Genies und technischen Könnens.