Gewöhnliche Baustellenkaputtheit

Der Bagger hackt in den Boden, kippt, kippelt die Schaufel, rüttelt den Sand durch den Rost, dreht steif seitwärts, wirft Steinbrocken ab. Der Motor malocht, aber die Ketten stehen.
Hinter dem Schuttberg die angenagten Mauern, abgeplatzter Putz, weiß, ocker, lindgrün, blassgelb, die Farben in einem fort angeraunzt von Kälte und Nässe, so sehen sie aus. Eine 12 ist deutlich zu lesen und ein paarmal, neonfarben: STOP. Wandlöcher, Fensterlöcher, Türlöcher unter dichtem Himmel. Das karge Kra-kra der Nebelkrähen und der schmutzige Rauch, der da hinten schon aufsteigt, ergeben ein schlüssiges Bild und ein einsilbiges Wort. Manchmal landet eine Krähe auf der rauhgrünen Zunge der Straßenlaterne dort unterm Fenster und lässt sie stärker erzittern. Unbehaglich sieht das aus, kalt, doch gerade richtig für diese ernsten, befrackten Vögel, nach denen ich mich immer umdrehe, als gäb’s da was zu lernen, als wäre es wirklich möglich: sich etwas abgucken, Krähenkonzentration, Krähenfokussierung. Kommt kein Sterbenswort von dieser Zunge, nur abends, nachts, schweigt sie ihr Licht, da sitzen die Arbeiter längst in ihren Containern und essen Fritten und zischen ein Bier und suchen mit dem nackten Fuß nach dem verlorenen Pantoffel.

Gör

liebe autoren,

belegexemplare der juliausgabe des Abwärts! liegen in der rumbalotte zur abholung bereit.
bitte sprecht eine tresenkraft eures vertrauens an.
wer nicht selbst abholen kann, sende mir bitte eine postanschrift.

dankesgrüße,

k

Diese Mail war gestern in meinem Postfach, und heute radelte ich zur Metzer Straße, um mein Exemplar in Empfang zu nehmen. Aber die schattenäugige Blondine hinter der Theke verweigerte es mir und fragte nur schnippisch: „Bin ich K.?”

Unter Evangelen

Neulich in einer Kirche der Evangelen. Im Glockenturm wurde ein Fassbinder-Film gezeigt,
Angst vor der Angst.
Draußen ein Zettel mit Handy-Nummer: Nach 19.00 Uhr bitte anrufen.
Es ging mehrere Treppen hoch, am Ende der Treppen über eine Metalltreppe weiter nach oben, ins Gebälk. In den Nischen Kerzen, auf den Stufen Staub. Auf einem Absatz musste ein Zettel unterschreiben werden.
Der Vorführraum eine Art Tenne, Kühlschrank mit Bier, Wein, die Glocke halb hinter Gerüsten verborgen, eine Holzplanke, schräg über Rohre gelegt.
Der Wind schlug wie ein loses Laken um den Turm.
„Wird hier renoviert?”
„Nein.”
Nachher traten einige von uns ans Geländer, die Tür knallte zu.
Schöne Aussicht.
Wir froren.
Einer erbot sich, Tee zu machen, war lange weg, kam dann mit zwei Thermoskannen.
Links eine klapprige Tür zum Gewölbe. Zwei zogen Teller mit Essen hervor, das sie bis zum Beginn der Vorstellung nicht geschafft hatten – aßen sie jetzt kalt weiter.
Gab auch Kartoffeln. (Danke, kein Hunger.)
Tags drauf im P103, draußen. Ein älterer Mann suckelte sein Käffchen, hatte wohl die glorreichen Zeiten der Potse erlebt, er strahlte eine abgeblätterte Würde aus.
Unser beider Gesichter hellten sich sehr auf, als unter unseren Tischen her ein Eichhörnchen vorbeihuschte, hin und zurück.

Post-Post

Angeregt vom epizentriker, der trotz vielfachen Drängens, seine Beiträge doch als Groschenhefte zu produzieren und an seine Follower zu verschicken, auf stur stellt („Was ist der Mehrwert?”), möchte ich den kommenden Post in Briefform oder als Fax versenden, also oldfashioned analog.
Es handelt sich um einen Beitrag – weiß nicht, ob er angenommen wird – für die Berliner Zeitschrift Abwärts, deren kommende Ausgabe unter dem Thema „Lyrik wäscht sich nicht” steht. Ich habe dazu ein „Schmieriges Gedicht” geschrieben, nur eine Seite, keine Angst.
Wer Interesse hat, möge sich bitte melden. Die unter Pseudonym schreibenden Blogger müssen ihr Pseudonym keineswegs aufdecken, sie müssten nur Sorge tragen, dass ihr Briefkasten – oder der Briefkasten an der von ihnen angegebenen Adresse, wenn es nicht ihr eigener ist – an einem bestimmten, noch festzulegenden Tag mit dem entsprechenden Namen versehen ist.
Selbstverständlich ist auch die c/o-Adressierung an den örtlichen Bäcker oder Krämer möglich.
Für Berliner Empfänger hinterlege ich den Text auf Wunsch an öffentlichen Orten, da muss dann nur das Timing stimmen.

Snickerstorte

E. schickte mir, kopiert auf fünf DIN A3-Blätter, ein ZEIT-Interview mit Wolf Haas („Warum lieben
wir Krimis?”) – lesenswert!
Drei Zitate daraus:

„Aus dem Vollen zu schöpfen ist selten eine Haltung, die zu interessanten künstlerischen Arbeiten führt. Formale Beschränkungen sind wie eine Batterie, die Strom erzeugt […].”

„Ich glaube, dass das Explizite ein Fehler ist.”

ZEIT: Wieso erzählen Sie Ihre Geschichten immer so indirekt, mit einer Brechung?
Haas: Weil ich finde, dass die Literatur dafür da ist. Ich verstehe die Direktheit nicht.
Ich habe mal ein Interview mit einem Jazzgitarristen aus den sechziger Jahren gelesen,
Wes Montgomery, und der hat den schönen Satz gesagt: ‚Ich kenne die Melodie, du kennst
die Melodie, warum soll ich sie spielen?’”

Vielen Dank, ich habe mich gefreut und werde es sorgsam aufbewahren!
Und nein, Vile Bodies habe ich noch nicht angefangen.

Für ein paar Tage war H. zu Besuch. Gestern waren wir im Café Buchwald, heute zeigte ich ihr die
AEG Turbinenfabrik. Aus den Kästen vor der Buchhandlung nahm sie sich den Katalog der Kurt Wolff Stiftung mit und die Wagenbach’sche Zwiebel, die sie dann aber doch nicht mehr haben wollte.
Ich tat sie in den Kühlschrank. Ich hab auch Juxmomente.
Für die U-Bahn überlegten wir uns ein Fake-Gespräch darüber, wie es neulich beim Engländer war („Von der Snickerstorte schafft man nur ein Stück!”, „Aber die fritierten Ananasringe …!”, „Auch gebraten sind Marshmallows lecker, doch verlieren sie die Form”).
H. meinte, ich mache zu viel „Gewese” um die Erdbeere.
Sie staunte über den Straßenstrich Kurfürsten Bülow Potse, beglückwünschte mich zu Freddys Waschsalon in der Gotzkowskystraße und war verblüfft, dass ich ein Bett habe. – T. hatte sich, als er hier gewesen war, an Wohnsituationen erinnert gefühlt, die er „aus Schwellenländern” kannte.
Daran dachte ich gleich, behielt es aber für mich. Nicht den Gegner munitionieren.

Als Freitag vormittag tschilpend ein Spatz vor der Ladentür saß, sagte ich: „Nein, Vögelchen, nein”
und tat einen Schritt auf ihn zu – dabei bemerkte ich seinen Kumpel. Dieser flatterte gehorsam hinaus.

Blumenerde jemand?

Wo aufhören? Erst mal anfangen.

Neulich fuhr ich in Gedanken den Kleinen Tiergarten lang, Ernst Jandl im Kopf („wir sind die menschen auf den wiesen / bald sind wir menschen unter den wiesen / und werden wiesen und werden wald / das wird ein heiterer landaufenthalt”), da polterte jemand hinter mir: „Mach voran, Opa!” Es war ein Mann in meerrettichfarbender Rennfahrerkluft. Die Farbe seiner Kostümierung und seine Zipfelmütze erinnerten mich an Woody Allen in dem Film von ’72. Der Zuruf machte mich sprachlos. Wäre ich tatsächlich ein alter Mann gewesen – es hätte es nicht besser gemacht.
Meiner Ansicht nach sollte man Alten mit Respekt begegnen, weil sie das Leben so lange mitgemacht und ihm die Treue bewahrt haben. Gleich welchen Alters man ist, man ist immer Überlebender von Generationsgenossen, die nicht so lange gelebt haben wie man selbst. Eine andere als eine dankbare und demütige Haltung zum Leben (und Sterben) scheint mir daher deplaciert. (Neulich fragte mich jemand, wessen ich mich vielleicht schämte, ich glaube, es war eingegrenzt auf die Zeit der Kindheit. Ich sagte, dass ich als Kind Ameisen zertreten hätte.)

Neulich wurde meine Erdbeere ein Jahr alt, ich habe sie umgetopft und ein wenig Erde aus einem Siebeneinhalblitersack hinzugelöffelt, den ich bei Bio Company gekauft habe. (Blumenerde jemand?) Aber es geht ihr nicht ganz gut, einige Blättchen hatten sich rot verfärbt, andere waren braun gerändert, die habe ich entfernt. Gestern, als wir im Café Savo saßen, rieten mir die Grünen Daumen, sie an die Luft zu setzen, und da steht sie nun auf dem Fensterbrett und breitet ihre Blätter in die Sonne.

Ich habe mir noch einmal Ann Cottens Der schaudernde Fächer vorgenommen und mir auch das Interview angesehen, das Denis Scheck für „Druckfrisch” mit ihr geführt hat. Er ist unbedingt zu loben, dass er Ann Cottens sperriger Prosa ein Forum gibt, aber bei der Frage: „Gefallen Sie sich in Ihrer artistischen Radikalität?” bin ich wieder zusammengezuckt. Sie schlägt sich im übrigen wacker. Es ist reizvoll, die chemische Reaktion zwischen ihr und dem Medium zu beobachten. Das Fernsehen verlangt Niedlichkeit und Glattheit, aber sie hat (für das Fernsehen) nur Säure und Widerhaken, was sicher kein Kalkül ist, sondern daraus resultiert, dass sie eben eine Schriftstellerin ist und sie das Posieren und Kunststückchenmachen nicht zu ihren Aufgaben zählt. Sie ist kein Weibchen und kein Pfau. Immerhin, ihr Interviewpartner ist kein Dummkopf, aber hilft das? (Auch ein anderes Fernsehinterview, im Bayerischen Rundfunk, ist schwierig. Die Befragte antwortet überlegt und lässt sich durch die Interviewerin, die sie absurd übertrieben anlächelt und dabei mit der Mikrophonpistole in Schach hält, nicht merklich irritieren.)
Der Kritiker der FAZ umschrieb Der schaudernde Fächer – meines Erachtens zutreffend – als expressionistische Reflexionsprosa. Ich lese die Erzählungen (und eingestreuten Gedichte) als willentlich unfertig und nicht ausgereift. Es gibt großartige Formulierungen, aber manches ist unfassbarer Trash. Die Autorin weiß das natürlich, und es macht mich beinahe wütend, dass sie nicht meine Kunstauffassung teilt, wonach ein Werk bestmöglich ausgeführt und abgerundet sein soll. (Ich sage gar nicht, dass ich mit dieser Idee Recht habe.)
Übrigens hat Der schaudernde Fächer viel Kritikerlob erfahren. Ich müsste die Rezensionen noch einmal nachlesen, um nachzuprüfen, ob sie klarsichtig waren. Meiner Erinnerung nach fielen sie unkritisch aus, in dem Sinne, dass sie nur das Positive hervorgehoben und sich um die Herauspräparierung des Streitbaren gedrückt haben. Wenn Scheck Cottens Prosa als „von irrlichternder Schönheit” charakterisiert, ist dagegen im Prinzip nichts einzuwenden, wenngleich Schönheit nicht das ist, was mir als erstes in den Sinn gekommen wäre. Ich würde überhaupt vorsichtig sein mit Zu- und Festschreibungen bei einer Autorin, die, meiner Einschätzung nach, nicht nur unablässig damit beschäftigt ist, mit der Egge über die Sprache zu fahren, um sie locker und fruchtbar zu halten, sondern die auch mit jedem Gedicht, jedem Essay und jeder Erzählung Zäune und Scheuklappen niederreißt und einsammelt, um sie grimmig ein für allemal zu vernichten und unschädlich zu machen. (Indem ich dies schreibe, mache ich mich selber einer Zu- und Festschreibung schuldig, aber ich hoffe, sie ist derart, dass sie sich selber aushebelt.)

Harli, der auf meine ausgestreckten Beine sprang und sich, in Viertelkreisdrehungen, angelegentlich das Fell leckte, wobei er, um den Hals zu erreichen, seine Zunge mit ruckenden Kopfbewegungen auswarf, wie vielleicht ein Mensch eine Schlinge auswirft, um einen Gegenstand heranzuziehen, der dann aber nur umfällt und unerreichbar bleibt.

Freitag im Soundcheck von radioeins wurde unter anderem das Album Primrose Green von Ryley Walker besprochen. Die Wertung der vier versammelten Musikredakteure lautete einhellig Hit Hit Hit Hit. Daraus nun das Stück – bis es wieder gelöscht wird, denn das Video hat Deutschlands Vormund in musikalischen Dingen, die GEMA, verboten – „Sweet Satisfaction”. Wahrscheinlich keine Neuerfindung des Rads, aber eine sehr gute Nutzung desselben.

Ich warte auf den Osterhasen

Die Briefzusteller streiken, alles zieht sich.
Das zur Entfernung der Schadsoftware aufgeladene Antivirenprogramm ist eine schlimmere Schadsoftware.
Gestern 2 Stunden telefoniert, sehr belebend, unten fuhr eine Kolonne vorbei, von rechts nach links,
von links nach rechts, fünfzig Fahrzeuge, Politikerautos, Polizeiautos, mit schwarzen Scheiben, blauem Licht.
Die mannshohen Plakathalterungen an der Brauerei sind abmontiert und abgefahren, bald beginnen die Arbeiten für die schöne Shopping Mall kommt Kaufland.

Das Stück von Janne Schra hat Bezug zur Internationalen Buchstabiertafel.

Nasenstüber

Ich beobachtete, wie Ecke Turmstraße / Stromstraße ein abbiegender Kleinwagen seine Schnauze frech in die Fahrradspur schob, worauf ihm die linke der beiden Radfahrerinnen vor mir en passant mit dem Schuh auf die Kühlerhaube tupfte. Darüber wurde der Beifahrer böse, er ließ die Scheibe herunter, streckte den Kopf heraus und rief: „Hurentochter!”. Aber sie – an ihrem Rücken meinte ich es zu erkennen – lachte nur.

An einer anderen Kreuzung, Spreeweg / John Foster Dulles Allee, hing lange die Fahrradampel lose am Mast, die Signalabfolge war Grün Gelb Rot statt Rot Gelb Grün, und die Pfeile zeigten in die falsche Richtung. Irgendwann hatten die Stadtwerker sie mit weißrotem Absperrband provisorisch gerichtet, aber es dauerte noch einige Wochen, bis sie sie richtig angeschraubt hatten, und das Absperrband war wieder verschwunden. Würde ich fotografieren: ich hätt’s fotografiert. Aber die Touristen, die immer vor Bellevue scharwenzeln, seitwärts und rückwärts trippeln, und manchmal vorwärts, richten ihre Fotoapparate und Smartphones auf die Goldelse.

Zweimal die Woche sitze ich bei meiner Schwester in der Buchhandlung, wir rauchen, trinken Kaffee, sie setzt mir ein Tellerchen mit Goldringen hin, die ich sehr gern esse.

Im Treppenhaus

„Guck mal, der hat dieselben Haare wie du! … Die weißen!”
So sprach mein gehbehinderter Treppennachbar zu seinem niedrigen moppigen schwarzweißen Hundchen, als ich von oben kommend an ihnen vorbeiging, indes sich seine Frau von unten heraufschleppte. Der Hund wuschte wild herum.
Wie fein die Sprache doch unterscheidet zwischen „dieselben” und „die gleichen”!

Nicht direkt dazu passend folgendes Zitat aus Die Kapuzinergruft:

„Er hatte einen eisgrauen wilden Bart. Er sah aus wie der Winter, dargestellt in primitiven Märchenbüchern.”

Im Schlusskapitel des Romans kommt (auch) ein Hund vor. Der Baron von Trotta, der letzte Gast, ruft nach dem Ober.
„Aber nicht der Ober Franz kam, sondern der Wachhund, der ebenfalls ‚Franz’ hieß. […] ‚Franz, zahlen!’ sagte ich zum Hund, und er stieg auf meinen Schoß. Ich nahm ein Stückchen Zucker und reichte es ihm. Er nahm es nicht. Er winselte nur.”

Der Baron von Trotta, der später mit dem alten Hund durch die leeren nächtlichen Straßen Wiens gehen wird, sagt:

„Ich liebe Tiere nicht und noch weniger jene Menschen, die Tiere lieben. Es schien mir mein Lebtag, daß die Menschen, die Tiere lieben, einen Teil der Liebe den Menschen entziehen […].”

Ich weiß nicht, ob sich in dieser Figurenrede die Meinung Joseph Roths kundtut? Ich glaube jedenfalls nicht, dass die These zutrifft. Liebe ist doch immer etwas Ganzes.