Kläuenpitter

Eine Leserzuschrift:
„Da ich noch ein paar Jahre älter bin, erinnere ich mich an die Lumpensammler: Lumpen, Eisen, Papiiiiiier! Haaaaaaderlumpen, Haaaaaderlumpen! – oder ist es nur Einbildung und versetzte mich die Phantasie dorthin? Schöne Erinnerungen, immerhin […]. Die Gemüsehändlerrufe mag ich auch sehr, so mit innigem Ernst und mitunter weniger addressiert und eher irgendwie gebetet.”

Ich hab (schwach) eine ärmliche Gestalt im Kopf, den Kläuenpitter. Das war ein alter Mann, im Rückblick eher mittelalt, der eine zweirädrige klapprige Karre hinter sich herzog oder vor sich herschob und die Gegend nach brauchbaren Sachen abklabasterte. Die Karre stand dann da am Straßenrand, während er sich in Hausnähe zu schaffen machte, wo vielleicht ein Brett lag oder ein Nagel. Der rief aber nichts, der kam einfach stumm die Straße lang. Er zog dann weiter Richtung Nord, Paul Klee-Straße, Weezer Straße, In de Kull.
Der Kläuenpitter war kein Bettler, sondern ein Sammler. Ich glaube nicht, dass er klaute. Und wer nannte ihn eigentlich so? Heute wäre er vorstellbar als einer von den Männern, die auf dem Bahnsteig zwischen den Wartenden her zu den Mülleimern laufen, das Feuerzeug anratschend, hineinleuchtend auf der Suche nach Pfandflaschen (manche haben auch eine Taschenlampe). Ich könnte solche Arbeit nicht tun.

Und was hat das Leben sonst zu bieten? Seit zwei Wochen habe ich eine Geranie. Neuerdings steht sie auf meinem Schreibtisch (Nierentisch), von wo sie nach draußen blicken kann. Gleich neben ihr reckt sich eine vom Sommer übriggebliebene Tomatenpflanze in die Höhe – jetzt, wo ich ihr angeknackstes Gelenk mit Tesafilm umwickelt habe, erst recht aufstrebend. Tomaten wird sie nicht mehr hervorbringen, sie darf trotzdem wohnen bleiben.
Morgens gehe ich auf die Terrasse, zwei Weckgläser in der Hand. Meine Haustiere sind scheu, aber verlässlich.
Mein eigenes Frühstück besteht aus schwarzem Kaffee. Später kaufe ich auf dem Kottbusser Damm ein Käsebrötchen. Der Käse ist ein blasser Industriekäse; das Salatblatt und die Tomatenscheibe werden wohl echt sein.

imaginär

Ich weiß nicht warum, aber als ich neulich im Konferenzraum einer Notarin saß, die beglaubigen sollte, dass ich eine Urkunde unterschrieben habe, da kam mir in den Sinn, unter welchen Umständen ich das Wort „imaginär” gelernt habe. Es war zu Schulzeiten, im ersten Jahr meiner Teilnahme an der Theater-AG. Wir probten Unsere kleine Stadt von Thornton Wilder, ich war der Zeitungsjunge, der morgens durch den Ort ging und die Zeitungen vor die Haustüren schleuderte, wo wahrscheinlich schon Milchflaschen und Brötchentüten standen und lagen. In der Regieanweisung stand: „wirft die imaginären Zeitungen in die imaginären Hauseingänge”, oder so ähnlich. In der Szene kam auch ein Knie vor, das das Wetter vorhersagte, und ein Doktor Gibbs, der einzige Arzt des Ortes, der vermutlich nicht nur seine Patienten, sondern auch deren Familien mit ihren Krankengeschichten rückwärts bis in die Zeiten von George Washington und seiner Martha kannte, kann ja sein. Ich konnte mir nie merken, ob sich der Name Dschibbs oder Gibbs sprach, war aber sonst textsicher. Das Wort „imaginär” kannte ich allerdings nicht, und ich fragte einen oder eine von den Großen. Mir wurde gesagt: Imaginär heißt: nur eingebildet, nur in der Vorstellung vorhanden. Das habe ich dann ein für alle Mal gewusst.
Im Konferenzraum stand ein großer Ficus, eigentlich zwei. Im Juli/August habe ich hin und wieder für eine verreiste Freundin Pflanzen gegossen, zu denen auch ein Ficus gehörte, deswegen entwickelte ich gleich ein brüderliches Gefühl und sah, während ich wartete, in seine Ecke hinüber wie vielleicht zu einem Hund, der dort hätte liegen können, mit zappelnden Pfoten im Schlaf.
Statt mir das Geld herauszugeben, sagte die Notarin fröhlich: „Den einen Cent behalte ich – für’s Glück!”
Ich widme dieses kleine Stück dem Epizentriker, der neulich etwas vorwurfsvoll reagierte, weil ich im Denkmuff nicht die Geschichte von dem Weißrussen in der S-Bahn aufgeschrieben habe, der – glänzenden Auges vor Bewunderung für den Führer – P. und mir seine Hakenkreuztätowierung gezeigt hatte, indem er seinen schlabbrigen Pullover am Kragen weit herunterzog und sich weit zu uns vorbeugte, wie zum Pinkeln oder Kotzen. Wir sprachen bei der Gelegenheit beiläufig über das Bloggen, wie ich es betreibe: Könnte ich drüber schreiben, aber … nein.
Und in diesem Fall: Wozu das Hässliche verdoppeln?

Liewe ***!

Rees, denn 1. Märt 1987

Liewe ***!

Ek hebb Ouw Buuk met de Wört in Kävels Platt geläse, dörgekeeke. Dat es een guije Saak, wat Gej dormet för ons alde Modertaal gedon hätt. Männige Wört hebb ek gesükkt äwer nij gefonde. Weche dat Bükske nej dröcke lot, koßgej de Wört jo dorin opneme.
Enn paar Wört, fond ek, wasse nij rechteg:

Schloop, schloope gohn – nitt Schlaap
Klapp – nitt Kläpp
Kennemelk (Kännemelk) – nitt Kernemelk
Schloff – nitt Schluff
(Pantoffel, Pantoffelheld, langsamer Mensch)
Kläpp gev et ok: De Blage hange mej an de Kläpp (Schöße)

Nauw komme de Wört, de ek nij gefonden hebb:

Achterdör – hintere Tür
Bandel – Reifen
bandele – Spiel mit Reifen
Bökske – kl. Hose, Kinderhose
Dörpel – Stufe vor der Haustür
hooge Dörper – entw. mehrere Stufen / hohe Steinstufe
Gätske – kleine Gasse
Hunsdag – Mittwoch
Dratz – Kaffeesatz
Donderdag – Donnerstag
fette Donderdag – Donnerstag vor Fastnachten
Gonda – Adelgunde
Henn – Heinrich
Hennohme – Onkel Heinrich
Hüßdör – Haustür
Kelderkamer – Zimmer über dem Keller
Klapphut – Zylinder
Kabüffke – kl. Zimmer
Kläpp – Schöße
Knursch – Knorpel
Känn – Buttermaschine
kwatze – antragen, verraten
Kerßmess – Weihnachten
Ländchen – kl. Land, Spiel mit Messern
Lievfrouwendag – Tag Maria Empfängnis
Ssuckerplaaslievfrouwendaag
(es wurden an dem Tag in allen Wirtschaften Zuckerplätze gedoppelt)
Lechmess – Maria Lichtmess
Möpp, fiese Möpp – unangenehmer Kerl
Möppke – kl. Plätzchen
Ohme, Oome – Onkel
Pitt – Peter
pösele – essen
Quasselsterrt – einer, der viel redet
quassele – drauflosreden
schongele – handeln, herunterhandeln
Schollmester – Lehrer
Schollblage – Schulkinder
schofel – gemein
Stüppke – kleine Stufe, niedrige Stufe
schandaleg – schlimm
Schamieske – Bäffchen mit Kragen, Oberhemd vortäuschend
schalunz – falsch, Eigenschaft eines Menschen, dem man nicht trauen kann
verknuse – nicht leiden können
de kann ek nij verknuse

Hebb ek äwer en Wort översien, vergett et ma.

hartlijke Grut

enne Kävelse on alde Bekende van frugger

[Abschrift der Kopie eines original maschinenschriftlichen Briefs an den Herausgeber eines Mundartwörterbuchs.]

Übersetzung des Briefanfangs:

„Ich hab Dein Buch mit den Wörtern in Kevelaerer Platt gelesen, durchgeguckt. Das ist eine gute Sache, was Du damit für unsere alte Muttersprache getan hast. Manche Wörter habe ich gesucht, aber nicht gefunden. Wenn Du das Büchlein nachdrucken lässt, kannst Du die Wörter ja darin aufnehmen.
Ein paar Wörter, fand ich, waren nicht richtig […].“

Kunst braucht mehr Zähne (Mäzene)

„Sehr geehrter Herr ***,
Ihre Nachricht haben wir erhalten.
Zum Status Ihrer aktuellen Mitgliedschaft können wir Ihnen leider nichts sagen. Die Mitgliedschaft bei der *** endete zum [Datum von vor zwei Jahren]. Weitere Daten zu Ihren Beschäftigungen liegen uns nicht vor.”

A. lieh mir ihr Fahrrad, nannte mir die Zahlenkombination des Ringschlosses und warnte mich, dass die Vorderbremse kaputt sei und die Rücktrittbremse verzögert funktioniere. An der B9 musste ich an einer murksig geschalteten Ampel halten.
Ich sagte der Frau hinter dem Empfang Bescheid. Sie nickte, und als ich im Warteeck Platz genommen hatte, stand sie auf und verschwand hinter einer Milchglastür.
Im Behandlungszimmer hingen Kinderzeichnungen. Dieser Schmuck gefiel mir besser als der Wilhelm Busch-Bilderbogen im Wartezimmer von Zahnarzt Sasse, früher.
Dr. B. redete mir ins Gewissen, guckte mir in den Mund und kündigte an: „Ich tu Dir ein bisschen Plastik drauf”, und tat’s. Er redete mir wieder ins Gewissen, ich konnte den Mund wieder zumachen, eine Stunde nichts essen, empfahl er und sagte: „Es war mir eine Freude.” „Ich geb‘ der Frau an der Rezeption meine Adresse”, verabschiedete ich mich. Er schüttelte den Kopf, sagte nur noch einmal: „Es war mir eine Freude”, und damit entließ er mich.

Ja, das ist jetzt so die Zeit

„Jetzt kommen die Hieroglyphen …”, meinte er und hob unschlüssig, eines nach dem anderen, die Zettelchen auf. Gerade setzte ich zum Rapport an, da zerknüllte er das Papier und warf es weg.
„Hab‘ ich geklärt”, sagte er.
Jetzt denke ich daran, wie ich mit dem Elektroschlepper durch die Halle gefahren war, um die Pflanzencontainer zu ihren Stellplätzen zu bringen. Da lag mitten auf dem weiten Betonboden eine einzelne Pflanze und verriet mir nicht, wohin sie gehörte. Mein Kollege sprang hinzu, stopfte sie mit Handschuhhänden auf irgendeine Karre und sagte pfiffig: „Problem weg!”
Diese Leichtigkeit hatte ich nie.

„Ja, das ist jetzt so die Zeit”, kommentierte F. meine Erkältung.

Wuppertal

„Einmal im Leben durch Wuppertal schweben.”
Ich hab’s gemacht, heute, eine Station, von Kluse/Schauspielhaus bis Hauptbahnhof.
A.: „Jetzt musst Du nie mehr nach Wuppertal fahren!”

Die letzten Blogeinträge haben Verwirrung gestiftet. – Zur Entwirrung: Es handelt sich um überarbeitete (gekürzte) Posts aus der Zeit, als ich noch einen Facebook-Account hatte: „Sonntag” (11.3.2012), „Pastete” (s. o., 9./14.10.2012), „Drei Löschzüge” (25.10.2012), „Wuppertal” (s. o., 28.10.2012), „Kleine Radtour” (1.1.2013), „Lichter” (18.1.2013).