Chronik ist ursprünglich keine Einzelveröffentlichung von Roland Barthes, im dritten Band seiner Oeuvres complètes nimmt sie gerade einmal fünfundzwanzig Seiten ein, genau gesagt: die Seiten 969 bis 993. Ich habe das nicht nachgeprüft.
Zwischen Dezember 1978 und März 1979 hatte Barthes (1915-1980) einmal in der Woche für Le Nouvel Observateur aufgeschrieben, was ihn bewegte, sich dabei einer minderen literarischen Form bedienend – minder, nicht minderwertig -, überdies die von ihm festgehaltenen Beobachtungen als „‚schwache’ Ereignisse” charakterisierend, im Gegensatz zu den landläufig medial aufbereiteten ‚echten’ Ereignissen.
Seine kleine Prosa werde „von der Überspanntheit der uns umgebenden Schreibstile erdrückt und fast ausradiert”, klagt Barthes dann auch, nicht überraschend – die Worte verraten gekränkte Eitelkeit -, doch hält er ihr aus strategischen, letztlich politischen Gründen die Treue:
„[…] und wenn wir allmählich, geduldig dafür sorgten, dass sich die Skala der Intensitäten ändert? […] Müssen wir heute nicht der größt möglichen Zahl von ‚kleinen Welten’ Gehör verschaffen? Die ‚große Welt der Herden’ durch die unaufhörliche Teilung der Partikularitäten angreifen?”
Ich finde, das ist ein nobles Programm.
Die Chronik liest sich leicht, und anregend ist sie sowieso, steckt auch voller Anekdoten wie die von der alten Frau, die nicht mit der Einführung des neuen Franc zurechtkommt (diese erfolgte 1960, hundert alte Franc waren gleich einem neuen Franc) und buchstäblich nicht versteht, dass der Topf Primeln 30 Franc kosten soll, aber dann sagt jemand: Die Primeln kosten 3000 Franc, und da lacht sie und zückt ihren Geldbeutel. Ein anderes Mal berichtet der Autor, eine Werbeagentur habe ihm einen Button geschickt: „Kümmern Sie sich nicht um mich”, und der Musikfreund Barthes hält auch dies fest: „Ich werde Swjatoslaw Richter stets übel nehmen, dass er ein bestimmtes Menuett einer Sonate von Beethoven viel zu langsam gespielt hat”.
Hatte ich erwähnt, dass ich jede Woche rund fünfzehn Stunden S- und U-Bahn fahre, und zwar nicht zum Vergnügen?
In der zwischen Wannsee und Oranienburg verkehrenden Stadtbahn 1 fiel neulich in einem Gespräch das Wort „Streuselschnecke”.
Gestern habe ich einen Zwetschgenkuchen gebacken. Auch „Zwetschge” sagt man nicht oft – wenn, dann im September. Zwetschge. Zwetschge.
Man hätte Hagelzucker gebraucht.
[Streuselschnecke, 3.9.2018. Ich habe Absätze eingefügt, und an einer Stelle Gedankenstriche durch Kommata ersetzt: schwache Ereignisse zweifellos.]