Richard Leising Mulackstraße

Eine Anfrage bei der Rechtsabteilung des Verlags C.H. Beck in München, ob ich das Gedicht Mulackstraße verwenden dürfe, blieb leider unbeantwortet – von einer automatisch versandten Abwesenheitsnotiz abgesehen. Ist das ein Ja?
Der Dichter Richard Leising (1934-1997) ist wahlweise kaum bekannt, unbekannt oder vergessen – ein Großer gleichwohl. Hier sei mit genanntem Gedicht an ihn erinnert, das im Band Gebrochen deutsch abgedruckt ist, der zusammen mit dem Nachlassband Die Rotzfahne in keiner Buchsammlung fehlen sollte.
Ich habe den Autor über meinen Freund Ilja kennengelernt, der vor Jahren eine Auswahl in niederländischer Sprache initiiert und herausgegeben hat.
Natürlich waren beide Bände in meiner gewesenen Buchhandlung auf Lager, aber das Geld ist doch besser für einen Lottoschein ausgegeben oder für Bier, für den Opferstock meinetwegen: die arme Kirche. Vielleicht hätte Richard Leising sogar zugestimmt.

MULACKSTRASSE

Der Kohlenträger hat bis in den Hals gelbes Haar, das / vom Kohlendreck schwarz war. / Der Kohlenträger ist mit einem Tafelwagen gekommen, er / hat niemand andern zum Ziehen mitgenommen. / Er hat ein Lederkoller umgebunden, das ist an Rücken / und Schultern abgeschunden. / Er hat in Holzkiepen, halb so hoch wie er und doppelt / so breit, Briketts geschichtet, sechzig ungefähr. / Der Kohlenträger hat auf den Wagen etwa dreißig Kiepen / gestellt und so aneinandergelehnt, dass keine herunterfällt. / Der Wagen mit den Kiepen mit den Kohlen fährt vor / das Haus; der Kohlenträger klingelt. Ein Mann sieht / zum Fenster raus. / Dieser Mann ist der Kohlenbesteller, er kommt herunter / und zeigt dem Kohlenträger den Keller. / Jetzt hat der Kohlenträger eine Kiepe gedreht, dass er / mit seinem Rücken genau vor ihr steht. / Er hakt in die Kiepe ein Lederband, legt es über die Schulter / und wickelt es um die Hand. / Der Kohlenträger beginnt sein Kreuz gegen die Kiepe zu / drücken, dann bückt er sich, dann steigt sie auf seinen Rücken. / Dreißigmal schiebt die Kiepe den Kohlenträger ins Haus; / der Keller hat elf Stufen hinein und elf heraus. / Der Kohlenträger kommt wieder ans Tageslicht, er hat / eine schwarze Maske vor dem Gesicht. / Er setzt die Kiepen auf den Wagen, steht noch zwei Minuten / hier und trinkt eine Flasche Bier.

Richard Leising Gebrochen deutsch. Gedichte. 48 Seiten, gebunden. 2. Auflage. C.H. Beck, München 1992 [1. Auflage 1990]. 12.95 Euro

Richard Leising Die Rotzfahne. Gedichte und kleine Prosa. Herausgegeben von Kristof Wachinger. 64 Seiten, gebunden. C.H. Beck, München 2010. 14.95 Euro

Eine im Wikipedia-Eintrag zu R.L. verlinkte Rezension von Wolfgang Emmerich in der Zeitung DIE ZEIT vom 3.10.1991 (!) – „Gebrochen deutsch. In der DDR stand er im Schatten – und nun? Ein Lyriker ist zu entdecken: Richard Leising” – verschwindet nach fünf Zeilen im Nebel einer Bezahlschranke. Der Holtzbrinck-Konzern als Eigentümer der ZEIT, Jahresumsatz (2020) 3.2 Milliarden Euro, kann sich Gönnertum nicht leisten.

Wer sich für Leising interessiert, wandert besser direkt weiter zu Planet Lyrik – in einem außerirdischen Webdesign gehalten, doch qualitativ vom feinsten -, wo ihm ein sorgfältig bestelltes Plätzchen reserviert ist,

hier (Beiträge und Würdigungen u.a. von Kristof Wachinger, Michael Braun, Kristin Schulz, Jürgen Serke und Holger Helbig).

6 Kommentare zu „Richard Leising Mulackstraße“

  1. Lieber Meinolf, wenn Du noch eine andere Möglichkeit findest, die Reaktion von C. H. Beck anders zu deuten als eine Würdigung der wirtschaftlichen Bedeutung Leisings für den Verlag, dann lass es mich bitte umgehend wissen. Yours, Bob

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    1. Ich habe nichts an Deinem Kommentar auszusetzen.
      Denkbar wäre ebenso: Stress, Überarbeitung. Ein kurzes „Klar, kein Ding” wäre sicher schön gewesen, aber ich bin auch so zufrieden.
      Geld lässt sich mit Richard Leising nicht verdienen, das wird schon so sein.

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  2. Um so wichtiger, finde ich, dass ein Verlag seine Autoren pflegt, die kein anderer pflegen mag (weil’s sich nicht lohnt). Wie Du sagst: Eine nichtssagend-freundliche Standardantwort hätt’s ja getan. Aber darob zum Kohlhaas werden? Vielleicht bräucht’s das …

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    1. Ja, ja, das stimmt. Nein, nicht zum Kohlhaas werden!
      Der alte Verleger, Wachinger, hat seine Schutzbefohlenen schon gepflegt, aber nicht jeder Verleger ist so ein Sturkopf (ich sage das anerkennend!) und pfeift auf den Markt.

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