„The only one who can speak of boredom is the one who isn’t really paying attention to what’s happening.” – John Cage
Neulich entdeckte ich, dass die Radiogespräche, die John Cage und Morton Feldman in den 60er Jahren geführt haben, im Internet als Audiodateien verfügbar sind. (Ich sah sie erst bei YouTube, aber UbuWeb hat sie auch.) Die zweisprachige Buchausgabe in der Kölner Edition MusikTexte (1993), die ich mir damals gekauft hatte, Radio Happenings, hätte ich wahrscheinlich nie komplett gelesen, aber jetzt habe ich mir vorgenommen, mir die Interviews anzuhören und mitzulesen. – In der Transkription tauchen regelmäßig die Kommentare auf: „(laughs)” und „(both laugh)”. Gehören Humor und Geist zusammen? Ich würde es unbedingt bejahen, aber vermutlich gibt es Gegenbeispiele.
Morton Feldman, der als 18-jähriger in die Firma seines Vaters eintrat, eines Herstellers von Kindermänteln, und daneben auch in der Trockenreinigung seines Onkels arbeitete, erzählte, wie sein Mentor Stefan Wolpe, der aus Nazi-Deutschland emigriert war, in einer Kompositionsstunde an das Fenster seiner Wohnung in Greenwich Village trat, nach draußen wies und von seinem Schüler forderte, er müsse für den Mann auf der Straße komponieren – worauf Feldman auch nach draußen guckte und Jackson Pollock vorbeigehen sah, den Maler des Abstrakten Expressionismus, und, na, für diesen Mann auf der Straße wollte er den Rat wohl beherzigen. (Dies lese ich bei Alex Ross, The Rest is Noise. Listening to the Twentieth Century.)
Feldmans zweiter Mentor war Edgard Varèse. Der hatte ebenfalls einen Rat für seinen Schüler: Musik als Anordnung von Objekten im Raum zu begreifen. Damit konnte „Morty” (wie er wohl allgemein genannt wurde) etwas anfangen.
So kam es, dass ausgerechnet Varèse, dessen Werke reichlich Schlagzeug und oft auch Sirenengeheul verwenden und durch eine enorme Schallhärte charakterisiert sind, Varèse, der als einer der ersten für Schlagzeug solo komponierte (nur Schostakowitsch war schneller), zu einer wichtigen Inspiration für einen Komponisten wurde, dessen Werke selten über den Piano-Pianissimo-Bereich hinausgehen.
Im persönlichen Umgang muss Feldman übrigens ganz anders gewesen sein als sein introvertiertes Klanguniversum es vermuten lässt. Ich zitiere Alex Ross:
„As a conversationalist, he was verbose, egoistical, domineering, insulting, playful, flirtatious, and richly poetic – one of the great talkers in the modern history of New York City.”
In den Radiogesprächen zeigen sich, beinahe spielerisch, die unterschiedlichen künstlerischen Auffassungen Cages und Feldmans. Cage sagt zum Beispiel, Feldman möge sich vorstellen, irgendwo würde seine Musik aufgeführt, und eine Tür zu einem Nebenraum stünde offen, und von dort wäre ein Radio zu hören:
„Let’s imagine, just to make the conversation consistent, that the concert is in a room, and that one door from that room is open, and in the room upon which it opens, radio music is audible. Now, must that door be closed or may it be left open?”
„I would like the door to be left open, but without the radio (burst of laughter from Cage). You see, I want to leave the door open, but of course …”
Während Cage an den Strand fährt, die Leute haben ihre plärrenden Transitorradios dabei, und er denkt: Hey, die spielen meine Musik!
Gut, das scheint mir also ein schönes Kulturprogramm für die Weihnachtszeit.
Und wieder schätze ich mich glücklich, dass ich den Computer einschalten und Rothko Chapel hören kann, oder Dua Lipas Tiny Desk (Home) Concert, oder irgendetwas anderes, das mir gerade einfällt. Vielfalt und Kontrast sind immer belebend.
(Ich würde mich nicht als Fan von Dua Lipa bezeichnen, habe aber Respekt vor ihrer Pop-Startum-Schwerarbeit, freue mich, dass sie gut mit ihren Leuten umgeht und bin ihr dankbar, dass sie viele Menschen, nicht zuletzt in den USA und in England, für eine Weile ihre Misere vergessen ließ und lässt. – Erst gestern las ich in der taz, dass zum Jahreswechsel „bis zu 30 Millionen Menschen” in den USA der Wohnungsverlust droht – ist das zu glauben?!)
Gebt mir mehr Zeit, schreib ich auch mehr.
Wer neugierig geworden ist:
John Cage bei Mode Records, New York
Morton Feldman bei Mode Records, New York
Alex Ross The Rest is Noise (Summary)
John Cage / Morton Feldman Radio Happenings (MusikTexte, mit den Originalaufnahmen)
UbuWeb Sound – Morton Feldman
UbuWeb Sound – John Cage
ist das wohl echt so passiert, dass da just jackson pollock vorbei ging? und wenn ja – war das dann womöglich sowas wie kosmischer humor?
pegagrüße!
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Ich halte es für denkbar (New York in den 50ern = hohe Geniedichte), und, ja, das Wort „kosmischer Humor” trifft’s!
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Wow!
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Super spannend. Ich werde da auf jeden Fall einmal reinhören. Und du erzählst das so schön. Das wäre mir fast noch lieber, Dir länger zuzuhören, jedenfalls wieder mal Danke. Dem Internet, und all den sehr interessanten, sehr unterschiedlichen Leuten, die man hier kennen lernen darf.
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Danke, das freut mich! – Stimmt, das Internet ermöglicht, sich virtuell mit Leuten zu verdrahten, mit denen ein Austausch sinnvoll ist, und die vermutlich Freunde werden könnten, würde man einander nur einmal wirklich begegnen.
Liebe Grüße und die allerbesten Wünsche für Dich!
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