„Adam Gordon geht auf die Topeka High School, er steht kurz vorm Abschluss. Seine Mutter Jane ist eine berühmte feministische Autorin, sein Vater Jonathan ein Experte darin, ‚verlorene Jungs’ wieder zum Sprechen zu bringen. Sie beide sind in einer psychiatrischen Einrichtung tätig, in der Therapeuten und Patienten aus der ganzen Welt zusammenkommen. Adam selbst ist ein bekannter Debattierer, alle rechnen damit, dass er die Landesmeisterschaft gewinnt, bevor er auf die Uni geht. Er ist ein beliebter Typ, cool und ausschreitungsbereit, besonders sprachlich, damit keiner auf die Idee kommt, er könnte auch schwach sein. Adam hat ein Herz für Außenseiter, und so freundet er sich mit Darren an – er weiß nicht, dass der einer der Patienten seines Vaters ist –, und führt ihn in seine Kreise ein. Mit desaströsen Folgen.” (Text: Suhrkamp Verlag)
Keine Besprechung, nur kurz an den Rand gekritzelt.
Der Roman wird im kapitelweisen Wechsel von Adam und seinen Eltern erzählt, die Erzählstränge zusammengeflochten wie ein Hefezopf. Es gibt wirklich drei voneinander verschiedene Stimmen, das ist ja nicht immer so, wenn Mehrstimmigkeit behauptet wird (ein Negativbeispiel wäre Glücklich die Glücklichen, ein doch recht albernes Buch von Yasmina Réza, in vielen Stimmen erzählt, die alle identisch klingen, nämlich wie Yasmina Réza). Kompliment dafür!
Diese Darren-Geschichte wird vom Verlag ungebührlich aufgebauscht. Lerner erzählt die Episode (mehr ist es nicht) fortlaufend an den Knickstellen des Romans, zwischen den Kapiteln, relativ abgelöst von diesen, was durch Kursivsatz betont wird. Aufgrund der Streckung ist der Effekt beim Lesen antiklimaktisch, verlangsamend, nicht beschleunigend. (Nebenbei, Lerner bedient sich hier teilweise der Mittel der Zeitlupe, auch des Vor- und Zurückspulens.) Dennoch ist Darren eine wichtige Person: Als Sonderling wird er von der Gruppe gebraucht und definiert sie vielleicht erst. In der Gruppe sein heißt: nicht sein wie Darren.
„Die Zukunft des Romans ist angebrochen”, so Sally Rooney. Der Verlag zitiert noch weitere Berühmtheiten, schreibt von „einer an Wundern reichen Sprache” – ich finde alles übertrieben, wenngleich es richtig ist, dass Lerner etwas mit der Sprache macht: im Romancier zeigt sich der Dichter.
Allerdings hatte ich selbst auch ein übertriebenes Urteil abgegeben, als ich von einem ausgezeichneten oder hervorragenden Roman sprach. Jetzt würde ich eher sagen, dass Die Topeka-Schule ein guter Roman ist, ein wenig zu lang, ein bisschen zäh manchmal, aber mit einprägsamen Szenen (Highschool-Debattierwettbewerb, Besuch bei der dementen Verwandtschaft im Heim, Machtspiele auf dem Kinderspielplatz).
Zwei zeittypische Themen: die Frage nach dem, was ‚den’ Mann ausmacht und, vielleicht damit zusammenhängend, die Vorgeschichte des Trumpismus (eine Gruppe seiner Unterstützer nennt sich proud boys) – und es ist ein kluger Schachzug von Ben Lerner, dies am Beispiel der (öffentlichen) Rede zu erzählen. Zum einen kennt er sich als ehemaliger Landesmeister im Debattieren gut damit aus, zum anderen ist klar ersichtlich, auf welch beklagenswertes und gefährliches Niveau die sprachliche Auseinandersetzung beispielsweise auf den Plattformen der Internetkonzerne, die merkwürdigerweise „soziale Netzwerke” genannt werden, hinabgesunken ist. (Selbst in der Friede-Freude-Eierkuchen-Welt der Blogger sind Hass und Verachtung nur einen Klick entfernt.) So weit sind wir in Lerners Romanwelt aber noch nicht, die großenteils in der Zeit vor Facebook und Twitter liegt. Doch der Gebrauch der Redemacht zu schändlichen Zwecken zeichnet sich schon ab, und beim Lesen spürt man Adams Trauer darüber.
Es ist klar, dass ein Roman, der ein so feines Sensorium für die Inhumanität und Seelenkrankheit einer gespaltenen Gesellschaft hat, selbst von einer stark ausgebildeten Humanität getragen ist, und auch darum würde ich sagen, dass sich die Lektüre lohnt. Ob das Buch die Welt „heller gemacht” hat, wie der berühmte Leser Barack Obama behauptet, möchte ich bezweifeln. Erhellend aber ist es.
Ben Lerner, Die Topeka-Schule. Roman. Aus dem Englischen (USA) von Nikolaus Stingl. 395 Seiten, gebunden. Suhrkamp Verlag, Berlin 2020. 24,00 Euro
Angekündigt:
Warum hassen wir die Lyrik?. Essay. Aus dem Englischen (USA) von Nikolaus Stingl. 120 Seiten, broschiert. Suhrkamp Verlag, Berlin [19.4.] 2021. 13,00 Euro
No Art. Poems/Gedichte. Aus dem Englischen (USA) von Steffen Popp in Zusammenarbeit mit Monika Rinck. Mit einem Vorwort von Alexander Kluge. 280 Seiten, Leinen. Suhrkamp Verlag, Berlin [19.4.] 2021. 26,00 Euro
Hier ein Stück aus dem Instrumental-Album Modern Yesterdays der US-amerikanischen Gitarristin Kaki King. Musik für unser dystopisches Jahr 2020.
Nebenbei: Ich bastel zur Zeit an einem Silvester-Mixtape.
(Silvester und Weihnachten werde ich eingeigelt zu Hause verbringen. Hab mir vorhin schon vorsorgend bei GEA in Charlottenburg Socken aus Schurwolle gekauft – und mir versichern lassen, dass ihre Kreuzberger Filiale Wolldecken im Angebot hat.)
Vermutlich wird meine Musikzusammenstellung von einer gewissen Verhaltenheit, auch einer Spur Schmerzlichkeit, geprägt sein, aber auch der Party-Aspekt soll nicht zu kurz kommen. 🙂 Übrigens habe ich Download-Codes von Tanukichan, Sundays, und Julia Holter, Aviary, zu verschenken. Falls wer Interesse hat, bitte melden.
Auf dem Rückweg vom Haareschneiden sah ich Leute vor einem Laden anstehen. Über dem Eingang: „Brot-Werk”. Ich selbst würde ja grundsätzlich einen prägnanten Ausdruck bevorzugen („Bäckerei”), werde mich aber wohl damit abfinden müssen, dass andere eine gezwirbelte Sprache besser finden.
King Kaki gefällt mir sehr! Möchte fürs Silvesterhören auch folgendes, sehr geliebtes Album vorschlagen: „Jazz, Fritt Etter Hukommelsen“ von Bushman’s Revenge (evtl. Reinhören: https://www.jpc.de/jpcng/jazz/detail/-/art/bushman-s-revenge-jazz-fritt-etter-hukommelsen/hnum/4241629). Dazu im Idealfall einen Rumgrog. Und warme Wolle hast ja schon.
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Freut mich, dass Dir Kaki King gefällt! – Das Album ist sehr gelungen, meine ich, auch das ‚sprechende’ Cover finde ich gut: Sie trägt Make-up, hat aber diesen geplagten Ausdruck … Es gibt nichts zu lachen! (Ich bin über AllMusic auf sie aufmerksam geworden.)
Danke auch für den Musiktip. Was frei hörbar ist, werde ich mir anhören und dann entscheiden, ob ich sie in meinen Mix einbauen kann. Ich bin wählerisch! Oder meintest Du, ich soll sie einfach so hören an Silvester? Das lässt sich natürlich immer einrichten!
Die Zutaten für Grog habe ich da, oder brauche ich mehr als Schwarzen Tee, Klumpenkandis und Rum? Oder weniger?!
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Beim Mix muss man wählerisch sein. Mindestens sieben Tage daran frickeln, seine Idealmischung zu finden. Beste Übergänge werden gesucht, beste Abfolge der Stücke erkundet, schlüssiger Stimmungsbogen aufgebaut etc. Da nimmt man ja nicht irgendwas rein! („Bo Marius“ von o.g. Platte solltest Du freilich unbedingt reinnehmen.)
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PS: Grog funktioniert auch ohne Tee.
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