„Wenn an Büchern wie meinen überhaupt jemand etwas verdient, dann der Gestalter.”
Florian Neuner
Ich hab hier fünf abgebrochene Bücher, das kann ich ja gar nicht leiden. Also werde ich sie jetzt eins nach dem anderen – es brauchte wohl die Erklärung, dies nicht zu tun – fertiglesen, angefangen mit den Inseltexten von Florian Neuner. Passt ja auch. (Bis Helgoland war ich gekommen.) Der letzte, noch ausstehende Text heißt „Fließtext Emscherpassage. Annäherung an die Insel”.
Warum ich angefangen habe: Ich hatte noch nie was von Florian Neuner gelesen und wollte das nun einmal tun.
Warum ich aufgehört habe: Konzentrationsstörungen, (weitgehendes) Fehlen eines Handlungsfadens – sodass ein Leser auf jeder Seite vom Pferd fallen kann – und will er dann wieder aufsteigen?
Meiner Einschätzung nach ist Florian Neuner ein writer’s writer, übrigens nicht schwer zu lesen, warum hatte nicht schon längst ein anderer zugegriffen? [Mein Chef hatte das Buch sechs Jahre lang in seiner Buchhandlung liegen, bis ich es kaufte.] Aber ich kann mich irren.
Mich interessieren seine Fragen, wie ein Text entsteht, wie man schreiben kann, wenn einem nichts einfällt, oder wenn man weiß, dass alle schon alles gesagt haben.
„Wäre ich gezwungen, mein ‚Konzept’ zu skizzieren, ich würde sagen, dass ich mich an einem Schreiben ohne Einfall versuche, bzw. mich dazu zwinge, über den Punkt hinaus weiterzuschreiben, an dem mir nichts mehr einfällt”, heißt es ziemlich zu Beginn des ersten Textes, „… oder: verflucht!”, der dem rings von Wasser umgebenen Berliner Stadtteil Moabit gewidmet ist (der zum Bezirk Mitte gehört). – Die Überschrift bezieht sich auf einen der Deutungsversuche des Namens Moabit: Er könnte sich von Moor oder Moos herleiten, oder auch, wegen seines unfruchtbaren Bodens, von terre maudite, verfluchtes Fleckchen Erde, frei übersetzt.
Der Autor als Produzent ist immer mit im Bild, wenn er durch Moabit oder Český Krumlov spaziert (auch als Krumau bekannt, aber Neuner vermeidet diesen Namen), in Kneipen sitzt, Bier trinkt und schreibt, sich auf Helgoland gegen den Wind stemmt, oder – ausnahmsweise per Fahrrad – im Ruhrgebiet unterwegs ist.
Da lese ich jetzt noch.
Auch der Stil ist mäandernd, flanierend („Aber ich schweife ab – falls man das überhaupt sagen kann, denn dazu müßte es ja wohl einen Hauptstrang, gar so etwas wie eine Handlung geben, von der aus diese Abschweifungen erfolgen”). Das haut im ersten Text besser hin als im zweiten, der etwas zäh ist (viele Anstreichungen aber). Und war es nicht L., die gesagt hat, dass das – von Neuner viel genutzte – „&”-Zeichen auf sie immer wie ein Stop-Zeichen wirkt? Gut, das nimmt jeder vielleicht anders wahr.
„Das Werk ist die Totenmaske der Konzeption”: dies Zitat von Walter Benjamin ist mir im Kopf, ich hab’s jetzt nicht noch mal nachgeschlagen, wo steht es überhaupt? Bei Florian Neuner gibt’s aber keine Totenmaske (oder war es Lebendmaske?), die Konzeption ist das Thema (kann man das sagen?), aber jetzt auch nicht als etwas in Stein Gemeißeltes (das wäre auch wieder zu nah am Grab, zu werkmäßig, und das Werk ist doch egal!), sondern mehr in der Art von Konzeptpapier. Da wird auch manches wieder durchgestrichen und so, durchgestrichen, stehengelassen.
Der „Helgoland”-Text ist als Collage gestaltet, das Ruhrgebietsstück, wie der Titel schon sagt, als Textband angelegt. Es umfasst knapp vierzig Seiten und ist ganz auf die rechte Buchseite gelegt, während die linken Buchseiten – noch mal vierzig – Ergänzungen bieten, s/w-Fotos, kleine Schlenker („Gaststätte Turf”, „Am Herner Meer”, „Eine Trinkhalle verschwindet”).
Aber man soll nur über das schreiben, was man gelesen hat, und so weit bin ich jetzt noch nicht.
Florian Neuner, Inseltexte [„… oder: verflucht!”, „An der böhmischen Küste”, „Helgoland”, „Fließtext Emscherpassage”]. 184 Seiten, Klappenbroschur. Klever Verlag, Wien 2014. 17,00 Euro
Kennst du das? Wenn man die Besprechung über ein Buch sehr gerne liest, und genau weiß, das Buch, das da besprochen wird, würde einen eher nicht interessieren? Ging mir jetzt gerade so.
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Danke! – Ja, kenne ich. Zum Glück ist es ja so, dass wir bei all den vielen Buchbesprechungen und -empfehlungen, die uns unter die Nase kommen, nur bei dem kleinsten Teil entscheiden, dass das was für uns ist (sein könnte)!
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Und der kleine Teil ist immer noch zu groß für das bisschen Lebenszeit…
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Ein PS zum „Fließtext Emscherpassage”.
Hier wird deutlich, was mit den „psychogeographischen Studien” gemeint ist, von denen in der biographischen Notiz zum Autor die Rede ist.
Unter Herbeizitierung der Zeitschrift Situationistische Internationale (Internationale Situationniste), Publikationsorgan der gleichnamigen Gruppe um Guy Debord, die sie erfunden hat, erläutert Florian Neuner:
„Psychogeographie ist […] ‚die Erforschung der genauen unmittelbaren Wirkungen, seien sie bewußt gestaltet oder nicht, des geographischen Milieus auf das emotionale Verhalten der Individuen’ […]. Grundlage psychogeographischer ‚Forschung’ sind sogenannte Dérive-Experimente […], bei denen Individuen den ‚Verlockungen des Terrains’ nachgeben, Stimmungen folgen, sich treiben lassen.”
Das zu erkundende Terrain ist in diesem Fall die unwirtliche, industriell geprägte Zone längs des (begradigten) Ruhrgebietsflusses Emscher mit den Städten Oberhausen, Essen, Bottrop, Herne, Gelsenkirchen. Nicht geeignet für ausgedehnte Wanderungen oder Fahrradtouren, lässt sich Florian Neuner doch nicht von seinem Vorhaben abschrecken – im Gegenteil. Er mag diese Gegend und ihre Menschen, das ist deutlich zu spüren, und schreibt ihnen mit dem „Fließtext Emscherpassage” eine wunderbare – vermutlich wird er das Wort hassen – Liebeserklärung, in der das Wort „Liebe” aber natürlich kein Mal vorkommt, nicht einmal gedacht (denke ich mir).
Selbst wer glaubte, sich nicht besonders für Trinkhallen, Gaststätten, Taubenzüchter-, Angler- und Rudervereine, für Schrottverwertungsbetriebe, Kokereien, Industriehäfen, Kläranlagen, Schlote, Autobahnbrücken und Pumpwerke zu interessieren, folgt Florian Neuner doch gerne durch dieses Gewirr städtischer oder randstädtischer Orte, Brachen und Sehenswürdigkeiten, die er getreulich mit ihren Koordinaten und Namen verzeichnet, vom Rettungsboot Marika in Bottrop (im Hafen unter der Autobahn) bis zur Süd-Apotheke in Gelsenkirchen-Horst.
Ein tolles (auch im Sinne von: verrücktes) Stück Literatur, und ein sehr würdiger Abschluss der Inseltexte.
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