Pierre Boulez, Structures pour deux pianos

Pierre Boulez, der am 26. März 1925 in Montbrison (Loire) geboren wurde [er starb dies Jahr, am 5. Januar], war ein zorniger junger Mann von 27 Jahren, als er den ersten Band seiner Structures komponierte. Drei Stücke für zwei Klaviere, die Anfang der 50er Jahre für Furore sorgten, weil sie – der Titel deutet es an – total durchstrukturiert waren. „Der Komponist spaziert daher als ein Wesen, das sich selber an der Leine führt”, schrieb, nie um absurd-surreale Bilder verlegen, György Ligeti 1958 in seiner Analyse des Werks. Boulez selbst sprach, allerdings mit Bezug auf eine andere, ein Jahr zuvor uraufgeführte (und dann zurückgezogene) Komposition, Polyphonie X, von einer geradezu „totalitären” Organisation des kompositorischen Materials. „Ich wollte aus meinem Vokabular absolut jede Spur des Überkommenen tilgen, ob das nun die Figuren und Phrasen oder die Entwicklungen und die Form betraf”, so der Komponist im beigefügten Selbstkommentar. Melodien zum Mitpfeifen, klingeltontaugliche Melodien gar, gibt’s hier somit nicht; trotzdem kann man sich in die Musik hineinhören, mit der Tonsprache vertraut werden, die sich keineswegs in rigider, perkussiver Klanglichkeit erschöpft, sondern auch wunderbar zart artikulierte, lyrische Passagen kennt. Die Dynamik ist äußerst nuanciert gestaltet – „‚punktuell’”, wie Boulez sagt -, sodass sich beim Hören der „Eindruck einer unerhörten Zerstäubung der Kontinuität” einstellt, die „die Ohren ‚zum Blinzeln’” bringt.

Trotz Boulez‘ erklärter Affinität zur Kunst Paul Klees, erinnern die Structures eher an das Action Painting Jackson Pollocks (allerdings nicht aufgrund ihrer Machart, die ja gerade alles Zufällige ausschließt).
Dies gilt auch für den zweiten, 1961 komponierten, Band, der zwei Stücke umfasst, in denen die rabiate Bändigung der kompositorischen Parameter (Tonhöhe, Tondauer, Lautstärke, Klangfarbe, Anschlagsart), wie sie den ersten Teil des Zyklus‘ kennzeichnete, zurückgenommen und durch eine wieder mehr synthetische Gestaltung abgelöst wird. Nicht zuletzt die zunehmend starke Gewichtung der dunklen Register der beiden Klaviere macht diesen zweiten – im Vergleich zum ersten beredteren, farbigeren – Band zu einem fesselnden Hörerlebnis, das an Cecil Taylors Definition des Klaviers als einer Trommel mit achtundachtzig Tasten denken lässt.

Die Structures, eine der Schlüsselkompositionen des 20. Jahrhunderts [s. auch den Eintrag „Serielle Musik” in der Wikipedia], beeindrucken durch Konsequenz und grimmigen Biss. Sie wurden 1965 von den Brüdern Alfons und Aloys Kontarsky für die Schallplatte aufgenommen. Die Edition, nun als CD, ist immer noch (oder wieder) lieferbar.

Boulez

[Wiederveröffentlichung von 2007. – Nachtrag 2016:]

Boulez‘ Structures waren Anfang der 90er Jahre die erste CD eines lebenden Komponisten, die ich mir kaufte. Nicht lange danach begann ich mein Studium in Köln, wo ich viele Konzerte besuchte und Boulez selbst, auch György Ligeti, Karlheinz Stockhausen, Mauricio Kagel, Carla Bley, Helmut Lachenmann, Ornette Coleman und andere erlebte. Diese Möglichkeit, hervorragende Musik von erstklassigen Interpreten zu hören, habe ich sehr geschätzt.

Das Label WERGO wurde 1962 von Dr. Werner Goldschmidt in Köln gegründet, war später in Baden-Baden ansässig und wurde 1970 an den Mainzer Musikverlag Schott verkauft, der drei Jahre zuvor Teilhaber geworden war. Hier ein Spiegel-Bericht von April 1966 (man beachte das Titelblatt), der auch einige biographische Daten enthält: „Eine Menge Mut” (dasselbe noch mal hier als pdf, mit Abbildungen und im Originallayout), und hier weitere Texte zum 40- bzw. 50-jährigen WERGO-Jubiläum, die sich im Hinblick auf den Unternehmensgründer leider wortkarg geben, sofern sie ihn überhaupt erwähnen.

  • Pierre Boulez, Structures pour deux pianos. Premier livre et deuxième livre. Alfons und Aloys Kontarsky, Klavier. Textheft: Pierre Boulez. WERGO, Mainz 1996. Bestell-Nr. WER 60112.
    [ca. 20,00 Euro]

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