Sie hatte die Latte hoch gehängt und nahm sie mit Bravour.
Noch im selben Jahr folgte der Episodenroman Unter Schnee.
Nun [2002, A. d. R.] hat Strubel einen psychologischen Krimi vorgelegt, den sie beziehungsreich als „Nachtstück” bezeichnet, und dessen kühle Raffinesse sich bereits im Titel ankündigt: Fremd Gehen. – Es ist ein manipulativer Titel: Man schiebt die Wörter automatisch zusammen, als wären sie ein Teleskop, durch das sich schärfer sehen ließe.
Berlin im Herbst. Daniel Stillmann, Mathematikstudent im siebenten Semester, steht am Fenster seiner Kreuzberger Wohnung und blickt in die finstere Regennacht hinaus. Er beobachtet einen alten Mann, der vorgebeugt am Kanal steht und etwas ins Wasser zu werfen scheint. Genaues ist nicht zu erkennen. Am nächsten Tag macht sich die Spurensicherung an der Stelle zu schaffen, wo der Alte gestanden hatte. Leichenteile sind gefunden worden: ein Ohrläppchen mit halb herausgerutschtem Ohrstecker, ein Teil eines Schenkels. Daniel erfährt es in der Bäckerei.
„Vielleicht war der Mann, bevor er ins Licht getreten war, jung gewesen.”
So beginnt die eine Geschichte.
Die andere handelt von zwei jungen Leuten, die gemeinsam einen Krimi schreiben: ein Mädchen aus Ostdeutschland namens Marlies und das anonyme erzählende Ich, das sich, obschon von Beginn an präsent, erst nach sechzehn Seiten explizit mit dem Bekenntnis zu Wort meldet:
„Ich hatte wenig Lust auf Abenteuer. Sie schienen mir eine Ablenkung vom Charakter der Figuren.”
Die dritte Geschichte entsteht im Kopf des Lesers, der Realitätspartikel aus der Welt des schreibenden Pärchens in dem von ihnen verfassten Krimi verändert wieder auftauchen sieht und nun mehr und mehr dazu verleitet wird, die Fiktion des Krimis für die Wirklichkeit der beiden Autoren und zumal des Erzähler-Ichs zu halten, dessen Glaubwürdigkeit im übrigen keineswegs gesichert scheint.
So klingt die Mitteilung über die Romanfigur wie eine versteckte Selbstcharakterisierung:
„Aber seine Erinnerungen waren so unzuverlässig wie seine Freundin.”
Fremd Gehen überträgt den Mathematikfimmel seines Helden, dem der „Multiplikationssatz der bedingten Wahrscheinlichkeit” ebenso geläufig ist wie der geheimnisvolle „Hilbert-Raum”, ins Formale seiner dreißig Erzählabschnitte. Auf zwei typographisch unterschiedene Abteilungen zu je fünfzehn Kapiteln verteilt, bilden sie eine strenge Konstruktion, die indes zugleich den ironischen Sinn der Architektin verrät, die die Präzision so angelegt hat, dass sie nicht verfängt.
„Räsonieren wir ohne Furcht, der Nebel wird sich schon halten”, mag sie sich mit Beckett gedacht haben.
In der Polizeiwachenszene – einem der Kabinettstückchen des Buches -, in der Daniel eine wahnsinnige Rede von Holzpferdchen und schmelzendem Glas zu Protokoll gibt, deren eifernde Paranoia Strubel glänzend mit dem süffisanten Gestus des diensthabenden Kriminalkommissars kontrastiert, wird dies grundlegende Bauprinzip des Buches mit den Worten umschrieben:
„Daniel sah winzige Pünktchen in der Iris des Beamten, den Ausschnitt eines Koordinatensystems, dessen Bestimmung jedoch unklar blieb, weil die Achsen außerhalb des Ausschnitts lagen.”
Der Leser sieht alles, aber er durchschaut nichts, jedenfalls nicht so schnell. Es ist ein Hinhalten im doppelten Sinn. Das ist raffiniert und auch ein bisschen fies gemacht, vor allem aber setzt es jene befriedigende, vorwärts drängende Frustration in Gang, die Spannung (ver)heißt.
„Alles wird immer schon dagewesen sein, nur die Bedeutungen können sich um wenige Grade verschieben.”
Erst, wenn man das Buch zuklappt, eröffnet es sich in seinem ganzen Reichtum.
Neben seiner kunstvollen Konstruktion ist an Fremd Gehen die Sprache zu loben. Nüchtern und genau, hält sie die Welt im festen Griff und verfügt zugleich über die Geschmeidigkeit und Wandlungsfähigkeit, die nötig sind, um die verschiedenen konkreten und abstrakten Lebenswirklichkeiten verlustlos in Literatur umzumünzen. – Scheues Begehren, Liebesangst, Schuldempfinden und Wahn werden ebenso getreu und gekonnt wiedergegeben wie eine Sturmnacht in der Ostsee oder das überrennende Aufwärtsblättern einer elektronischen Anzeigetafel.
Den ungesunden Teint eines Rauchers fasst Strubel in den prägnanten Satz:
„Seine Haut sah aus wie eine gelbgerauchte Gardine”.
Von einer etwas zappeligen Studentin heißt es:
„Ihre Zöpfe klebten ihr wie Ausrufezeichen an den Schultern.”
Strubel hat eine glückliche Hand für solcherart bildhaft-komprimierte Darstellung, doch ebenso beherrscht sie auch die minutiöse, mimetische Beschreibung, die sie bei Bedarf mit fachsprachlichen Wörtern wie Persenning, Schanzkleid, Davit oder Schupp anreichert, in denen sich Eindeutigkeit und Verrätselung auf bezwingend suggestive Weise verbinden.
Alle diese Qualitäten wie auch die sorgfältige Motivarbeit, die das dichte Textgewebe unaufdringlich doppelt, weisen Antje Rávic Strubels „Nachtstück” als ein Meisterstück aktueller Erzählkunst aus – es gibt nichts daran zu mäkeln. urmel
[Wiederveröffentlichung einer 2002 geschriebenen Kritik, die am 28.4.2007 auf Monnier Beach, dem Blog meiner Buchhandlung, erschienen war – und vorher nicht? … erinnere mich nicht mehr … – und nun zum ersten Mal seit vier Jahren wieder online verfügbar ist. Die damalige Überschrift lautete: „Verbrecherball im Haus der Sinne. Antje Rávic Strubel brilliert mit einem doppelbödigen Krimi”.]