In ihrem bisher letzten Roman gibt Antje Rávic Strubel die Scheherezade einer ernüchterten Zeit: „Bitte keine Märchen”
„Sie knallt nicht, sie strahlt nicht, sie pflanzt keine Melodie ins Hirn, sie ist nicht offensiv. Stattdessen kommt sie als langsame Erschütterung, nagt, zehrt, verweigert Plötzlichkeit. Lass sie wirken wie die ‚Slow Drug’, von der P J Harvey singt”
schreibt Kritiker Abs in der Musikzeitschrift Spex in seiner Rezension des 2004 erschienenen Albums Uh Huh Her der britischen Rockmusikerin. (Besprechung von Graham Bookish folgt.)
Ähnliches ließe sich von Antje Rávic Strubels jüngstem Buch Tupolew 134 sagen, ihrem vierten, nach den Romanen Offene Blende und Unter Schnee (beide 2001), die nach New York bzw. ins tschechische Harrachov führen, und der vorzüglichen, leider wenig beachteten, ‚Berliner‘ Erzählung Fremd Gehen. Ein Nachtstück. – Eine stattliche Bilanz für die erst 32-jährige, mehrfach preisgekrönte Autorin, die zuletzt mit einem Hörspiel für den Deutschlandfunk hervortrat (Kältere Schichten der Luft, 2006).
Der Roman Tupolew 134, dem als Motto ein rätselhafter altertümlicher Grabspruch voransteht – „Nun suchet man nicht mehr an den Haushaltern, denn daß sie treu erfunden werden” -, wurde durch eine reale Begebenheit angeregt.
Der Fall wird im Incipit knapp referiert:
„Am 30. August des Jahres 1978 wird vor dem Hintergrund verschärfter Sicherheitsbestimmungen im Rahmen des ‚Europäischen Übereinkommens zur Bekämpfung des Terrorismus’ eine polnische Linienmaschine der Fluggesellschaft LOT vom Typ Tupolew 134 mit 62 Passagieren an Bord auf dem Flug Danzig – Schönefeld nach Tempelhof entführt.”
Ein dankbarer Plot für einen Thriller oder eine literarische Reportage – doch Strubel folgt lieber dem Wink, den James Joyce einst (unnötigerweise) der unkorrumpierbaren Djuna Barnes mit auf den Schreib-Weg gab, dass nämlich das Außergewöhnliche Sache der Journalisten sei und Schriftsteller sich der Darstellung des Alltäglichen widmen sollten. Sie blickt folglich hinter die Schlagzeilen und erzählt in einer ruhigen, rhythmischen Prosa eine komplexe
„Geschichte über Flucht, Verrat und Illegalität, über die politischen Konsequenzen dieser Tat, über den Wunsch, das alte Leben hinter sich zu lassen, und vom Unvermögen, vorgeprägten Lebensmustern zu entkommen, über Sehnsucht und die Vergeblichkeit von Liebe außerhalb der Konvention.” (Verlagstext)
Die journalistische Perspektive wird in Tupolew 134 gleichwohl mitgedacht und mitgeschrieben.
So folgt auf die zitierte Passage, immer noch auf der ersten Seite, und ebenfalls im historischen Präsens, ein wörtliches Zitat aus dem Spiegel, eine Nahaufnahme aus dem Flugzeuginneren, deren ‚packender‘ Stil („Luftpirat”, „… vom Sitz zerrt”, „setzt ihr … an den Kopf”) der neutralen Sachlichkeit der anfangs gehörten Erzählerstimme diametral ist, die andererseits so sachlich vielleicht gar nicht ist. Wenn es nämlich im Nachsatz heißt: „schreibt das Nachrichtenmagazin Der Spiegel in seiner Ausgabe vom 21. Mai 1979”, dann scheint hinter der offenbar ungerührten Nüchternheit spöttische Ironie aufzublitzen. Die Amtlichkeit, die das Wort „Nachrichtenmagazin” behauptet, wird ja gerade durch das aufgezeigte Beispiel, wie eine Meldung ‚aufgesext‘ wird, um sie dem Leser besser zu verkaufen, Lügen gestraft. – FORTSETZUNG FOLGT. eioeu
[Wiederveröffentlichung von Monnier Beach, 1.2.2007]
Danach gab es doch noch Sturz der Tage in die Nacht …
LikeLike
Ja, richtig, das Buch über die Trottellummen (u.a.). Die Kritik ist von Februar 2007 und wurde hier unverändert übernommen. (Sie geht übrigens noch weiter.)
LikeLike