Blumenerde jemand?

Wo aufhören? Erst mal anfangen.

Neulich fuhr ich in Gedanken den Kleinen Tiergarten lang, Ernst Jandl im Kopf („wir sind die menschen auf den wiesen / bald sind wir menschen unter den wiesen / und werden wiesen und werden wald / das wird ein heiterer landaufenthalt”), da polterte jemand hinter mir: „Mach voran, Opa!” Es war ein Mann in meerrettichfarbender Rennfahrerkluft. Die Farbe seiner Kostümierung und seine Zipfelmütze erinnerten mich an Woody Allen in dem Film von ’72. Der Zuruf machte mich sprachlos. Wäre ich tatsächlich ein alter Mann gewesen – es hätte es nicht besser gemacht.
Meiner Ansicht nach sollte man Alten mit Respekt begegnen, weil sie das Leben so lange mitgemacht und ihm die Treue bewahrt haben. Gleich welchen Alters man ist, man ist immer Überlebender von Generationsgenossen, die nicht so lange gelebt haben wie man selbst. Eine andere als eine dankbare und demütige Haltung zum Leben (und Sterben) scheint mir daher deplaciert. (Neulich fragte mich jemand, wessen ich mich vielleicht schämte, ich glaube, es war eingegrenzt auf die Zeit der Kindheit. Ich sagte, dass ich als Kind Ameisen zertreten hätte.)

Neulich wurde meine Erdbeere ein Jahr alt, ich habe sie umgetopft und ein wenig Erde aus einem Siebeneinhalblitersack hinzugelöffelt, den ich bei Bio Company gekauft habe. (Blumenerde jemand?) Aber es geht ihr nicht ganz gut, einige Blättchen hatten sich rot verfärbt, andere waren braun gerändert, die habe ich entfernt. Gestern, als wir im Café Savo saßen, rieten mir die Grünen Daumen, sie an die Luft zu setzen, und da steht sie nun auf dem Fensterbrett und breitet ihre Blätter in die Sonne.

Ich habe mir noch einmal Ann Cottens Der schaudernde Fächer vorgenommen und mir auch das Interview angesehen, das Denis Scheck für „Druckfrisch” mit ihr geführt hat. Er ist unbedingt zu loben, dass er Ann Cottens sperriger Prosa ein Forum gibt, aber bei der Frage: „Gefallen Sie sich in Ihrer artistischen Radikalität?” bin ich wieder zusammengezuckt. Sie schlägt sich im übrigen wacker. Es ist reizvoll, die chemische Reaktion zwischen ihr und dem Medium zu beobachten. Das Fernsehen verlangt Niedlichkeit und Glattheit, aber sie hat (für das Fernsehen) nur Säure und Widerhaken, was sicher kein Kalkül ist, sondern daraus resultiert, dass sie eben eine Schriftstellerin ist und sie das Posieren und Kunststückchenmachen nicht zu ihren Aufgaben zählt. Sie ist kein Weibchen und kein Pfau. Immerhin, ihr Interviewpartner ist kein Dummkopf, aber hilft das? (Auch ein anderes Fernsehinterview, im Bayerischen Rundfunk, ist schwierig. Die Befragte antwortet überlegt und lässt sich durch die Interviewerin, die sie absurd übertrieben anlächelt und dabei mit der Mikrophonpistole in Schach hält, nicht merklich irritieren.)
Der Kritiker der FAZ umschrieb Der schaudernde Fächer – meines Erachtens zutreffend – als expressionistische Reflexionsprosa. Ich lese die Erzählungen (und eingestreuten Gedichte) als willentlich unfertig und nicht ausgereift. Es gibt großartige Formulierungen, aber manches ist unfassbarer Trash. Die Autorin weiß das natürlich, und es macht mich beinahe wütend, dass sie nicht meine Kunstauffassung teilt, wonach ein Werk bestmöglich ausgeführt und abgerundet sein soll. (Ich sage gar nicht, dass ich mit dieser Idee Recht habe.)
Übrigens hat Der schaudernde Fächer viel Kritikerlob erfahren. Ich müsste die Rezensionen noch einmal nachlesen, um nachzuprüfen, ob sie klarsichtig waren. Meiner Erinnerung nach fielen sie unkritisch aus, in dem Sinne, dass sie nur das Positive hervorgehoben und sich um die Herauspräparierung des Streitbaren gedrückt haben. Wenn Scheck Cottens Prosa als „von irrlichternder Schönheit” charakterisiert, ist dagegen im Prinzip nichts einzuwenden, wenngleich Schönheit nicht das ist, was mir als erstes in den Sinn gekommen wäre. Ich würde überhaupt vorsichtig sein mit Zu- und Festschreibungen bei einer Autorin, die, meiner Einschätzung nach, nicht nur unablässig damit beschäftigt ist, mit der Egge über die Sprache zu fahren, um sie locker und fruchtbar zu halten, sondern die auch mit jedem Gedicht, jedem Essay und jeder Erzählung Zäune und Scheuklappen niederreißt und einsammelt, um sie grimmig ein für allemal zu vernichten und unschädlich zu machen. (Indem ich dies schreibe, mache ich mich selber einer Zu- und Festschreibung schuldig, aber ich hoffe, sie ist derart, dass sie sich selber aushebelt.)

Harli, der auf meine ausgestreckten Beine sprang und sich, in Viertelkreisdrehungen, angelegentlich das Fell leckte, wobei er, um den Hals zu erreichen, seine Zunge mit ruckenden Kopfbewegungen auswarf, wie vielleicht ein Mensch eine Schlinge auswirft, um einen Gegenstand heranzuziehen, der dann aber nur umfällt und unerreichbar bleibt.

Freitag im Soundcheck von radioeins wurde unter anderem das Album Primrose Green von Ryley Walker besprochen. Die Wertung der vier versammelten Musikredakteure lautete einhellig Hit Hit Hit Hit. Daraus nun das Stück – bis es wieder gelöscht wird, denn das Video hat Deutschlands Vormund in musikalischen Dingen, die GEMA, verboten – „Sweet Satisfaction”. Wahrscheinlich keine Neuerfindung des Rads, aber eine sehr gute Nutzung desselben.

6 Kommentare zu „Blumenerde jemand?“

  1. Bietest Du von diesem Artikel auch wieder eine Strichfassung an? Dann bitte entfern doch alle Hinweise auf Denis Scheck, okay? Das wär super!

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  2. Zugegeben, Cotten habe ich noch nicht gelesen, aber allgemein zu: „macht mich beinahe wütend, dass sie nicht meine Kunstauffassung teilt, wonach ein Werk bestmöglich ausgeführt und abgerundet sein soll” – bei meinem Geschmack an Historischem würde mich das nicht stören, weil es so eher dokumentarisch wird. Da ist der Hintergrund im Photo nicht weggeschnitten, um auf das Wesentliche hinzuweisen.

    „Mit der Egge über die Sprache zu fahren, um sie locker und fruchtbar zu halten” – schön gesagt. Aber also: welcher Schritt bei der Feldbestellung ist schon „bestmöglich ausgeführt und abgerundet”? Und ist Literatur nicht ein weites Feld?

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    1. Aber ob es statthaft ist, Ann Cottens Technik, auf die frische Kalkwand zu malen, mit einem dokumentarischen Wert gleichzusetzen? Ich habe den Eindruck, dass der Gehalt an Welt in ihren Erzählungen für sie nicht absolut satisfaktionsfähig (oder interessant) ist, sondern nur, insofern er mit einer – ihrer – Sprachwelt zusammentrifft, und dann fängt’s vielleicht zu britzeln und zu kitzeln an.
      Das, was dokumentarisches Potential haben könnte, wird vor allem zum Feueranmachen gebraucht, aber die Flamme selbst ist ein sprachliches Ding, das geht mehr in Richtung Abstraktion und weniger in Richtung Abbildung. – Wenn es zum Beispiel heißt: „… [ich] schüttelte des Blicks Gefieder wie eine Wasseramsel”, entsteht vor meinem inneren Auge zwar ein Bild (ich kann mir die Szene vorstellen), aber eines, das mit nur einem Finger auf die Sache zeigt, und mit vier Fingern auf die Sprache, mit der man so schöne Dinge anstellen kann.

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  3. PS: Blumenerde – wie wär’s, die für Guerrillagärtnern (Samen-und-Erde-Wurfgeschosse aus Eigenbau) zu verwenden, so bei den täglichen Radwegen? Jetzt ist ideale Aussähzeit.

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    1. Hm, hab schon mit W. neulich zwei so Dinger in den Boden gesetzt, an den hundekotumkringelten Fuß zweier Bäume. Bis jetzt blüht nichts. Weiter beobachten. Und zur Erde – die wird ja nicht schlecht. Vielleicht fragt mich mal jemand nach Erde, dann kann ich ihm einen positiven Bescheid geben.

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