Da die Wikipedia in diesem Punkt schwächelt (und meine Änderungen – weniger detailliert als hier – nicht übernimmt), im folgenden eine Auswahlbibliographie der Werke von Yves Bonnefoy
auf Deutsch in chronologischer Reihenfolge. [Korrekturen und Ergänzungen vorbehalten]
1. Rue Traversière. [Dichterische Prosa]. Aus dem Französischen und mit einem Nachwort, bio-bibliographischer Notiz und Anmerkungen von Friedhelm Kemp. 120 Seiten, gebunden
mit Schutzumschlag [Willy Fleckhaus]. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1980.
[= Bibliothek Suhrkamp, Bd. 694] [vergriffen]
„Yves Bonnefoy ist vor allem Lyriker; als Dichter, Übersetzer, Kenner der älteren Kunst und Freund lebender Künstler zugleich ein bedeutender Essayist. Er schrieb vier Gedichtbände; seine neuen Prosatexte halten augenblickshaft eine Begegnung, einen Traum fest, oder sie sinnen einer Erinnerung, einer Vorstellung nach, die sich in der ‚Wiederholung’ entfalten und stufenweise berichtigen. So werden Erfahrungsprozesse der Einbildungskraft vergegenwärtigt, in knappen Bildern, Szenen, Parabeln oder jene Umwege nachzeichnend, auf denen Wahrnehmungen dessen sich ereignen, was jedem unmittelbaren Zugriff entzogen bleibt.
Über Yves Bonnefoys Rang mag auch über die Grenzen Frankreichs hinaus Einhelligkeit bestehen: seine Stimme ist unverwechselbar, die reifste unter denen seiner Altersgenossen, die aus Eigenstem im Namen vieler spricht.” (Text: Suhrkamp Verlag)
2. Im Trug der Schwelle / Dans le leurre du seuil. Gedichte. Französisch und Deutsch. Aus dem Französischen und mit einem Nachwort von Friedhelm Kemp. 160 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag [Heinz Edelmann]. Klett-Cotta, Stuttgart 1984. 24,00 Euro
„Jede der drei Gedichtsammlungen Yves Bonnefoys seit seinem Erstling von 1953 zeichnet in Stufen und Kehren eine Wegstrecke der inneren Biographie dieses Dichters nach; nicht einsinnig, sondern mehrstimmig, als einen Prozeß der Verdüsterung und Erhellung; als die durchgehaltene Meditation einer Einweihung in das Jetzt und Hier unseres zeitlichen Daseins. Das Formprinzip der früheren zyklischen Anordnung noch überbietend, gliedert Im Trug der Schwelle, dieses jüngste Gedichtwerk, als ein einziges großes Ganzes sich auf über hundert Seiten in sieben Sätze oder Gesänge; symphonisch, doch in Stücken, Blöcken, in Schüben prozedierend. Entscheidend, wie immer schon bei Bonnefoy, war ein Vorgegebenes, eine Geburt, eine Epiphanie. Hier hat, wie in keiner anderen Dichtung seit langem, das Kind eine Stelle; als im Verfall die neue Gestalt, ein Zeichen der Hoffnung; ein Zeichen, das, bewegt, nun Ort, Stätte, Richtung ist. Dabei geht es, zugleich, um die Welt, genauer: um diese Erde, um unser Bleiben und Vergehen auf ihr.
Dieses Dichtwerk Bonnefoys markiert ein Datum, wie T. S. Eliots Das wüste Land, Rilkes Duineser Elegien oder die See-Marken von Saint-John Perse. Als müßte immer wieder einer sich ganz zusammennehmen, um die Epoche gültig zu resümieren. Bonnefoy ist ein Liebender; Liebe ist Gespräch, ein gemeinsames Tun; dadurch gelingt ein weiterer Schritt ins Offene, Formgewinnung aus unentwegter Infragestellung von Form, Rettung durch das Ungerettete.” (Text: Klett-Cotta)
3. Berichte im Traum. [Dichterische Prosa]. Aus dem Französischen von Friedhelm Kemp. 144 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag [Heinz Edelmann]. Klett-Cotta, Stuttgart 1990. 18,00 Euro
„Die hier vereinigten längeren und kürzeren Prosastücke Yves Bonnefoys sind in den Jahren 1977 bis 1988 entstanden. Berichte im Traum, erzählte Träume, Parabeln wie im Traum erzählt, Aphoristisches auch, essayistische Betrachtungen, die ein gemeinsames Thema umkreisen: die Faszination durch das Wort, die Schrift, durch Striche, Linien, Farben, die uns, in der Dichtung, in der Malerei, zu einem Mehr an Wahrheit, an ‚présence’ verhelfen, und die uns doch zugleich, als Bild, als Zeichen und Begriff, einfangen, verraten, uns der Welt und dem Nächsten entfremden können. Wie anerkennt man Grenzen, die zu überschreiten ein immer neuer Traum uns lockt? Wie behält man dennoch im Sinn, das etwas über sie hinausliegt? Das Unentzifferbare, das, was jedes Zeichen übersteigt. Ohne das Poesie und die an sie geknüpfte Hoffnung nur ein müßiges Spiel wären.”
(Text: Klett-Cotta)
4. Was noch im Dunkel blieb / Beginn und Ende des Schnees // Ce qui fut sans lumière / Début et fin de la neige. Gedichte. Französisch und Deutsch. Aus dem Französischen von Friedhelm Kemp. Mit einem Interview von John Naughton. 240 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag [Heinz Edelmann].
Klett-Cotta, Stuttgart 1994. 22,95 Euro
„‚Bonnefoy zählt zu den großen Autoren der französischen Nachkriegslyrik, von denen wir hierzulande immer noch zuwenig wissen’ (Chr. Weiss/Süddeutsche Zeitung). Der vorliegende Band vereinigt die beiden jüngsten Gedichtwerke Yves Bonnefoys aus den Jahren 1987 und 1991. Beide sind als Suiten, als aufeinander bezogene Gedichtfolgen angelegt. Was noch im Dunkel blieb ist gleichsam eine Antwort auf die große Dichtung Im Trug der Schwelle. Sein Schauplatz ist das abgelegene Valsaintes in der steinigen Hochprovence der Basses-Alpen, sein Thema die Reflexion über Wege, die aus der Welt verschwinden.
Dem Schnee, dem Winter in New England ist der zweite Teil gewidmet. Er versucht, nach Bonnefoys eigenen Worten, eine poetische Lehre zu formulieren, ‚wie man den Gütern entsagt, wenn man dessen fähig ist, ja wie man sich freimacht von jenen Zeichen, die noch Besitz sind, wenn man an sie glaubt, weil sie uns in Sicherheit wiegen.’
Biographische Auskunft und wichtige Hinweise zur Dichtung Bonnefoys gibt ein am Schluß des Bandes abgedrucktes Interview, das der englische Journalist John Naughton mit dem Dichter führte.” (Text: Klett-Cotta)
5. Das Unwahrscheinliche oder die Kunst. Aus dem Französischen von Patricia Oster. Mit einem Vorwort von Karlheinz Stierle. 258 Seiten, Französische Broschur. 21 x 13 cm. Wilhelm Fink Verlag, München 1994. 38,90 Euro [= Reihe Bild und Text]
6. Wandernde Wege. Aus dem Französischen von Friedhelm Kemp. 152 Seiten, Klappenbroschur.
20 x 12 cm. Hanser Verlag, München 1997. 14,90 Euro [= Edition Akzente]
„Yves Bonnefoy, einer der bedeutendsten zeitgenössischen Dichter Frankreichs, reflektiert in den Prosastücken, die dieser Band vereinigt, über die Alchemie der Farbe, über die Malerei bei Leonardo, über die Unzulänglichkeit der Mimesis und die Poesie des Unsichtbaren. Und immer wieder gewinnt er aus dem Vergleich mit den darstellenden Künsten Einsichten in die Aufgabe der Poesie: die stummen Dinge zum Sprechen zu bringen.” (Text: Hanser Verlag)
7. Die rote Wolke. Essays zur Poetik. Aus dem Französischen von Michael von Killisch-Horn.
312 Seiten, Französische Broschur. 21 x 13,5 cm. Wilhelm Fink Verlag, München 1998. 40,90 Euro
[= Reihe Bild und Text]
8. L’encore aveugle / Der noch Blinde. Gedichte. Französisch und Deutsch. 32 Seiten, Großformat, Leinen. Mit 6 farbigen Abbildungen von K. O. Götz. Aus dem Französischen von Maryse Staiber.
32 Seiten. Rimbaud Verlag, Aachen 1999. 51,00 Euro [200 numerierte und signierte Exemplare]
9. Die gebogenen Planken / Les Planches courbes. Gedichte. Französisch und Deutsch. Aus dem Französischen und mit einem Nachwort von Friedhelm Kemp. 232 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag [Heinz Edelmann]. 22 x 15 cm. Klett-Cotta, Stuttgart 2004. 22,00 Euro
„‚Poesie ist die Erfahrung dessen, was die Wörter überschreitet’, hat Yves Bonnefoy einmal in einer berühmt gewordenen Wendung gesagt. Damit ist das Flüchtige, schwer Faßbare umrissen, das dieser Lyrik eignet – denn damit wird die Lyrik in ein unauflösliches Spannungsverhältnis zu sich selbst gebracht. Bonnefoys Lyrik wurde eine Schule des Sehens genannt, konzentriert auf die einfachen Dinge, die kostbare Momente reiner Präsenz hervorbringt.
In diesem späten und bisher letzten Gedichtband treten liedhafte Strophen, Meditationen und rhapsodische Erörterungen zu Zyklen zusammen, in denen sich der Dichter erinnert, in denen er wiederaufgreift und so mit der eigenen Dichtung in einen Dialog tritt.” (Text: Klett-Cotta)
10. Beschriebener Stein und andere Gedichte. Französisch und Deutsch. Aus dem Französischen und mit einem Nachwort und Erläuterungen von Friedhelm Kemp. 360 Seiten, Klappenbroschur [Klaus Detjen / Peter-Andreas Hassiepen]. 20 x 12 cm. Hanser Verlag, München 2004. 21,50 Euro [= Edition Akzente]
[Enthält die ersten drei Gedichtbände: Du mouvement et de l’immobilité de Douve (1953), Hier régnant désert (1958) und Pierre écrite (1965).]
„Yves Bonnefoy gilt heute als einer der bedeutendsten Dichter französischer Sprache. Sein weitgespanntes Werk umfaßt auch Prosagedichte, erzählende Texte und Übersetzungen;
Kern seines Schaffens sind jedoch immer seine Gedichte. Bonnefoy ist dank Friedhelm Kemps Übertragungen auch hierzulande bekannt geworden, aber erst jetzt erscheinen zum ersten Mal in vollständiger Übersetzung auch die frühen Zyklen, mit denen Bonnefoys Name auf einen Schlag ein Begriff wurde: Douve in Bewegung und regungslos, Herrschaft des Gestern: Wüste und Beschriebener Stein. Schon hier zeigt sich das bezeichnende Doppelgesicht Bonnefoys: der bildhafte, fast erzählende Hintergrund, die Wiederkehr immer gleicher Zeichen und Symbole – der Beginn eines großen, umfassenden Lebenswerks.” (Text: Hanser Verlag)
11. Streichend schreiben / Raturer outre. Gedichte. Aus dem Französischen und mit einem Nachwort [„Die Freiheit der Form. Über Yves Bonnefoys Sonette”] von Elisabeth Edl und Wolfgang Matz.
80 Seiten, Französische Broschur [Friedrich Pfäfflin]. 24 x 15,5 cm. Stiftung Lyrik Kabinett, München 2012. 18,00 Euro [= Lyrik Kabinett, Bd. 14]
„In dem umfangreichen poetischen Werk von Yves Bonnefoy nimmt Streichend schreiben eine bemerkenswerte Sonderstellung ein: Nie zuvor hat Bonnefoy einen Gedichtzyklus geschrieben, der ausschließlich Gedichte in einer einzigen strengen Form enthält: achtundzwanzig Sonette in ihrer klassischen, romanischen Gestalt, vierzehn Verse, verteilt auf zwei Quartette und zwei Terzette. Und zugleich gestaltet er hier Bilder, Themen und Motive, die in großer Kontinuität anknüpfen an die eines ganzen Lebenswerks: Zeit und Erinnerung, Kindheit und Alter, Sprache und Traum, Buch und Bild. Die lebenslangen Motive werden jedoch andere in dieser anderen Konstellation, und vor diesem Hintergrund muss man Streichend schreiben trotz seiner Kürze als einen der gewichtigsten Gedichtbände von Yves Bonnefoy ansehen, als genuines Spätwerk, das von einem sowohl zeitlich als auch ästhetisch vorgeschobenen Posten aus ein ganzes Lebenswerk noch einmal in Bewegung setzt, in neuem Licht erscheinen lässt. Die formale Wahl stellt alle Themen dieses Werks noch einmal in Frage, schreibt sie neu, konzentriert sie und dringt durch diese Konzentration zu unbekannten Dimensionen des Bekannten vor und damit auch zu einer offenen Zukunft des Vergangenen.” (Text: Stiftung Lyrik Kabinett)
12. Giacometti. Aus dem Französischen von Hubertus von Gemmingen. 576 Seiten mit 584 Abbildungen, gebunden mit Schutzumschlag. 25,5 x 20 cm. Benteli Verlag, Sulgen 2012. 46,00 Euro
„Alberto Giacometti (1901–1966) ist einer der eigenwilligsten und bedeutendsten Künstler des 20. Jahrhunderts. Der bekannte französische Dichter und Essayist Yves Bonnefoy beschäftigte sich intensiv mit dem Werk des Schweizer Künstlers und seiner Person. Aus der leidenschaftlichen Auseinandersetzung entstand diese Monographie, die nun in einer Neuauflage vorliegt. Bonnefoy befasst sich ausführlich mit den verschiedenen Aspekten von Giacomettis Schaffen: mit der Plastik, mit der Malerei, mit den Lithographien und mit der Zeichenkunst. Indem er ein Hauptaugenmerk auf Giacomettis Schriftzeugnisse legt, erkundet der Autor auch dessen Gedankenwelt. Mit dieser feinfühligen und persönlichen Annäherung erschließt sich uns das faszinierende Œuvre eines außergewöhnlichen Künstlers.” (Text: Benteli Verlag)
13. Die lange Ankerkette. [Gedichte und dichterische Prosa]. Aus dem Französischen und mit einem Nachwort [„Zum Spätwerk von Yves Bonnefoy”] von Elisabeth Edl und Wolfgang Matz.
136 Seiten, Klappenbroschur [Peter-Andreas Hassiepen]. 20 x 12 cm. Hanser Verlag, München 2014.
16,90 Euro [= Edition Akzente]
„Seit mehr als fünfzig Jahren gehört Yves Bonnefoys Werk zu den anspruchsvollsten, am stärksten diskutierten der Gegenwart, und heute mehr denn je. Bonnefoys neues Buch nimmt in Prosastücken und Gedichten lebenslange Motive von neuem auf, konzentrierter, betonter, aber auch spielerischer: die Sprache, das Namengeben, das Benennen einerseits, zum anderen das Motiv der Kindheit, des Bildes und des Traums. Im Mittelpunkt stehen, wie so häufig bei Bonnefoy, die Dichtung, in Gestalt von Baudelaire, Verlaine, Mallarmé; die Architektur, verkörpert durch Leon Battista Alberti; die Malerei, hier in drei Gemälden Poussins und in der berühmten Verspottung der Ceres von Adam Elsheimer, eines der bevorzugten Bilder des Dichters.” (Text: Hanser Verlag)
14. Der rote Schal. Deutsch von Elisabeth Edl und Wolfgang Matz. 224 Seiten, Klappenbroschur [Peter-Andreas Hassiepen]. 20 x 12 cm. Hanser Verlag, München 2018. 24,00 Euro [= Edition Akzente]
„Im Sommer 2015 stößt Yves Bonnefoy in seinen Papieren auf sein unvollendetes Gedicht-Manuskript ‚Der rote Schal’, und er beschließt, es zu vernichten. Doch nun geschieht das vollkommen Unerwartete. Ein halbes Jahrhundert nach der Niederschrift entdeckt er die verschüttete Erinnerung, um die es hier wirklich geht: um die ländlichen Orte seiner Kindheit, um Vater und Mutter, um den Roten Sand, den Abenteuerroman aus einer geheimnisvollen Wüste, und endlich um die Entstehung seiner eigenen Sprache aus der Sprache der Eltern.
Yves Bonnefoy unternimmt ein unerhörtes Abenteuer: Nicht für die anderen, für sich selber muss er herausfinden, was ihn tatsächlich angetrieben hat sein ganzes langes Leben lang. Und daher kommt die Dringlichkeit im letzten Buch des über Neunzigjährigen: ‚Jetzt ist es Zeit, höchste Zeit, dass ich mir die wirklichen Fragen stelle.’” (Text: Hanser Verlag)
Vielen Dank für diese Darstellung. Wie ich meinen unwissenden Blick so auf diese Auflistung werfe, beginnen die einzelnen Titel schon mich an sich heranzuziehen. Besonders Wandernde Wege trifft einen blinden Nerv, auf den ich mich immer gut verlassen kann. (Ich suche an dieser Stelle mal wieder nach einem passenden Begriff für etwas, das gleichzeitig Neugier und Spannung ist.)
LikeLike
Büdde büdde, hat mir Spaß gemacht!
Ein Begriff für etwas, das Neugier und Spannung ist … schwierig! „Intriguing” fällt mir ein, aber das ist zu stark.
Ein verwickelndes Wecken von Interesse: gibt’s kein Wort für, glaube ich.
Als Leser von 1., 10., 11. und 13. ist mein Blick übrigens auch mehr unwissend als wissend, aber ich habe auch erst dies Jahr angefangen, und Bonnefoy hat seine Bücher über einen langen Zeitraum geschrieben, von 1946 an …
LikeLike
Fleißig, fleißig, Herr von Sprachwitz, aber schauen Sie mal hier, was bei Authors‘ Calendar noch alles von Petri Liukkonen zusammengetragen wurde: http://kirjasto.sci.fi/bonnef.htm
LikeLike
Hei! was für eine beeindruckende Werkliste! Vielleicht sollte ich wirklich einmal anfangen – zusätzlich zur Buchhändlerei usw. – als Übersetzer zu arbeiten, denn ich kann mir nicht vorstellen, dass schon alle Schätze gehoben sind, und Schätze heben ist doch eigentlich eine feine Sache!
Danke für den Link.
Als ich den Text las, fiel mir eine Geschichte ein, die Bonnefoy erzählt hat – irgendwo hab ich’s gelesen … -, er hatte Adrienne Monnier sein allererstes Buch überreicht, und sie, die Fördererin der Literatur, legte es sogleich auf den Tisch mit den Empfehlungen, neben Joyce‘ und anderer illustrer Leute Büchern.
Kontinuitäten (die manchmal auch durch Brüche gekennzeichnet sind) finde ich immer interessant. Mallarmé kannte Baudelaire und Verlaine, Valéry kannte Mallarmé, war wohl gar mit ihm befreundet, der junge Bonnefoy hörte Vorlesungen beim greisen Valéry … zeigte sich aber nicht so doll begeistert und gab knapp 20 Jahre nach Valérys Tod zu Protokoll (Hanns Grössel schreibt das in seiner Kritik zu Beschriebener Stein und andere Gedichte in der ZEIT): „Wir müssen Valéry vergessen.”
Also nicht mal mit Ausrufungszeichen, einfach als Feststellung.
Trotzdem, diese Linie ist bemerkenswert, finde ich.
Und nicht minder spannend zu sehen, wie diese Dichter auf die Komponisten gewirkt haben: Wagner, Debussy, Ravel, Boulez … keine schlechten Namen!
LikeLike
Könnte Bonnefoy nicht gemeint haben, Valéry sei einen bestimmten Weg bis zum Ende gegangen? Habe eine gewisse Methode, eine geistesgeschichtliche Tendenz, erschöpft? Und deswegen, um nicht kreisläufig in alten Fußstapfen herumzutappen, sei es notwendig, sich von ihm zu verabschieden und aufzubrechen in neue Regionen, unbekannte Gefilde, dunkle Universen? Mit Valéry ist es ja ein bisschen wie mit Goethe, mit dem er ja auch gewissermaßen verbunden ist, im ideellen Sinne — alte Leitwölfe werden von jungen Nachrückern attackiert und tot gebissen! Zumal der Zweite Weltkrieg, dessen Ende auch das Ende von P. V. sah, ja tatsächlich einen cognitive turn gebracht hat, eine gewisse Prädominanz des Präzisen, um nicht zu sagen, eine Auflösung des gelösten Denkens, na ja, Du weißt schon, was ich meine usw.
LikeLike
Der fragliche Abschnitt in Grössels Kritik („Ein großer Realist”) findet sich auf der dritten Seite. Valéry wird da als negativer Antipode Bonnefoys beschrieben, der sich „von den Schlussfolgerungen seines Lehrmeisters abgekehrt” habe. Grössel zitiert und paraphrasiert Bonnefoy wie folgt: „‚Um des geistigen Friedens willen und um das tragische griechische Bewusstsein zu vergessen’, verausgabe sich Valéry ‚bei der Suche nach Gesetzen zur Fabrikation eines Gedichts’. 1963 resümiert Bonnefoy, Valérys Vers sei ‚nichts als Unsicherheit und Traurigkeit’” (Dann der Satz: „Wir müssen Valéry vergessen.”)
Das klingt nun nicht danach, als sei Valéry einen Weg zu Ende gegangen – eher scheint es, als habe er dieses, wider besseres Wissen, gerade vermieden.
Ob das stimmt, kann ich nicht beurteilen. Sicher aber war Valéry auch ein ‚genauer‘ Dichter, gar nicht im Widerspruch zur „Prädominanz des Präzisen” nach 1945 (die ich vor allem mit der Musik verbinden würde). Er hat es sich aber mit den Jüngeren verscherzt, weil er in die Académie Française aufgenommen wurde und so etwas wie ein Staatsdichter wurde, was den (vermutlich) bettelarmen André Breton dazu veranlasste, tags darauf seine – mit Widmungen versehenen – Valéry-Bücher an einen Antiquar zu verkaufen (was er Valéry auch brieflich mitteilte; dieser zeigte sich verständnisvoll – was für ihn spricht).
Ich glaube aber auch, dass ein ‚Vatermord‘-Motiv eine Rolle in der Beurteilung Valérys durch Bonnefoy spielen könnte, wenn auch wohl nicht die einzige, und bestimmt nicht die erste.
LikeLike
Oje, ja, aber Breton wird ja seinerseits Hartherzigkeit vorgeworfen usw. Angesichts von Valérys Karriere muss man sich die Frage stellen, ob er vielleicht zu begabt war? So ein bisschen die Durs Grünbein-Falle. Ganz jung ganz oben, das macht in gewisser Weise vielleicht öde, oder es raubt oder blockiert die Inspiration … für die Essays gilt das freilich nicht! Wahrscheinlich finde ich es gerade attraktiv, dass Valérys Methode „nichts als Unsicherheit und Traurigkeit” war, was sehr im Gegensatz steht zum age of hard facts (das meinte ich mit der „Prävalenz der Präzision”; alles muss heute belegbar, getestet sein, während bei Valéry nur ge-Teste-t wurde. Das ist, glaube ich, der Sieg des amerikanischen, hemdsärmeligen Denkens über das europäische).
LikeLike
Zu begabt? Glaube ich nicht. Dass er ein brillanter Kopf war – zweifellos! Aber dass es dem Dichten abträglich ist? Von einem „poeta stultus” habe ich noch nichts gehört, „poeta doctus” heißt das Zauberwort!
Nicht die Begabung scheint mir also das potentiell Gefährliche, sondern die zu große Aufmerksamkeit, die dem Begabten zuteil wird, wenn er Pech/Glück hat (je nach Betrachtung).
„Ganz jung ganz oben” – das wird schon ein Problem sein, zumal in Deutschland, wo die einst Gelobten irgendwann geschlachtet oder eisern ignoriert werden. (Wobei es sicher Gegenbeispiele gibt. Hettche
z. B., mit fünfundzwanzig groß rausgekommen, trägt seinen Metzgerschädel immer noch oben. Aber Lewitscharoff …)
Ich meine, ein Schriftsteller sollte nur schreiben, fertig … Geld nur annehmen, bis die Schulden beglichen sind, dann nicht mehr.
„Der Sieg des amerikanischen, hemdsärmeligen Denkens über das europäische” – kann man das so sagen? Amerika ist ja groß … die Geschichte noch nicht zu Ende …
Sind amerikanisches Denken und amerikanisches Wirtschaften etwa schon ein und dasselbe?
Aber es stimmt, alles hat heute effizient und tauglich zu sein, die Kunst nicht ausgenommen. Das ist natürlich Blödsinn, aber wirksamer Blödsinn, mit realen Auswirkungen.
Man muss sich vom frechen Diktat der Wirtschaftsform freimachen, wenn man sie schon nicht zerstören kann.
LikeLike
Die Wirtschaftsform ist ja natürlich etwas, das nicht irgendwie nur so in unserem Leben vorkäme, sondern sie ist das Leben selbst. Zu ihren Ausdrucksformen gehört die Karriere einer Lewitscharoff, die irgendwann von Interessengruppen entdeckt wird, weil sie nützt, vielleicht weil ihr skurriles Aussehen und die Art, wie sie schreibt, medial ein so wunderbares Bild ergeben, und die dann vernichtet wird, weil es nützt, weil sie auch einen Fehler macht — sie hält eine Rede in dem Glauben, man wolle ihre echten Ansichten hören und nicht einfach nur Blindtext, der den Anlass attraktiv zukleistert. Ein Missverständnis, aber auch einfach ein Verwertungszyklus. (Was daran sympathisch ist, an diesem rise and fall, ist ja, dass man spürt, dass man eine Intuition dafür hat, dass der Lewitscharoff Schicksal damit verbunden ist, dass sie es nicht geschafft hat, einen Gangwechsel im Betrieb vorzunehmen, auf die Entscheider- oder Manipulatoren- oder Macherseite zu wechseln. Deswegen stellt sie sich auch hin und redet ganz ernsthaft und in Konsequenz ihres Dichtens und Denkens, was die Leute natürlich schockiert! Zurecht! Die meisten haben doch noch nie so etwas wie Ernsthaftigkeit aus der Nähe erleben müssen … — Ich stelle mir das Karrieremachen by the way vor wie die Wege von Elektronen in einem Atom, von Ring zu Ring hüpfend … völlig naiv, klar. Aber manche können das. Ich seh’s ja selbst tagtäglich. Es ist einfach eine Gabe, eine Affinität zum Hüpfen in unsichtbaren Sphären. Und ich glaube eben, dass die amerikanische Gesellschaft, einfach aufgrund ihrer historischen Flachheit, extrem geprägt ist von solchen Affinitäten und Fakultäten. Das Entscheidende ist: bereit sein. In Deinen Worten: einen Metzgersschädel haben …) Bei Valéry ist es doch so, dass sein eigentliches Interesse ausgewandert ist in die Cahiers, in die Selbstbetrachtung, sozusagen, also fast ein etwas antik-kaiserliches Projekt, das auch einem Marc Aurel gefallen hätte. (Goetz und Diederichsen haben sich darüber ja schlapp gelacht, fanden diese Aufzeichnungen völlig bescheuert.) Gedicht, das ist eben doch immer auch, und nicht nur auch, sondern in erster Linie, Ausdruck, also Show, also Effekt, also Beleuchtung, Schminke, Intonation. Fernsehen in Worten. Es ist also, um das mal klipp und klar zu sagen, tendenziell eher NICHT Gedanke, nicht Denken, nicht Differenz. Es ist Beschwörung. Das sollte man doch auch nicht vergessen! Es gab ja auch diese große Geste in der französischen Literatur, Rimbaud, der rief: „Ach, Dichtung! Scheiße! Nützt doch nichts!” Und auswanderte. (Auch ein Experiment auf den Nutzwert von Literatur, übrigens, oder?) Valéry inszeniert seine Sätze ja auch in den Cahiers, aber es ist eher essayistisch, eine essayistische Tönung, ein essayistisches (oder wie soll man es nennen?) Programm; vielleicht sehe ich das aber auch falsch, aber das ginge, meine ich, im Gedicht nicht. Was ich meine, ist, was man am Werk von Musil sehen kann: Dem hat seine Intelligenz doch den Roman gesprengt! Für Autoren wie Alexander Kluge war das ein Segen, der Weg war frei, er hat da ganz neue Anschlüsse gefunden, aber für Musil selbst? Dürfte es eher eine Katastrophe gewesen sein. Oder was hat denn Mallarmé gewollt? Clement Greenberg hätte ihn geliebt, oder er hat ihn geliebt, keine Ahnung, denn Mallarmé wollte, wie die Abstrakten Maler, das Medium selbst zum Vorschein bringen. War es nicht so? Dieses ominöse „le livre”, meine ich, hieß es, das den jungen Valéry fast in die Ohnmacht fallen ließ. Das ist natürlich auch wirklich der Königsweg, das Gedicht-an-sich tritt hervor, steht da, als Gedachtes so mächtig wie als Gemachtes, als Gefühl so groß wie als Gedanke. Die Essenz der Gutenberg-Galaxis. So stelle ich’s mir vor. The text to end all texts. Mallarmé wollte das Medium frei setzen, aber er ist damit gescheitert, klar, wie denn auch nicht? — Entschuldige meine stolpernde Art, aber ich lebe gegenwärtig ja in gänzlich anderen, sehr amerikanisierten Denkprozessen. Das hier hingegen, ah! Es ist Frankreich. Es ist der Markusplatz. Die Tauben stieben auf und nehmen die Sicht.
LikeLike
Es hat mir viel Freude gemacht, das zu lesen, lieber Bob Brabrabra, und ich bedauere, hier keinen Like-Button zu haben. Leider bin ich heute zu keiner angemessenen Antwort mehr in der Lage und winke daher nur grüßend herüber.
LikeLike