Yves Bonnefoy

Schön zu lesen Yves Bonnefoys zweiter Gedichtband, Hier régnant désert (Herrschaft des Gestern: Wüste, 1958), der mit dem ersten, 1953 publizierten, und dem dritten, der 1965 erschien, in dem zweisprachigen Band Beschriebener Stein und andere Gedichte zusammengefasst ist (Hanser Verlag, München 2004).
Friedhelm Kemp hatte seine Übersetzung von Hier régnant désert bereits 1961 vorgelegt;
sie wurde 1969 wiederaufgelegt und dann erst wieder vor nunmehr auch schon wieder zehn Jahren.
Kemp ist in dem Sinne kein ambitionierter Übersetzer, dass er aus den Bonnefoy-Gedichten Kemp-Gedichte machen wollte; seine Übertragungen haben dienende, nicht nacheifernde, Funktion. Sie sind absolut genau, und sie profitieren von seiner umfassenden Kenntnis des Werks Bonnefoys und derer, die für diesen Vorbilder waren: Charles Baudelaire, Arthur Rimbaud, Paul Verlaine, Stéphane Mallarmé … (Man kann Bonnefoy getrost in diese Reihe stellen.)

In Hier régnant désert – auf dem Titel der Originalausgabe HIER RÉGNANT / DÉSERT geschrieben, was Kemps Wahl erklärt – löst Bonnefoy ein, was er als Motto seinem Debüt vorangestellt hat:
Aber nicht das Leben, das sich vor dem Tode scheut und von der Verwüstung rein bewahrt, sondern das ihn erträgt und in ihm sich erhält, ist das Leben des Geistes. – Hegel”
Es ist ein Buch der Nacht – Nacht, die vielleicht eine Verlassenheit ist, aber auch, und mehr noch, ein Trost: gelassene Schwere, die die Schärfe des Tages umlappt.

Zwei-drei Zitate:

„Et pourquoi disons-nous d’aussi vaines paroles, / Allant et comme si la nuit n’existait pas? / Mieux vaut marcher plus près de la ligne d’écume / Et nous aventurer au seuil d’un autre froid.”
„Und warum reden wir so eitle Worte / im Gehn und so, als gäb es keine Nacht? / Besser wärs, dem Schaumstreif nah zu wandern / und auf die Schwelle einer andern Kälte uns zu wagen.”

„Ainsi le soc déjà mordait la terre meuble / Et ton orgueil aima cette lumière neuve, / L’ivresse d’avoir peur sur la terre d’été.”
„So biß die Pflugschar schon in lockeres Erdreich, / und deinem Stolz gefiel dies neue Licht: / trunken vor Furcht zu sein auf der Erde des Sommers.”

Mit dem nüchternen Hoffnungsbild des „Vogel[s] in den Trümmern” endet Hier régnant désert:

„Der Vogel in den Trümmern trennt vom Tod sich, / er nistet im grauen Stein an der Sonne, / er ist dem Schmerz entrückt und dem Erinnern, / er kennt kein Morgen mehr im Ewigen.”

7 Kommentare zu „Yves Bonnefoy“

  1. Die Meinungen über die übersetzerische Leistung Friedhelm Kemps sind nicht ungeteilt positiv.
    Leopold Federmair (der Michel Houellebecq für den deutschsprachigen Raum entdeckt hat) kritisiert, Kemp habe sein Credo, demzufolge bei Versübertragungen „die Verluste gegenüber dem Reichtum des Originals” zu groß und ihnen darum Prosaübertragungen vorzuziehen seien, „nur halbherzig” befolgt und sich „zu versuchsweisen Assonanzen und Rhythmisierungen verleiten” lassen. Federmair vermisst bei Kemp „übersetzerische[n] Formwille[n]”. Seine Kritik gipfelt in dem Satz:
    „Die Zweisprachigkeit […] kann zum Alibi werden für die nicht geleistete Arbeit des poetischen Übersetzens. […] Die Lektüre der Prosaübersetzungen kann einen Leser, der des Französischen nicht mächtig ist, vom Werk Bonnefoys nur abschrecken.” (Leopold Federmair, Im Garten der Gegenwart
    (Der poetische Kosmos Yves Bonnefoys)
    , lyrikkritik.de, April 2004).

    Ich teile die Beobachtung, dass Kemp nicht so nüchtern verfährt wie er verspricht, würde aber den gegenteiligen Schluss daraus ziehen, nämlich den, gerade nicht poetisch zu übersetzen (dafür aber spricht sich Federmair aus), sondern die Ansätze zur poetischen Überhöhung (Assonanzen, Rhythmisierungen, sprachliche Erhabenheit) vollkommen zu streichen. Ich würde den Rasen kurz halten.
    Aber okay, Ansichtssache.
    Konsequenz in der Realisierung des übersetzerischen Konzepts ist entscheidend. „Der mittlere Weg führt nicht nach Rom.” (Arnold Schönberg)
    Was ich vor allem anders machen würde als Kemp: das Gravitätische weglassen, das immer so blöd am Ohr kratzt. Zum Beispiel übersetzt Kemp „reflet” mit dem sonderbaren Wort „Abschein”. Also, entweder „Abglanz” oder – besser – „Widerschein”, am besten aber: „Reflex”.
    Die Sprache muss so sein, dass sie als aktueller Sprachgebrauch (noch) vorstellbar ist.
    „[Z]u klassizistisch getüncht” erscheinen Sibylle Cramer Bonnefoys Gedichte in der Übersetzung Friedhelm Kemps (Süddeutsche Zeitung, 6.9.2004); sie sieht darin einen Grund dafür (nicht den einzigen), dass Bonnefoy hierzulande nicht so stark wahrgenommen wird, wie es seiner Bedeutung zukommt.

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  2. Gute Überlegungen. Ich tendiere aus den Gründen auch dazu, Prosaübersetzung vorzuziehen. Es gibt allerdings Übersetzer, die beides schaffen: Werktreue in Inhalt und in Form zu übertragen.
    Zu Bonnefoy kann ich leider nichts sagen, weil ich kein Französisch kann. Die Übersetzung gibt mir aber auch nicht den Ansporn, es seinetwegen zu lernen.

    PS.: Ein Lineal kann man immer brauchen, aber die Mallarmé Affaire (Surprise!) fand ich amüsant. Hihi.

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  3. Ein guter Einstieg wäre Die lange Ankerkette (2008, dt. 2014), ein schöner (einsprachiger) Band, der neben Gedichten auch Prosa enthält, z. B. das Märchen – das ist es wohl – „Der große Vorname”, das von einer kleinen Prinzessin erzählt, die sich unerlaubt von zu Hause entfernt hat, aber sich noch in Rufweite zum elterlichen Palast befindet. Ein kleiner Junge findet sie im Gras sitzend, und er fragt sie, was die Stimme zu bedeuten habe, die sie beide hören.
    Die Prinzessin antwortet, dass sie zurückgehen werde. „Aber ich hab Zeit”, sagt sie weiter. Denn dieses unendliche Rufen, das sie hören, so erklärt sie, sei ihr Name.
    „Als ich geboren wurde, fand mein Vater der König, ich sei so schön! Zweiundsiebzigmal schöner als Gott, rief er. Und da Gottes Name zweiundsiebzig Silben hat, müsse mein Name zweiundsiebzigmal zweiundsiebzig haben.” – Und dann verging eine Woche, an deren Ende der König zum Schluss kam, seine Tochter sei zweiundsiebzigmal schöner als er am ersten Tag geglaubt habe …
    Eine phantastische tiefgründige Geschichte, so schön wie die Märchen von E. E. Cummings.

    Mit dem Lineal wollte ich Korrespondenzen dingfest machen, teilweise ging das auch.
    Klar ist: Die Anordnung der Wörter auf dem Papier imitiert einen Raum. Es spricht einiges dafür, dass es sich, genauer, um den Weltraum handelt.
    Schön finde ich, dass in diesem rätselvollen Gedicht, „Un Coup de Dés”, Dinge verschwimmen und andere Kontur gewinnen, wie z. B. die Sterne des Großen Bären, die der Nachthimmel wie Krallen ausfährt. (Diesen Vergleich wähle ich zugegebenermaßen wie es mir passt, denn die Römer sahen in dem Sternbild keinen Bären, sondern sieben Ochsen, die ständig um den Himmelspol wanderten – und dann ist die Formation ja auch noch unter dem Namen Großer Wagen bekannt …)
    Ja, diese kontrastierende Bewegung von langsamem Aufscheinen und langsamem Verschwinden gefällt mir.

    Vor ein paar Tagen habe ich übrigens gelesen, dass das französische Wort für Zufall aus dem Arabischen stammt und ursprünglich „Würfel” bedeutet. Ein scharfsinniger Kritiker sprach daher von einer versteckten Tautologie des Gedichttitels. „Un Coup de Dés jamais n’abolira le hasard” ließe sich dann nämlich auch lesen: „Ein Würfelwurf wird niemals den Würfel abschaffen”.
    Ein interessanter Hinweis, der auf den Vers lenkt (ich übersetze frei): „NICHTS WIRD DAGEWESEN SEIN ALS DAS DA” („RIEN N’AURA EU LIEU QUE LE LIEU”).

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  4. Grüße, auf der Suche n. e. Zitat hier bei dir gelandet, das Zitat habe ich kürzlich im neulich erschienenen Buch von Robert Heinrich Rauch, Titel: … während die Sterne schreien, gelesen, lautet wie folgt: „Horchen wir also auf diese Stimmen, vor allem, um uns von ihrem harten Zauber einfangen zu lassen. Sodann aber auch, um die Macht jenes Schweigens zu erfahren, das diese Stimme ersticken wollte und sie vermutlich in der Tat erstickt hat. Horchen wir hinein in die bittersten ihrer Sarkasmen. Zitat Y. B.: […].” Würde gerne wissen, in welchem Buch es vorkommt, vl. kannst du mir helfen? Desweiteren erwä. du im letzten Absatz einen Gedichttitel – „Ein Würfelwurf …” – und einen Vers – „NICHTS WIRD …” -, da wüsste ich auch gerne das Buch, in dem es vorkommt. Das Buch von Robert H. Rauch, … während die Sterne schreien, kann ich dir empfehlen, das beste Buch, das ich die letzten Jahre gelesen habe, kann dir leider den link auf amazon nicht kopieren, da ich dir von einer Xbox One schreibe, was eine Qual ist ohne angeschlossener Tastatur.

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  5. Grüße zurück. Das Buch von Rauch habe ich schon so gefunden, danke. Es gibt einen Roman von Marguerite Yourcenar, Eine Münze in neun Händen, vielleicht wäre das auch was für dich?
    Die drei Bonnefoy-Zitate stehen alle in dem Band Beschriebener Stein und andere Gedichte, der im Hanser Verlag erschienen ist. – Ich habe das übrigens gar nicht als Ausdruck von Sarkasmus gelesen
    (ich habe durchaus Sinn für Sarkasmus), aber vielleicht als Zeugnis einer bestandenen Krise und als Ermutigung, auch das kühle Unbehaustsein auszuhalten und es – gestaltend – anzunehmen (geflügeltes Wort von Georg Lukács: „transzendentale Obdachlosigkeit”). Aber auch ohne einen Sinn in den Versen zu lesen: sie sind aus starken, in sich selbst sinn- und resonanzreichen, Worten gefügt, sie sind nicht laff oder – wie ein Kritiker unlängst pauschal (und unfairerweise) die deutschsprachige Gegenwarts(roman)literatur abkanzelte – „schwabbelig”.

    Der erwähnte Gedichttitel ist von Stéphane Mallarmé, einem Dichter (dreißig Jahre lang auch Englischlehrer …), der von 1842 bis 1898 lebte. Er hat miterlebt, wie der metrisch gebundene Vers vom freien Vers abgelöst wurde (was er bedauerte) und daraus in diesem – seinem letzten – Gedicht die Konsequenz gezogen, die Freiheit des freien Verses noch zu überspitzen und die Worte so weit aus der Klammer der Gedichtzeile zu lösen, dass die übliche Leserichtung teilweise außer Kraft gesetzt wird und der Gedichttext eher als Gedichtbild erscheint. (NB. Forscher haben festgestellt, dass die Augenbewegungen beim Lesen moderner Gedichte vergleichbar denen beim Betrachten von Bildern sind.) Du findest das Gedicht in einem Taschenbuch aus dem Insel Verlag: Mallarmé, Poésies / Gedichte (insel taschenbuch Nr. 3286). Dort ist die ursprüngliche typographische Gestaltung mit – ich glaube: neun – verschiedenen Schriftgrößen aber nur verfälscht wiedergegeben. Wie es richtig aussehen sollte, siehst Du auf einer Seite im Internet, die ich im Post „Surprise!” verlinkt habe. Viel Spaß beim Betrachten!

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  6. Danke! Gerade wenig Zeit, deswegen konnt ich auch erst jetzt antworten und muss mich wieder kurzhalten … interessante Interpretation und gut beschrieben mit „transzendentale Obdachlosigkeit”, gibt hierzu auch einen guten Text, der mehr ein Gedicht ist, genannt: transzendieren, fokussieren – das Buch weiß ich grad nicht – wenn nicht sogar auch eines von Rauch, den Text such ich dir raus, sobald die Zeit es zulässt … Meine Meinung dazu, extra kurz zusammengefasst, ist, dass es in erster Linie darauf ankommt, ob der Betrachter für etwas oder nicht, also für Nichts … kurz: zu schwabbelig – ist, wie du schon sagst am besten und nur mit unfairerweise in diesem Kontext zu beschreiben … Hab mir grad schnell Eine Münze in … angeschaut, würde mich noch interessieren, warum du annimmst, dass es für mich was sein könnte, um mehr Motivation für den Kauf zu haben gg. S. M. klingt gut, schau ich mir auch an.

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  7. Ach ja, falls du … während die Sterne schreien gelesen hast, zögere bitte nicht, mir deine Meinung darüber mitzuteilen, würde mich sehr interessieren.

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