„Ich habe mehr wiederzulesen denn zu lesen gesucht, ich glaube, daß wiederlesen wichtiger ist als lesen – abgesehen davon, daß man gelesen haben muß, um wiederlesen zu können.”
Das sagte Borges, der Witzbold, in seinem Vortrag „Das Buch”, den er am 24. Mai 1978 an der Universität Belgrano, Buenos Aires, hielt.
(Abgedruckt in Die letzte Reise des Odysseus. Vorträge und Essays 1978-1982.
Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2001.)
Die Themen der anderen Vorträge: „Die Unsterblichkeit”, „Emanuel Swedenborg”, „Die Kriminalgeschichte”, „Die Zeit”.
Beim Wiederlesen liest man eigentlich auch neu. Der Text ist vielleicht nicht neu, aber weil man selber nicht mehr derselbe ist, wird er neu. So geht’s mir jedenfalls.
Eine andere Sache, die beim Wiederlesen in kurzer Zeitfolge geschieht: Die Architektur des Textes wird klar, die Ideen, die versuchen, zutage zu kommen; das, was den Schreiber beschäftigt und umtreibt.
Danke für das Borges-Zitat immerhin. Ein Brocken zum Durchkauen für den Tag, während man stumpfsinniger Arbeit nachgeht.
Swedenborg tauchte für mich im Zusammenhang mit Blake auf, aber es war mir damals in den Achtzigern zu gnostisch. In Berlin gab es kuriose Lädchen mit solcherlei Literatur für die erleuchteten Wenigen. Da könnte ich es ja mal mit einem Wiederlesen probieren … hmmm … vielleicht lieber nicht. Lese zur Zeit alte Nummern von Sinn und Form (Quartalsschrift der Akademie der Künste Berlin) – jute Sachen darin! Alles neu für mich.
Backe wieder auf Normalgröße?
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Ja, das Wiederlesen (nach längerer Zeit vor allem – heute habe ich ein Buch wiedergelesen, das ich gestern zum ersten Mal gelesen hatte…) ist eine interessante Sache, ganz davon abgesehen, dass es einen kultiviert, den literarischen Geschmack entwickelt, den kritischen Verstand… (Meine Rede: Leser sind Kritiker.)
Du schreibst: „Beim Wiederlesen liest man eigentlich neu.” Ich würde sagen: man liest ein anderes Buch (aber dasselbe) – und stelle mir vor, das ein Mal gelesene Buch würde mit der Re-Lektüre eine Zellteilung vornehmen und als äußerlich identisches Exemplar plötzlich neben sich im Regal stehen. Überträgt man diese mysteriöse (und auch mystische) Vervielfältigung auf alle Leser eines Buchs, auf alle Leser aus allen Zeiten, ergäbe sich potentiell eine beinahe unübersehbare Bibliothek, eine Bibliothek von Babel, wie Borges sie imaginiert hat …
Dasselbe übertragen auf Wörter: Ein im Text wiederkehrendes Wort (in diesem Text z. B. das Wort „Wiederlesen”) ist in der Wiederholung nicht absolut mit sich identisch, weil es in der ersten Zeile, in der ersten Erwähnung, noch nicht den ganzen semantischen Tang mitschleppt, mit dem es, bis es im zweiten Abschnitt wiederauftaucht, bereits behangen ist, unwiderruflich kontaminiert von den dazwischenliegenden Wörtern („Zeit”, „Sache”, „Geschmack”, „Verstand”, „Rede” usw.). („Wertigkeit” – der Begriff bezieht sich auf Atome ebenso wie auf Wörter.) Da darüber hinaus auch jeder Mensch einen individuellen Wortschatz hat – und sich, nach Saussure, die Bedeutung eines Wortes aus seiner Verschiedenheit von den anderen Wörtern ergibt … ich hoffe, ich gebe das, aus dem Gedächtnis, korrekt wieder … – ist auch ein einzelner Ausdruck wie eben z. B. „Wiederlesen” unendlich und explodiert in einer ewigen, bedeutungsvollen, wahrscheinlich vergleichsweise langsamen Bewegung, jedenfalls so lange, wie es als Wort Bestand hat.
Und jetzt frage ich mich nur: Kommen diese verrückten Gedankengänge daher, dass ich in einer Blumenfabrik arbeite, oder hätte ich sie sowieso gehabt, und die Blumen sind nur nicht dick genug, meine Verrücktheit zu verbergen?
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