Marzipanbrot

Die Ästhetik eines Käsekuchens leidet, wenn man ihn in vierundzwanzig Stücke teilt.
Ich erinnerte mich an früher, wenn es in unserer Familie Nachtisch gab.
Es lag dann zum Beispiel ein Marzipanbrot auf dem Tisch, das mein Vater zwölftelte oder vierzehntelte – ich weiß nicht mehr genau -; die Stücke ordnete er kreisförmig auf einem Schneidebrettchen an, und dann sagte er, an einen von uns gewandt: „Merk dir ein Stück!”, und einen anderen forderte er auf: „Sag eine Zahl zwischen eins und zehn!” Der erste musste nun sagen, welches Stück er sich gemerkt hatte, und wenn der andere acht gesagt hatte, wurden von dem ‚gemerkten‘ Stück ausgehend im Uhrzeigersinn die Marzipanstücke abgezählt, und das achte bekam dann der, der acht gesagt hatte.
Und von vorn:
„Merk dir ein Stück!”
Alle Augen richteten sich auf das Marzipan, das kostbare.
„Sag eine Zahl zwischen eins und zehn!”
„Vier!”
„Welches hast du dir gemerkt?”
Zeigen (fast drauf mit dem Finger), Abzählen, mit dem Messerchen in der Hand: „Eins – zwei – drei – vier. Da!”
Die verbleibenden Stücke zusammengeschoben, damit es wieder ein Kreis wurde, wiederholte sich das karge Spiel. Gerecht sollte es sein, und das war es wohl.
Ob die, die schon ein Marzipanstück zwischen Daumen und Zeigefinger drehten oder es in ihrer Handfläche bewahrten und wie ein fabelhaftes Insekt besahen, dieses sofort aßen oder, aus Höflichkeit oder um sich länger zu freuen, warteten, bis alle eines hatten, hab ich vergessen.
Meist gab es Quark, einen Becher Joghurt, einen Riegel Schokolade.
Vielleicht waren ein paar schon aus dem Haus. Das wissen die Älteren.

3 Kommentare zu „Marzipanbrot“

  1. Stöhn! – Welche Pandorakiste der Erinnerung hast Du da geöffnet! Hauchdünn gesäbelte Scheiben geräucherten Schinkens am Sonntag, von denen eine auf’s (zusammengeklappte) Sonntags-Brötchen kam … Von wegen Riegel Schokolade, Stückchen, auch abgezählt. Ich habe klug geheiratet. Ab da gab es Schinken soviel das Herz begehrt und Mega-Tafeln Schokolade, je eine für jeden. Es war die Überschreitung einer Schallmauer und machte mich zu Anfang benommen.

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    1. Ja, schrecklich, aber ich finde es zum Lachen, dieser Aufwand für so wenig …! Irgendwo hinzukommen, wo es weniger spartanisch zuging, hat mich dann auch immer beeindruckt, zum Beispiel sind mir die Samstage bei Tante Nora am Mercer Place in lieber Erinnerung, wo es nach dem Essen Kaffee und Sherry gab – welcher Glanz! Und jemand spielte auf dem Steinway-Flügel, der zwar alt und nicht mehr tiptop war, aber es gab mir eine Idee von Generosität und Lebenskultur, die doch etwas anderes ist als die heimische Überlebenszivilisation. Und die Süßigkeitenschublade! Mich selbst hat sie ja da schon weniger interessiert, aber für die Kinder war’s sicher wunderbar!
      Ja, die Pandorakiste der Erinnerung … Ich würde mich gern besser erinnern können. Kommt vielleicht noch.

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